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Wichtiges
Predigt von Bischof Bertram zum 140. Geburtstag des Theologen und Schriftstellers Joseph Bernhart am 16. Oktober 2021 in Ursberg

„Das Schauen als Verwandlung ins Geschaute“ (J. Bernhart)

16.10.2021

Sehr geehrte, liebe Mitglieder der Joseph-Bernhart-Gesellschaft,

liebe Schwestern und Brüder in Christus,

vielleicht haben einige von Ihnen das Angebot vor diesem Gottesdienst genutzt und sind in den kleinen Nachbarort Premach gefahren, um sich dort den Taufstein unseres Jubilars Joseph Bernhart anzuschauen. Die Tatsache, dass dieser ehrwürdige Stein vor Jahren seine liturgische Funktion geändert hat und - mit einer Mensa versehen - jetzt der Gemeinde dort für die leider nur mehr einmal im Monat stattfindende Eucharistiefeier dient, hat mich darauf gebracht, heute mit Ihnen über zwei Grundpfeiler der Taufe - die Ausgießung des Hl. Geistes und das Wasser - nachzudenken.

Die Taufe ist das erste der sog. Initiationssakramente, zu denen auch Firmung und Eucharistie gehören. Sie bildet den „Türöffner“, durch den der Mensch bzw. das Kind auf dem Arm seiner Eltern unter Begleitung der Paten, in die Kirche gebracht wird, um vor Zeugen als Sohn und Tochter des dreifaltigen Gottes bekannt und ganz in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen zu werden. Wie das Kind bei der Geburt das Licht der Welt erblickt, so schlägt es bei der Taufe die Augen des Glaubens auf. Das eine wie das andere kann kein Mensch allein: Zeugung und Empfängnis, Glaubensbekenntnis und die Bereitschaft der Familie, den Glauben aktiv weiterzugeben, müssen zusammenkommen, damit ein neuer Mensch entsteht und im Vertrauen auf Gott IHM entgegenwachsen kann. Nach christlichem Verständnis ist die Taufe ein Gnadengeschenk Gottes, ein unwiderrufliches Zeichen seiner Liebe zu uns Menschen.

Doch selbst gläubige Menschen tun sich heute oft schwer mit der Entscheidung, ihr Kind taufen zu lassen; sie tun sich schwer mit dem Gedanken, dass ihr Kind damit auch Glied einer Gemeinschaft wird, die alles andere als attraktiv wirkt. In den letzten Jahren haben manche Verantwortungsträger in der Kirche - individuell und auf der Führungsebene insgesamt - an Glaubwürdigkeit verloren. Aktuell zeigt sich die Kirche einmal mehr als das, was sie immer auch war und bleiben wird: nicht nur Gemeinschaft der Heiligen, sondern auch Gemeinschaft von Sündern. In weiten Teilen haben wir es mit einer Krise der Kleriker zu tun. Doch ist diese Krise nicht nur aus der Kirche heraus zu erklären, sondern muss auch im Kontext des gesellschaftlichen Umbruchs gesehen werden.

Die Forderungen von Frauen und Männern, die gesetzlich verankerte Gleichberechtigung endlich auf alle Bereiche des Lebens auszudehnen, die Erkenntnisse der Humanbiologie zur Vielfalt sexueller Orientierung und schließlich der verzweifelte Wunsch von Millionen Menschen, ihre Würde nicht nur theoretisch zugesprochen zu bekommen, sondern auch am eigenen Leib und an dem ihrer Kinder zu spüren: das alles muss ernstgenommen werden, wenn wir als Kirche, die sich der Frohen Botschaft Jesu Christi verpflichtet weiß, nicht unseren Auftrag, theologisch gesprochen: unsere Mission, verraten wollen.

Wir dürfen uns aber gleichzeitig nicht davor drücken, um rechte Erkenntnis und verantwortbare Wege zu ringen. Allerdings steht fest, bei allem Blick auf die Zeichen der Zeit: Nur ein Weg, der um die Fundamente unseres Glaubens, die biblische Offenbarung und die kirchliche Tradition weiß, ist sinnvoll und gibt die nötige Trittsicherheit. Vor diesem Hintergrund legen die beiden eben gehörten Lesungen aus dem Buch Joel (Joel 3,1-5) und der Auszug aus dem Johannesprolog (Joh 1,1-13) eine Fährte zum tieferen Verständnis dessen, was Christsein bedeutet.

