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Wichtiges
Ansprache von Bischof Dr. Bertram Meier zur Einweihung des Kinderhauses am Kirchweihsonntag in Wiedergeltingen

„Das Kinderhaus ist Gotteshaus: Wir müssen runter zu den Leuten“

17.10.2021

Als Jesus in der Synagoge seiner Heimat Nazareth über den Messias spricht, stellt er selbstbewusst fest: „Heute hat sich das Schriftwort (des Jesaja) erfüllt“ (Lk 4,21). Wie der Anfang, so steht auch das Ende seines irdischen Lebens im Zeichen des „heute“, wenn Jesus dem reumütigen Schächer vom Kreuz aus verspricht: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43). Wen wundert es, dass in der Geschichte vom Oberzöllner Zachäus, die Lukas ins Herz seines Evangeliums gelegt hat, „heute“ gleich zweimal vorkommt: Jesus sagt zu Zachäus, er müsse heute bei ihm zu Gast sein (vgl. Lk 19,5), mit dem Ergebnis: „Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden“ (Lk 19,9).

Von diesem sprachlichen Befund ermutigt, dürfen wir es wagen, das Evangelium ins Heute zu übersetzen. Denn Evangelium ist nicht nur eine Schrift von gestern, es ereignet sich heute: nicht nur von heute auf morgen, sondern von jetzt auf heute. „Heute ist dieser Gemeinschaft das Heil geschenkt worden.“ Morgen ist heute schon gestrig.

1. Immer wieder kann man hören: „Religion gehört in den Wellness-Bereich: Etwas zum Wohlfühlen braucht der Mensch.“ Zu den Filetstücken eines solchen Religionsmenüs, das dem Gaumen der Seele mundet, gehört die Geschichte vom Oberzöllner Zachäus:

Der kleine Mann ganz oben auf dem Ast; darunter Jesus, der „Promi“, der beim Bad in der Menge Zachäus Ansehen schenkt; das Geschick des Zollpächters, Jesus als persönlichen Gast ins eigene Haus abzuschleppen; und schließlich das happy end: Zachäus entdeckt seine soziale Ader; er macht eine Riesenspende nach dem Motto: Gutes tun und dafür sorgen, dass es bekannt wird.

Nur auf den ersten Blick scheint es, als sei die Zachäus-Geschichte eine Hommage an den derzeitigen „softigen“ religiösen Zeitgeist: „Nur keinen ausgrenzen! Nur nicht von Sünde und Schuld reden! Gott hat dich lieb so, wie du bist!“ Der zweite Blick zeigt, dass Jesu Begegnung mit Zachäus nicht nur eine Geschichte ist fürs Bilderbuch. Es besteht kein Grund, die Lage des Oberzöllners zu verharmlosen. Wie die Kollegen seiner Gilde, so war auch Zachäus Instrument der römischen Besatzungsmacht. Kein Wunder also, wenn Zachäus als Betrüger und Ausbeuter galt, von den Menschen geschnitten und gemieden. Wer sich einlässt mit denen, die das Volk unterdrücken, ja sogar die Drecksarbeit für die Besatzer erledigt, um sich selbst zu bereichern, wer Münzen eintreibt, auf denen fremde Götterbilder eingeprägt sind, der ist einfach draußen.

So musste Zachäus außen vor bleiben, als Jesus die Stadt Jericho passierte, um nach Jerusalem zu kommen. Wenn der Oberzöllner, alias Obergauner, sich an den Weg stellen will, um Jesus zu sehen, macht ihm wohl niemand Platz. Als klein gewachsener Mensch in der zweiten oder dritten Reihe kann er auch nicht über die anderen drüberschauen. Einen, den man nicht mag, lässt man nicht vor, und einer, der die eigenen Leute verkauft, hat keine Chance.

2. Doch irgendetwas lässt Zachäus keine Ruhe. Es ist der Mann aus Nazareth, der ihn wie ein Magnet anzieht: „Ich möchte Jesus sehen.“ Der Zöllner wird sogar zum Sportler, indem er spontan auf einen Feigenbaum klettert, um einen Blick zu erhaschen, wenn ER vorbeikommt. Zachäus wird nicht rot, wenn er seinen Landsleuten das Geld aus der Tasche zieht. Aber er hat keine Scheu, sich lächerlich zu machen, als er als kleiner Mann hoch oben in der Baumkrone sitzt.

