„Angst essen Seele auf:“ Pilgern ist eine Lebensform
Liebe Mitbrüder, liebe Schwestern und Brüder in Christus, nach zwei Jahren Corona-bedingter Unterbrechung hat es endlich geklappt: Die traditionelle Wallfahrt auf dem Schönenberg findet wieder statt. Ich freue mich, dass Sie der Einladung so zahlreich gefolgt sind und damit den Veranstaltern und auch mir zeigen, dass Sie Ihr Leben, Ihr persönliches Schicksal und das Ihrer Familie im Lichte des Glaubens betrachten wollen.
Wer eine Wallfahrt macht, kann meist sehr genau angeben, was ihn dazu bewegt. Man verlässt sein Zuhause, schließt sich einer Gruppe Gleichgesinnter an und setzt sich, zumindest bei einer Fuß- und Radwallfahrt, Wind und Wetter aus. Außen und Innen, Körper, Seele und Geist kommen in Bewegung und öffnen sich unwillkürlich für neue Erfahrungen. Wallfahren muss man mit allen Sinnen, um das Unterwegssein zu spüren! Am Anfang kommt alles darauf an, dass man in den richtigen Tritt kommt, in einem Rhythmus, wo Fuß und Herz, Hand und Hirn zusammenschwingen können, wie es der Mystiker Gerhard Tersteegen in seiner vielstrophigen „Ermunterung der Pilger“ auf den Punkt gebracht hat:
„Man muss, wie Pilger wandeln,/ frei, bloß und wahrlich leer,/ viel sammeln, halten, handeln,/ macht unsern Gang nur schwer.“ Diejenigen unter Ihnen, die die Vertreibung als Kind und junge Erwachsene miterlebt haben und auch die Spätaussiedler unter Ihnen, haben jedoch ganz eigene belastende Erfahrungen damit, die Heimat zu verlassen in eine ungewisse Zukunft. Und auch Sie, die Sie wie ich zur zweiten Generation gehören, - meine Mutter stammt aus Freiwaldau im Altvatergebirge (Sudetenland) - wir, die wir schon in der „neuen Heimat“ geboren wurden, wissen von Jugend an, dass die alte und die neue Heimat qualitativ sehr unterschiedlich erlebt werden.
Wer zu einer Wallfahrt aufbricht, der kommt nicht umhin, sich daran zu erinnern, was ein vielzitierter Vers in Ps. 119,19 ganz lapidar bekennt: „Ich bin nur Gast auf Erden.“ Wir singen das gleichnamige Lied bevorzugt bei Beerdigungen; deshalb bekommt das „nur“ Gast-Sein einen eher traurigen Grundton, der so gar nicht zum Erlebnis der Gastfreundschaft passt. Demgegenüber steht das heutige Evangelium, schon ganz in der Erwartung auf das Kommen des Hl. Geistes an Pfingsten unter dem beglückenden Zeichen der Verheißung Jesu: „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten; mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm Wohnung nehmen“ (Joh 14,23). Solche Gäste können wir beherbergen: der große Gott will einkehren beim sündigen Menschen!
Oder ist uns dieses Versprechen schon so vertraut, dass wir nicht mehr daran glauben mögen? Das wäre fatal, denn dann wäre unser Glaube eingetrocknet wie eine vergessene Frucht, ungenießbar und wertlos. Oder glauben wir deshalb nicht, weil es uns so unvorstellbar erscheint, dass ausgerechnet wir solch hohen Besuch in unserem Herzen erwarten dürfen?
Nutzen wir Ausnahmetage wie diese Wallfahrt zur Rück-Besinnung, zur Neu-Ausrichtung auf DEN, der unser Leben in Händen hält: ER ist Ausgang, Mitte und Ziel unseres Weges. Im heutigen Evangelium gibt er uns die Zusage: „Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht“ (Joh 14,27). Was auch immer Sie an Sorgen und Not auf den Schönenberg heraufgetragen haben, lassen Sie es da! Packen Sie im Gegenzug von dieser Gnadenstätte das Vertrauen ein, dass Gott alle Wege mitgeht, wie der Jesuit Alfred Delp kurz vor seiner Hinrichtung im Gestapo-Gefängnis schrieb. Trauen wir dem Wort Jesu, der die Mühseligen und Beladenen in seine Nähe rief und ihnen Erholung versprach (vgl. Mt 11,28)! „Lasst uns dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt!“ (A. Delp SJ)
Eine Weltumseglerin antwortete nach ihrer Rückkehr auf die Frage von Journalisten, ob sie denn nicht Momente der Verzweiflung und abgrundtiefer Einsamkeit verspürt habe, so allein auf dem Meer: „Alle Finsternis entsteht im Kopf.“ Menschen in Situationen von Flucht und Vertreibung können das bestätigen. „Angst essen Seele auf“ heißt der sprechende Titel eines Films des bekannten Regisseurs Rainer Werner Fassbinder, wo es um Fremdenfeindlichkeit im Kontext des Gastarbeitermilieus der frühen 70er Jahre geht. Jeder, der aus welchen Gründen auch immer, nicht dort lebt, wo er geboren ist, wird dünnhäutig - gegenüber Angriffen oder auch nur gleichgültig hingeworfenen Klischeevorstellungen.
