Anmerkungen zum Umgang mit historischen Erfahrungen
Dieser 23. Januar, der Tag in Jerusalem, sollte ein Anlass des würdigen Gedenkens sein und ein eindrucksvolles Signal für den gemeinsamen Kampf gegen Antisemitismus. Vieles war würdig in Yad Vashem, und dazu hat auch die auf Hebräisch eingeleitete und in Englisch gehaltene Ansprache unseres Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier wesentlich beigetragen.
Eine Rede über deutsche Schuld und deutsche Verantwortung darüber, dass es keinen Schlussstrich unter das Erinnern geben darf und über die traurige Erkenntnis, dass Deutsche 75 Jahre nach Auschwitz nicht immun sind gegen das Böse. Wie sagte Steinmeier richtig: „Der Antisemitismus von heute hat zwar andere Täter und benutzt andere Worte, es ist aber trotzdem dasselbe Böse.“ Treffende und würdige Worte, dem Anlass entsprechend.
1) Anlass
Morgen werden es 75 Jahre sein, dass das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von der Sowjetischen Armee befreit wurde und dort die jahrelange, systematische Vernichtung menschlichen Lebens mit über 1,3 Millionen Toten ein Ende fand. Nur wenige Inhaftierte konnten gerettet werden, da schon im November 1944 mit dem Abbruch des Lagers und der Verlegung der Gefangenen nach Westen begonnen worden war. Durch die Sprengung der Krematorien suchten die Täter noch bis zuletzt, den Charakter eines systematischen Vernichtungslagers zu vertuschen. Unvorstellbar, dass man ein solch dunkles Kapitel als „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“ abtun kann (Alexander Gauland)!
75 Jahre – ein ganzes Menschenalter. Und doch packt uns das Grauen, so dass wir am liebsten vergessen oder verdrängen würden. Denn ungeachtet der verflossenen Zeit sind wir alle, die wir heute hier sind, auf die eine oder andere Weise mit diesem Abgrund verbunden: die einen als Nachfahren, Verwandte oder Freunde von Opfern, die anderen durch ihre unwillkommene Verbindung mit den Tätern. Denn hier in Augsburg wie auch anderswo in Deutschland waren die nationalsozialistischen Täter ja keine Fremdbesatzung, welche der Bevölkerung aufgezwungen worden wäre. Nein: Diese Überzeugungen, diese politische Kraft ist – bei allen Widerständen, welche es unbestritten auch gab – mitten aus der Bevölkerung erwachsen, fand zumindest in Teilen der Bevölkerung Rückhalt und Zustimmung. Auch wenn die Existenz der Vernichtungslager tunlichst geheim gehalten wurde, konnte es den Zeitgenossen keineswegs verborgen bleiben, dass alle Gruppierungen, die nicht in die Weltanschauung der nationalsozialistischen Ideologie passten oder widerständig waren, Repressalien und systematischer Verfolgung ausgesetzt wurden. Dies galt für Homosexuelle ebenso wie für Sinti und Roma, für Kommunisten ebenso wie für polnische Intellektuelle oder für Menschen mit geistiger Behinderung. Und es galt auch für einige Christen, die es wagten, ihre Stimme zu erheben.
Ganz besonders hart aber traf es alle Juden, die sich im Einzugsbereich des Dritten Reiches aufhielten und die eine schier unglaubliche Anzahl von Toten zu beklagen hatten: Denn es wurde nichts weniger unternommen als der Versuch, das Volk Israel gänzlich auszulöschen.
Ich danke Ihnen allen, dass Sie heute hierhergekommen sind, um sich dieser schrecklichen Realität zu stellen. Denn dies ist der erste und unverzichtbare Schritt für eine Versöhnung nicht nur auf der Ebene von Vertretern verschiedener Gruppen, sondern auch für eine Versöhnung jedes Einzelnen mit der Geschichte seiner Familie, seines Volkes und mit der Geschichte der Opfer. Nur so können wir uns schützen vor dem neuerlichen Aufbrechen von Antagonismen und abgründiger Gewalt.
2) Das Verhältnis von Juden und Christen
Für uns Christen ist es bis heute besonders bedrückend, dass wir damals unseren älteren Geschwistern im Glauben nicht entschiedener beigestanden sind und Einspruch erhoben haben. Ja, in gewisser Hinsicht bereitete der religiös motivierte Antisemitismus sogar den Boden für den rassistischen Antisemitismus der Nationalsozialisten, auch wenn diese deutlich voneinander zu unterscheiden sind. Mir klingen die Worte von Dietrich Bonhoeffer im Ohr: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ Ein Spitzensatz seiner „Ethik im Ernstfall“ (Wolfgang Huber).