Zachäus hat erfahren, was Gottes „zuvorkommende Gnade“ meint: Gott kommt mir entgegen. Ich muss den Augenblick nur am Schopf packen, das Heute der Nähe Gottes pflücken, seine Großmut und sein Angebot für einen Neuanfang annehmen. Jesus hat dem Zöllner gezeigt, dass es im Leben keine Sackgasse gibt, aus der kein Ausweg führte. Weil Zachäus sich von Jesus beachtet und angenommen weiß, kann er über sich selbst hinauswachsen. Es bleibt nicht bei der finanziellen Rückerstattung, von nun an geht es um die Hingabe des Lebens. Aus einem, der nicht nur körperlich, sondern vor allem menschlich klein war, wird einer, der großzügig schenken kann. Das viele Geld, das er für sich hortete, zählt nicht mehr als Freund. Die Begegnung mit Jesus befreit ihn von dieser Ersatzbefriedigung. Zachäus erkennt: Das Entscheidende im Leben kann ich mir nicht selbst machen, ich muss und darf es mir schenken lassen.

Von Bernhard von Clairvaux stammt der Satz: „Wer an das Reich Gottes glaubt, muss unruhig werden.“ Zachäus hat zumindest geahnt, dass es mehr geben muss als das Römische Reich, für das er sich beruflich einspannen ließ. Das Reich Gottes hat ihn unruhig gemacht und in Bewegung gesetzt. Zwar bestand die Bewegung zunächst nur darin, auf den Baum zu klettern, um Jesus zu sehen. Dann aber, nach der Begegnung mit ihm, hat Zachäus sein ganzes Leben verändert. Aus einem Kollaborateur für das Imperium Romanum wurde ein Mitarbeiter des Reiches Gottes. Der Last des Geldes entledigt, widmete er sich mit Lust Gott und seinem Reich. Wenn das keine guten Aussichten sind!

3. Schauen wir noch einmal auf ein Detail der Sprache: Wer die lateinische Vulgata liest, macht eine interessante Entdeckung. Als Zachäus auf den Baum klettert, heißt es: ascendit in arborem. Dann aber werden die Rollen vertauscht. Jesus sieht den kleinen Mann und bringt ihn groß heraus, indem er ihm Aufmerksamkeit schenkt. Das gleiche Wort, das wir im Credo für Jesus beten (descendit de coelis), verwendet Lukas, wenn er vom Abgang des Zachäus vom Baum erzählt: descendit.

Wer in Jesu Fußspuren gehen will, muss also heruntersteigen, nicht gleich vom Himmel, aber doch von den Baumkronen, in die wir uns versteigen. Jesus ruft:

Steig herab von deinem Podest, auf das andere dich gehoben haben, und lass dir in die Augen schauen als Bruder und Schwester, als Partner und Freund.

Steig herab von dem Ast, auf den du dich gesetzt hast und wo du gar nicht merkst, dass er brüchig ist wie dein Selbstwertgefühl.

Steig herab vom Baum deiner Entrücktheit, auf den du geklettert bist, um dir deine eigene Welt zu bauen und unangreifbar zu sein.

Steig heraus aus der Baumkrone, in die du dich verkrochen hast, um vom Himmel zu träumen, und komm herunter, um auf der Erde deine Frau / deinen Mann zu stehen.

Achtung: Jesus erwartet deine Antwort nicht von heute auf morgen, sondern von jetzt auf heute. Er will bei dir einkehren, hier und jetzt. Jesus nimmt ernst, was wir vor der Kommunion beten: „Ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“ (vgl. Mt 8,8).

Der heutige Tag hat noch ein besonderes „Schmankerl“ parat: Ich darf in Gottes Namen das neue Kinderhaus segnen – eine Kooperation zwischen Kommune und Kirche, zwischen Politik und Pfarrei. Gratulation zu diesem Projekt! Das neue Kinderhaus zeigt uns, was Kirche ist. Wo Kinder leben, sich austoben, sich entwickeln können, da ist nicht nur ein Kinderhaus, da treffen wir auf Kirche. Ihr Kinderhaus ist ein Gotteshaus! Wo Kinder sind, da ist auch Jesus. Denn Jesus mag die Kinder, die Kleinen, diejenigen, die oft übersehen werden wie damals Zachäus. Wie im Kinderhaus, so sollen auch in der Kirche Kinder, junge Menschen im Zentrum stehen. Eine Kirche ohne Kinder hat keine Zukunft.

Bitte weiten Sie Ihren Horizont, seien Sie geduldig, auch wenn Kinder manchmal unruhig sind, dazwischenreden oder – äußerlich gesehen – stören. Gerade heute braucht die Kirche „Störenfriede“, die sie aufwecken aus ihrem Schlaf der Sicherheit, die sie in Frage stellen und Neues wagen lassen. Hier sitzen Politiker und Kleriker in einem Boot: Wie Zachäus, sollen auch wir heruntersteigen zu den Menschen. Autorität gewinnen wir nicht von oben herab, sondern von unten her, an der Basis, wo das Leben spielt. Ob Politiker, Pfarrer oder Bischof: Wir müssen runter zu den Leuten; dann gewinnen wir Autorität.