Wir Menschen können nicht nur mit Waffen verletzen, sondern auch mit Worten und Blicken – wer kein Ansehen genießt, wer übersehen wird, fühlt sich schwach und kraftlos und neigt dazu, unwillkürlich immer mehr dem Bild zu entsprechen, das sich andere von ihm machen.
In seinen Abschiedsreden bereitet Jesus seine Jüngerinnen und Jünger auf die Zeit vor, in der sie ohne ihn und in Erwartung auf seine Wiederkunft leben müssen. Inzwischen sind seitdem fast 2000 Jahre vergangen und immer wieder gab es Menschen, die glaubten, den Jüngsten Tag herbeireden zu können, weil sie meinten, der Weltuntergang würde alle Probleme lösen. Andere verstricken sich in Verschwörungsmythen und suchen für ihre diffuse Angst konkrete Feindbilder. Dabei werden sie jedoch schnell selbst zu gewaltbereiten Fanatikern, die Angst und Schrecken verbreiten.
Vielleicht hören wir gerade jetzt, wo die Pandemie ihre Sommerpause einlegt, der Krieg in der Ukraine aber schon ein Vierteljahr in brutaler Härte geführt wird, das Wort Jesu vom Frieden mit neuer Aufmerksamkeit: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht, wie die Welt ihn gibt, gebe ich ihn euch“ (Joh 14,27). Haben wir bis vor kurzem nur auf den Frieden der Welt vertraut, ohne auf die klare Unterscheidung zu achten, die Jesus hier vornimmt? Frieden ist nicht nur eine Aufgabe, die uns strategisch-politisch-diplomatisch aufgetragen ist; Friede ist auch Gabe von oben, Geschenk des Himmels. Ist unserem Glauben die überzeitliche, die transzendente Dimension unbemerkt abhandengekommen?
Wie auch immer jeder einzelne von uns diese Fragen beantwortet, eines ist sicher: Jesus lädt uns ein, jeden Tag neu, die alten Gleise zu verlassen, die Weichen zu stellen und nach dem Ziel Ausschau zu halten. „Das Ziel vor Augen jage ich nach dem Siegespreis“ schreibt Paulus in Analogie zu den Wettkämpfern im Stadion an seine Lieblingsgemeinde in Philippi (Phil 3,14). Auch wenn wir hier, wie ich sehe, mehrheitlich nicht mehr zur Generation der Sprinter und Marathonläufer gehören, so heißt das nicht, dass wir uns einfach an den Wegrand setzen und aufgeben sollen. Im Gegenteil: Jede und jeder von uns kämpfe in seiner Disziplin; wir wissen ja: Alt werden ist nichts für Feiglinge (Mae West, amerikanische Schauspielerin). Gleichzeitig dürfen wir auf unserer Wallfahrt, auf der Pilgerreise des Lebens, die kostbare Stütze durch die Gemeinschaft erfahren: „Sollt wo ein Schwacher fallen,/ so greif der Stärkere zu,/ man trag, man helfe allen,/ man pflanze Lieb und Ruh“, heißt es in Tersteegens Lied. Jeder ist wichtig und keiner darf zurückbleiben. Leave no One Behind lautet der Slogan zahlreicher Menschenrechtsorganisationen – in großen Lettern steht er in Augsburg auf einem Haus der Diakonie im Domviertel.
Unser Ziel ist die ewig-alte und die neue Heimat zugleich: Das Leben bei Dem, der uns geschaffen hat, von dem wir ausgegangen sind und der uns am Ende der irdischen Wanderschaft mit offenen Armen empfängt. Daher hörten wir vorhin in der Lesung aus der Offenbarung: „Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel, er und das Lamm“ (Offb 21,22). Hier auf dem Schönenberg, wo wir dem Himmel ein Stück näher sind, dürfen wir zusammen mit dem Malerpriester Sieger Köder, der diesen Ort und die Stadt Ellwangen durch seine spirituellen Bilder so wunderbar geprägt hat, Gott loben und danken, dass er uns hierhergeführt hat – im Vertrauen darauf, dass wir das Ziel erreichen, das er uns vorherbestimmt hat. Amen.