„Den Worten Taten folgen lassen!“
Im Frühjahr war ich auf Besuch in Liberec, auf Deutsch Reichenberg. Es ist die nordböhmische Hauptstadt mitten im Dreiländereck Tschechien, Polen und Deutschland. Anlass war das Jubiläum der Städtepartnerschaft zwischen Augsburg und Liberec. Zusammen mit dem zuständigen Ortsbischof Jan Baxant durfte ich in der Hauptkirche St. Antonius den Festgottesdienst feiern.
Und siehe da: Es waren zwei Konzelebranten dabei und drei Ständige Diakone, die assistierten. Die drei haben ganz unterschiedliche Berufe: Der eine ist Lehrer, der andere Arzt und der dritte arbeitet als Bäcker. Drei Ständige Diakone – Diener Jesu Christi in der Kirche mit Zivilberuf. Als ich – natürlich mit Übersetzer, da ich kein Tschechisch kann – fragte, was diese Ständigen Diakone denn bewegt, sich nebenamtlich kirchlich zu engagieren, gaben alle drei in etwa dieselbe Antwort: Wir wollen Jesus und sein Evangelium in die Welt tragen. Wir wollen im Beruf unseren Mann stehen, aber auch zeigen, dass wir im katholischen Glauben unterwegs sind. Wir möchten der Frohen Botschaft eine Stimme geben, nicht nur am Altar, sondern im Leben, im Alltag. Ein mutiges und starkes Zeugnis: Jesus hineintragen in eine Gesellschaft wie in Tschechien, die noch säkularer ist als wir es hierzulande kennen, die - verstärkt durch den Kommunismus – im wahrsten Sinn des Wortes „Gott losgeworden“ ist. Für mich ein Statement, das passgenau in unsere Weiheliturgie hineinpasst.
Fünf Männer – fünf Berufe – verschiedene Lebensformen. Wenn ich heute in die Runde schaue, dann entdecke ich bei Ihnen, liebe Weihekandidaten, eine bunte Palette verschiedener Berufe, die Sie ausüben: Computertechniker, Lehrer, Steuerberater, Betriebsrat, auch ein promovierter Theologe ist dabei. Wie unterschiedlich die Berufe sind, so stark ist das Wasserzeichen, das Ihrem Tun zugrunde liegen soll: die Diakonie, der Dienst, zugespitzt: eine Karriere, die nicht nach oben führt, sondern nach unten. Ich weihe Sie heute nicht „hinauf“, ich weihe Sie „hinunter“ in die Niederungen des Lebens. Als Geweihter sollen Sie Gottes Segen gerade dorthin bringen, wo Menschen „unten“ sind, am Rande leben, unbeachtet, ausgegrenzt, an der Peripherie. Freilich: Es gibt Momente, wo der Diakon die Sonnenseite liturgischen Lebens genießen darf – wo er vorn dabei ist an der Seite des Bischofs oder Priesters, wo er selbst Gottesdiensten vorsteht, predigt und Sakramente spendet. Freuen Sie sich über solche Momente! Das darf sein. Auch Geweihte sind und bleiben Menschen. Wir brauchen Beachtung und Wertschätzung. Doch das ist nicht der Alltag des Diakons. Meistens steht der Diakon im Schatten; er erfüllt seinen Dienst, indem er die Schattenseiten seiner Mitmenschen teilt und ihnen Jesus Christus bringt, der selbst gekommen ist, sich nicht bedienen zu lassen, sondern selbst zu dienen.
Ich möchte Sie neugierig machen auf ein Dokument der Alten Kirche. Der Text kann uns helfen, Jesu Wort vom Dienen in die Wirklichkeit unserer Gemeinden, ihre künftigen Tätigkeitsfelder (!), zu übersetzen. Schnell wird klar, dass es hier um mehr geht als um das Profil eines bestimmten Amtes in der Kirche. Es geht um die Kirche insgesamt; es geht um die Art und Weise, wie Gott in Seiner Kirche vorkommt. Wir sprechen über nichts Geringeres als über den Lebensstil, den wir als Kirche praktizieren und präsentieren. Gerade für uns Diakone – und auch ein Bischof ist und bleibt Diakon! – gilt: Wir müssen den Worten Taten folgen lassen. Sind Sie neugierig geworden? Was ist das für ein Text? Das Dokument stammt aus dem 5. Jahrhundert; die Rede ist von einer syrischen Kirchenordnung, die sich selbst als „Vermächtnis des Herrn“ (Testamentum Domini) versteht.[1]
Mit diesem starken Anspruch hat die syrische Kirchenordnung eine schon recht gut ausgebaute, straff organisierte antike Stadtkirche vor Augen. Unter der Leitung ihres Bischofs wirken in der Stadt 12 Priester, 7 Diakone und 13 Witwen. Die Seelsorge ist noch nicht in Pfarreien aufgegliedert, sondern wird unter Koordination des Bischofs von einzelnen Kirchen aus – wir könnten sie auch „Kirchorte“ nennen – kollegial betrieben. Entsprechend dieser Ordnung sind die Diakone nicht einem Pfarrer zugeordnet, sondern dem Bischof als dem Leiter der Stadtkirche. Wenn ich jetzt auf die Aufgaben des Diakons im Einzelnen einginge, würde der Rahmen einer Predigt gesprengt. Daher will ich mich auf die Aussagen über die Caritas der Gemeinde konzentrieren, die im Diakon verdichtet und personifiziert wird. Wir werden merken, auf welch überraschende Erkenntnisse wir stoßen, wenn wir uns die Kernbotschaften aus dieser Gemeindeordnung auf der Zunge zergehen lassen.