In beiden Texten wird das ernste Anliegen Gottes erkennbar, den Menschen an seine Bestimmung zu erinnern und ihm Mut zuzusprechen, ihr auch zu folgen. Von Anfang an ist der Mensch Träger einer unantastbaren und unveräußerlichen Würde, die er sich nicht selbst gegeben hat noch sich selbst geben kann. Auch wenn es der Liebesvereinigung von Mann und Frau bedarf, um ein Kind entstehen zu lassen, so bleibt der Ursprung allen Lebens, der Ursprung von allem, „was geworden ist“ (Joh 1,3), doch immer Gott selbst. ER hat sich in Jesus Christus inkarniert und damit ein Angebot seiner Liebe gemacht. Daran ist eine Verheißung geknüpft, die lohnt, sie sich immer wieder, etwa bei der Tauferneuerung im Gottesdienst oder bei dem frohen Anlass einer Taufe in der Familie, bewusst zu machen: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die … aus Gott geboren sind“ (Joh 1, 12f).

Sind wir – alle längst erwachsene Christen – uns dieser „Macht“ bewusst? Was ‚machen‘ wir damit, dass Gott uns so ‚mächtig‘ werden lässt? Auf solche Fragen gibt es keine fertigen Antworten. Auch ich kann nur behutsam Ausschau halten wie ein Pfadfinder und auf einiges hinweisen, was uns den Weg in der Nachfolge Jesu eröffnet. Denn es ist ja keine Heerstraße und vielleicht nicht mal ein ausgetretener Trampelpfad, den wir mit der Taufe beginnen, sondern ein mitunter einsamer, dunkler und steiler Gang, an dem die Wegweiser spärlich sind oder von Zeit zu Zeit ganz auszubleiben scheinen. Das Leben Joseph Bernharts ist - das wissen Sie besser als ich - geradezu exemplarisch dafür!

In der Vorbereitung auf diese Predigt zog ich wieder einmal seine Erinnerungen zu Rate und fand darin die Schilderung einer Kindheitsszene, die ihm aus der Rückschau bedeutungsvoll, ja wie eine Schlüsselszene erschien und die auch auf die Taufe, auf unsere Initiation im Glauben, ein überraschendes Licht wirft. Joseph Bernhart schreibt: „Wie heute noch führt über die Kammel der eiserne Steg (…), so oft ich nur konnte, entwischte ich dorthin (…). Unnennbar war die Lust, den Fischen zuzusehen (…). Im Schauen, vielmehr Starren verlor ich mich an die fremden Wesen (…).“ – Und der 75jährige resümiert: „Das Schauen als Verwandlung ins Geschaute begab sich im Kinde noch auf der magischen Stufe des Umwerdens in die sinnlich erfahrbaren Dinge. Ich habe diesen Selbstverlust im Eingehen ins andere als reifender Knabe (…) mit Willen bis an die Grenze des Gefährlichen getrieben, aber (…) in der Manneszeit (…) stellte sich gern mein frühes Fischerlebnis als ein Grund zu der Frage ein, ob jener intellektiven Verschmelzung von Ich und Ding, bei der sich doch das kritische Bewusstsein erhält, nicht das naive Weltgefühl (…) voranliegt, das Gefühl der Identität alles Seienden (…)“ (Erinnerungen 1992, S. 15). – In der tastenden und doch so luziden Entwicklung dieses Gedankens erkennen wir den hochreflexiven Denker Joseph Bernhart, der seinem Rezipienten viel abverlangt und wohl deshalb immer noch zu wenig bekannt ist.

„Das Schauen als Verwandlung ins Geschaute“ – diese Erfahrung bestimmt auch die beiden visionären Lesungstexte und ist zugleich – selbst wenn es uns wie eine Zumutung, ja völlige Überforderung vorkommt – genau das, was das Sakrament der Taufe verheißt. Der Täufling bzw. in Stellvertretung Eltern und Paten versprechen dabei die Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung an dieser „Verwandlung.“