Dabei sind doch von den ersten Tagen des Christentums an Juden und Christen Geschwister im Glauben. Gottes Bund mit seinem auserwählten Volk Israel bleibt bestehen, weil Gott treu ist in Ewigkeit. Das heutige rabbinisch-talmudische Judentum und das Christentum sind aus der gemeinsamen Wurzel des Frühjudentums erwachsen. Und wenn auch mit Jesus Christus als dem universalen Mittler des Heils für alle Menschen der Abrahambund, den Gott mit seinem auserwählten Volk Israel geschlossen hat, für alle Menschen geöffnet wird, so bleibt dieser Alte Bund doch gültig und ist von uns zu achten. Kardinal Kasper beschrieb dies treffend mit folgenden Worten: "Der neue und endgültige Bund ist damit nicht die Abschaffung oder Ersetzung des alten Bundes, sondern dessen überbietende Bestätigung und Erfüllung. Durch ihn hat der Abrahambund seine ursprünglich angelegte und intendierte Universalität für alle Völker erhalten." (W. Kasper: Kath. Kirche, S. 424). Und dies betont auch das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Erklärung Nostra aetate nachdrücklich: "Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist. ... Im Bewußtsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus politischen Gründen, sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Haßausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben. Auch hat ja Christus ... in Freiheit, um der Sünden aller Menschen willen, sein Leiden und seinen Tod aus unendlicher Liebe auf sich genommen, damit alle das Heil erlangen. So ist es die Aufgabe der Predigt der Kirche, das Kreuz Christi als Zeichen der universalen Liebe Gottes und als Quelle aller Gnaden zu verkünden." (NA 4) Daher vermochte der hl. Papst Johannes der XXIII. schon vor dieser Erklärung des Konzils im Oktober 1961 eine Gruppe nordamerikanischer Rabbiner in Rom mit den Worten zu begrüßen: »Ich bin Josef, euer Bruder«.
3) Günther Bernd Ginzel: Mein Traum
Wäre es da nicht schön, wenn folgender Traum von wahrnehmbarer Solidarität unter Glaubensgeschwistern kein Traum bliebe:
»Mein Traum: In einer Nacht im November 1938 wird der Kardinal von Köln geweckt. Es wird ihm gemeldet: ›Eminenz, sie zünden die Synagogen an.‹ Zu diesem Zeitpunkt brannte bereits die alte, die fromme Synagoge in der Glockengasse, wo heute das Opernhaus steht, am Jaques-Offenbach-Platz, keine fünf Minuten vom Kölner Dom entfernt. Der Kardinal ist erschüttert. »Ist die Synagoge nicht auch das Haus des Herrn,« fragt er seine Sekretäre. »Ist sie nicht das Haus, in dem Jesus beten lernte? Die Schändung einer Synagoge,« beschied er, »das ist Aufruhr gegen Gott, ein Angriff auf ganz Israel und somit auch ein Angriff auf die Kirche und alles, was ihr heilig ist.« Die Sekretäre wecken die Äbte und Priore der zahlreichen Klöster in der Kölner Innenstadt. Die katholischen Studentenverbindungen, die so stolz der Fronleichnamsprozession in den buntesten Kostümen voranschreiten, werden alarmiert, die allerkatholischsten Schützenvereine gerufen, die Kolpingbrüder und viele mehr. Dann läutet der dicke Pitter. Der tiefe Klang dieser Domglocke liegt über der nächtlich-stillen Stadt. Langsam, zögernd fallen die Glocken aller katholischen Kirchen und kurz darauf die der evangelischen Kirchen ein. Die Kirchen des heiligen Köln läuten Sturm. Die Kölner werden aufmerksam – was ist los? Viele sind bereits zum Dom geeilt. Dessen Portale öffnen sich und hinaus schreiten der Kardinal, die Weihbischöfe, das Domkapitel. Es formiert sich ein langer Zug. Viele reihen sich ein mit Fahnen und Prozessionskreuzen. Sie gehen zur brennenden Synagoge in der Glockengasse. Sie ziehen an zahllosen zerstörten Geschäften vorbei. In ihnen stehen jüdische Frauen und Männer, schauen aus den eingeschlagenen Fensterhöhlen hinaus. Da ziehen sie langsam an ihnen vorbei, die Priester, Mönche, Nonnen, die Laien. Und sie winken ihnen und rufen ›Habt keine Angst! Wir lassen euch nicht alleine! Mit der Hilfe des Herrn werden wir Euch beschützen.‹ Da stehen sie, Menschen wie meine Oma und mein Opa, und diesmal weinen sie vor Rührung und sagen: »Haben wir es nicht immer gewußt? Man kann sich auf dieses Volk verlassen! Wir können unseren christlichen Nachbarn vertrauen. Es sind nicht alle Nazis. Wir haben uns nicht getäuscht, weder in diesem Land noch in diesen Menschen.«*
So träumte jedenfalls der jüdische Journalist und Publizist Günther Bernd Ginzel (geb. 1946) schon vor Jahrzehnten. An uns ist es, diesem Traum Leben einzuhauchen. Damit dieser Traum Wirklichkeit werden kann, damit er zum realen Tagtraum wird, wünsche ich uns allen Wachsamkeit für alles, was in unserer Zeit vor sich geht. Obsta principiis! Wehret den Anfängen!
* Günther Bernd Ginzel (geb. 1946): Als Jude in Deutschland – ein Leben zwischen den Extremen. In: Johann Baptist Metz u. a. (Hg.): Diagnosen zur Zeit. Düsseldorf 1994, S. 14 f. (abgedruckt in Praedica Verbum Heft 1, 2017).