1. Botschaft: mit den Nöten der Menschen vertraut
Der Diakon „geht in den Häusern der Armen aus und ein, um festzustellen, ob es niemand gibt, der in Angst, Krankheit oder Not geraten ist“. Der Diakon packt selber an den Stellen an, wo es fehlt: „Die Gelähmten und die Kranken wird er baden, damit sie in ihrer Krankheit ein wenig aufatmen können.“ Er wäscht die verstorbenen Männer und richtet sie her für die Beerdigung, kümmert sich um die Waisen und hilft den Witwen. Schließlich baut er Brücken zur Gemeinde: „Er macht der Gemeinde die Namen derer bekannt, die der Hilfe bedürfen“ und „lässt allen über die Gemeinde zukommen, was nottut.“
So gesehen, ist der Diakon gleichsam der „Sozialminister“ der Gemeinde, der Caritasdirektor auf Ebene der Seelsorgeeinheit. Bitte, liebe Weihekandidaten, lassen Sie Ihr Herz schlagen für die kleinen Leute, die Menschen am Rand von Kommune und Kirche!
2. Botschaft: an den sozialen Brennpunkten zuhause
Der Diakon kennt keine Berührungsängste. Armut und Schwäche sind Realitäten, die eine Gemeinde nicht kalt lassen darf, denen gegenüber wir uns als Kirche nicht abschotten sollten. Das wird in der syrischen Kirchenordnung besonders sichtbar gegenüber jener Gruppe „Asozialer“, mit denen man in der antiken Großstadt besonders schlecht umgegangen ist: gegenüber den Fremden, „die ihre Heimat verlassen haben oder aus ihr vertrieben wurden“. Sie waren besonders dubios und sind es bis heute: Damals gab es weder Reisepässe noch Visa; Flüchtende und Migranten sind auch heute nicht immer willkommen. Das hat die Flüchtlingskrise nach 2015 ebenso gezeigt wie die Konsequenzen aus dem Ukraine-Krieg. Was ist von der Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität geblieben? Ich weiß, dass sowohl die Spendenfreudigkeit als auch die Haltung der offenen Türen und Herzen langsam, aber sicher sinkt.
Da ist diakonisches Engagement gefragt, da sind auch Sie gefragt, liebe Diakone in spe! Die syrische Kirchenordnung schreibt vor: „Gleich neben der Kirche soll ein Hospiz sein, wo der Erzdiakon die Fremden empfängt. (…) „Wer aus den Diakonen der eifrigste und der beste Verwalter ist, soll ausgewählt werden, um die Fremden zu empfangen. Er soll ständig im Gästehaus erreichbar sein.“
Diese Entschlossenheit der frühen Kirche, dem Elend die Stirn zu bieten, scheint auf die heidnische, säkulare Welt einen tiefen Eindruck hinterlassen haben. Die Forschung nimmt an, dass dieser Einsatz für die Armen in den antiken Städten weit mehr Menschen der Kirche zugeführt hat als ihre Predigt über das Evangelium. Im Klartext heißt das: Die kirchliche Caritasarbeit war ein inneres Moment der Verkündigung. Hospiz und Kirche, Caritas und Liturgie, Diakonie und Gebet sollten eine Einheit bilden. Es geht weniger um Rechtgläubigkeit, sondern mehr um Glaubwürdigkeit. Die ist derzeit bei vielen verspielt. Ich baue auf Sie, liebe Diaconandi, dass sie mithelfen, sie wiederzugewinnen.
3. Botschaft: ohne missionierende Hintergedanken unterwegs
Könnte die Aufmerksamkeit für die Armen eine Art Missionsstrategie gewesen sein? Gott bewahre uns davor. Unsere Kirchenordnung belegt das Gegenteil. Ein bewegendes Zeugnis dafür, dass Gott, der reine Liebe ist, keiner nachträglichen Aufwertung durch uns bedarf: „Wenn der Diakon in einer Stadt tätig ist, die am Meer liegt, soll er sorgsam das Ufer absuchen, ob nicht die Leiche eines Schiffbrüchigen angeschwemmt worden ist. Er soll sie bekleiden und bestatten.“ Wie ergreifend ist dieses Beispiel! Hier gibt es nichts mehr zu missionieren. Hier ist kein Kirchenmitglied mehr zu gewinnen und keine Kirchensteuer mehr zu erhoffen. Hier interessiert nur noch die Würde des Menschen, mehr nicht. Es geht auch um die Würde der Toten: dass ihre Blöße bedeckt wird und ihre Leiche nicht den streunenden Hunden am Strand überlassen bleibt. Hier macht man Ernst damit, dass alle Menschen – auch Fremde, Namenlose, Heiden, sogar die Toten Gottes Eigentum sind, geborgen in seiner Güte. Nur die Liebe zählt. Weiten Sie, liebe Diaconandi, diese Gedanken aus auf alle, die bis heute ausgegrenzt, diffamiert und diskriminiert werden wegen ihrer Kultur, Religion oder sexuellen Orientierung. Jede und jeder ist Gottes geliebtes Kind. Versuchen wir ganz persönlich, jeden Menschen in seiner Würde anzunehmen und wertzuschätzen, auch wenn uns manches fremd bleibt. Wir wollen ein Klima ohne Angst, nur so wächst „Augsburg ohne Angst“. Ich weiß: Das erfordert von uns allen pastorale Umkehr, die Bereitschaft, sich zu ändern, zu lernen und zu reifen.