Sich als Teil alles „Seienden“ zu empfinden und nicht als Herr der Schöpfung aufzuspielen; respektvolles und dankbares Mitgeschöpf zu sein statt Vergewaltiger und Ausbeuter der Schöpfung – für Joseph Bernhart wie für Franz von Assisi, mit dessen Spiritualität sie sich ja heute Nachmittag beschäftigen, eine ebenso zentrale wie über-lebensnotwendige christliche Haltung! Zugegeben: Angesichts der fortgeschrittenen Zerstörung unserer Welt und des vom Menschen verursachten Klimawandels, der auch in unseren Breitengraden immer mehr Umweltkatastrophen provozieren wird, erinnern wir uns ihrer recht spät – aber: Für Gott gibt es kein ‚Zu spät‘, wenn der Mensch bereut und zu IHM umkehrt. Jede und jeder von uns, der sich Gott wieder zuwendet, kann jederzeit neu beginnen, auf SEINEM Weg zu gehen. „Wenn ihr heute seine Stimme hört“, heißt es in Ps. 95, „verhärtet nicht euer Herz.“

Wir sind aufgefordert, einen mutigen Anfang zu setzen und uns nicht beirren zu lassen durch die lautstarken Unkenrufe: ‚Was soll das, Du bist ja allein; ihr seid ja nur wenige; was hilft‘s, wenn nur Deutschland anfängt oder: Ja, die Europäer wollen mal wieder Musterschüler sein usw. – Dafür sind wir in Taufe und Firmung mit dem Hl. Geist begabt worden, dass wir „tun, was recht ist, in seinen Augen“ (vgl. Ex 15,26)! Niemand hat uns versprochen, dass wir es immer den anderen Recht machen können – im Gegenteil: als Christen wissen wir, dass wir in der Nachfolge Jesu Unverständnis, Verleumdung, Missachtung, ja Gewalt und Tod erleiden können. Der Kreuzweg ist kein Spaziergang. Mit der Taufe haben wir alles auf eine Karte gesetzt, haben uns dem lebendigen Gott anvertraut. Und jetzt ist es an uns diesem Gott auch zuzutrauen, dass seine Macht nicht von dieser Welt (vgl. Joh 18,36) ist, aber allem äußeren Anschein zum Trotz das letzte Wort behält!

Auf eine Zeichenhandlung, die in der frühen Kirche eindrücklich praktiziert wurde, will ich am Ende noch eingehen: Wer ins „Lavacrum“, ins Taufbad, stieg, musste seine Kleider ablegen. Damit fielen – wenigstens für diesen Moment – alle Statussymbole. Was für das letzte Hemd gilt, trifft auch für das erste zu: Es hat keine Taschen. Im Taufbad sind alle gleich. Doch hier legt der Täufling noch mehr ab: sein seelisches Korsett, das ihm manchmal den Atem abzuschnüren droht, sein erregbares Nervenkostüm und auch seinen im Laufe des Lebens erworbenen Schutzpanzer – alles darf draußen bleiben. Stattdessen wird er, wie Paulus erklärt, neu eingekleidet: "Alle, die auf Christus getauft sind, haben Christus angezogen." (Gal 3,27)

Merkt man uns an, dass wir Christus angezogen haben? – Das Kleid Christi unterliegt keiner Mode. Wir tragen es ein Leben lang. Es war uns nie zu groß und wir werden auch nie herauswachsen. Hier spricht die Kirche von einem unauslöschbaren Charakter und will damit sagen, dass dieses Kleid einfach zu uns gehört, ja unsere Person prägt und ausmacht. Die Jüngeren unter uns können vielleicht im Fotoalbum blättern und die Bilder ihrer Taufe einmal bewusst anschauen, besonders die Überreichung des weißen Kleides. Und dann kommt wie von selbst der Gedanke: Habe ich es in meinem Leben eigenständig angezogen – dieses Kleid, das mir damals symbolisch übergestreift wurde? Wo habe ich dieses Kleid als schützend und wärmend empfunden? Gab es Momente, in denen ich mich in diesem Kleid beengt fühlte? Habe ich mich vielleicht sogar manchmal hinter Status-Kleidern versteckt und so Christus verdeckt? –

Könnte ich die Feier des heutigen Tages zum Anlass nehmen, mir meiner Macht, Kind Gottes zu sein (vgl. Joh 1,12), bewusst zu werden, und aus diesem Bewusstsein, dieser Vollmacht heraus mein Leben zu gestalten? Wenn ja, dann haben wir die Botschaft Joseph Bernharts verstanden.