4. Botschaft: die ganze Kirche im Blick
Schließlich möchte ich nicht unterschlagen, dass die syrische Kirchenordnung dem Diakon einen besonderen Ehrentitel verleiht: „Er ist Ratgeber des ganzen Klerus und so etwas wie das Sinnbild der ganzen Kirche“. Hier klingt durchaus ein kritischer Unterton mit. Denn die Kirche wird nicht erst heute gern mit den Priestern und den Bischöfen identifiziert, mit der sog. „Amtskirche“, die das Sagen hat, mit den Pfarrern, „ohne deren Zustimmung nichts läuft“. Ich stelle klar: Wir mögen die Kirche zwar repräsentieren, aber das Sinn-Bild der Kirche ist der Diakon. An ihm können und sollen die Menschen ablesen, wozu die Kirche da ist. „Der Weg der Kirche ist der Mensch.“ (Papst Johannes Paul II.) Im Dienst am Menschen liegt die Existenzberechtigung der Kirche. Eine Kirche, die am Menschen vorbei arbeitet oder gar meint, ohne Menschen auskommen zu können, verrät sich selbst und den Herrn, „der für uns Menschen und zu unserem Heil vom Himmel herabgestiegen“ und selbst Mensch geworden ist. Ob wir wirklich an den christlichen Gott glauben, entscheidet sich auch daran, ob wir an den Menschen glauben – in Gottes Namen!
Wer vor der Not der Menschen nicht davonläuft, besitzt in der Kirche eine hohe Autorität. Damit steht und fällt die Stellung eines Diakons. Wenn der Diakon die Nähe der Menschen sucht, dann bremst er die Tendenz, dass die Gemeinde sich nur mit sich selbst beschäftigt und in die Spirale der Selbstumkreisung fällt. So gesehen, braucht die Kirche – vor allem wir Priester und Bischöfe – den Rat der Diakone. Ja, ein guter Diakon kann „Ratgeber des ganzen Klerus“ werden. Lassen Sie mich der Ehrlichkeit wegen auch erwähnen, was die Kirchenordnung nicht verschweigt. Es geht um das Verhalten des Diakons: „Der Diakon tut und teilt nur das mit, was der Bischof ihm aufträgt. (…) Dabei soll er dem Bischof nicht lästigfallen und ihm nur am Sonntag Bericht erstatten, damit dieser über alles auf dem Laufenden ist.“ Also gab es schon in der frühen Kirche die Versuchung des Übereifers und der Wichtigtuerei - nicht nur bei Diakonen. Der Diakon ist diskret, unaufdringlich und entfaltet gerade dadurch Wirkung und Achtung.
Am Ende der syrischen Kirchenordnung steht der anspruchsvolle Satz: „Der Diakon wird in allem wie das Auge der Kirche sein.“ Liebe Weihekandidaten, liebe Ehefrauen, Kinder und Familien, liebe Freunde der künftigen Diakone! Danke, dass Sie sich auf einen solchen Dienst einlassen wollen. Danke, wenn Sie Ihren Mann, Ihren Vater und Bruder, Ihren Kollegen und Freund in seinem neuen Amt mittragen. Das braucht Umstellung. Wenn er als Diakon einmal droht abzuheben, dann holen Sie ihn bitte wieder herunter. Helfen Sie ihm, dass er das Augenmaß behält und den richtigen Blick bewahrt. Denn die Frage steht im Raum – nicht nur jetzt, aber heute in besonderer Dringlichkeit: Was wird aus der Kirche, wenn ihr das Auge der Diakonie erblindet? Wenn sie kurzsichtig wird angesichts der großen sozial-caritativen Herausforderungen? Wohin blickt die Kirche, wohin schielt sie, wenn sie nicht die Armen im Auge hat?
[1] Der Text ist auffindbar in Balthasar Fischer, Dienst und Spiritualität des Diakons. Das Zeugnis einer syrischen Kirchenordnung des 5. Jahrhunderts, in: Der Diakon. Wiederentdeckung und Erneuerung seines Dienstes, hrsg. von J. G. Plöger und H. J. Weber, Freburg (2. Aufl.) 1980. Dort finden sich auch weitere wertvolle Verweise,