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Wichtiges
Predigt von Bischof Bertram zu „50 Jahre Dekanatswallfahrt Maria Thann“ (Dekanat Lindau)

„Der Friede wächst von innen nach außen“

21.09.2025

Lieber Herr Dekan Gührer, lieber Ralf, liebe Mitbrüder im priesterlichen und diakonalen Dienst, liebe Schwestern und Brüder, die wir einander Weggefährten sind zum Ziel unseres Lebens, schon früh sind Sie, seid Ihr alle heute aufgestanden, um in die herbstliche Natur hinauszuwandern und den Weg des Friedens zu beschreiten. Unterwegs habt Ihr laut gebetet und Eurem Herzen Luft gemacht: Nun wollen wir gemeinsam für den Frieden beten, den unsere Welt so dringend nötig hat.

Wir wissen es alle: Friede wächst von innen nach außen, er keimt zuallererst in unserem eigenen Herzen – oder aber er stirbt genau da, in unseren Herzen und Hirnen, mitten in unseren Gesprächen und Auseinandersetzungen, die leider – Gott sei‘s geklagt – manchmal auch handgreiflich werden können. Wir sind keine Engel und nicht von Natur aus friedliebend – wie schön wäre es, wenn es anders wäre!

Doch schon die Kleinen in Krippe und Kindergarten machen uns vor, wie rasch ein friedliches Mit- oder Nebeneinander in ein verbissenes Gegeneinander umschlagen kann. Manchmal geht es so schnell, dass am Ende keiner der beiden ‚Streithanseln‘ mehr sagen kann, wie es eigentlich dazu kam, dass sie sich in die Haare gerieten.

Alle Texte aus der Heiligen Schrift, die wir soeben gehört haben, widmen sich diesem Phänomen; sie zeigen auf, wie schwierig es ist, nicht den Rachegelüsten des eigenen Herzens nachzugeben, sondern das scheinbar Unmögliche zu versuchen: den Feind zu schonen wie David (1 Sam 26,9) und denen, die uns „hassen“, „verfluchen“ und „beschimpfen“, Gutes zu tun und für sie zu beten (Lk 6,27ff.)! Noch nach 2.000 Jahren läuft diese Botschaft unserem eigenen Empfinden zuwider und es kostet Mühe, sie überhaupt anzuhören.

Doch vielleicht können einige unter Ihnen auch aus Ihrer Lebenserfahrung heraus davon erzählen, wie befreiend es ist, wenn man eben nicht dem ersten emotionalen Impuls gefolgt ist, auf ein böses Wort, eine Herausforderung oder gar auf eine Intrige nicht spontan und heftig reagiert hat, sondern mit Bedacht und so den Teufelskreis gegenseitiger Vorhaltungen vielleicht erfolgreich unterbrechen konnte.

Auch wenn das bekannte Sprichwort lautet: „Der Klügere gibt nach“ - wer Jesus und Paulus genau zuhört, stellt fest, dass es ihnen nicht um bloßes Nachgeben geht, oder sie etwa dazu auffordern, sich ganz der Übermacht von Bosheit und Missachtung zu unterwerfen. Im Gegenteil: Sie plädieren für die Wahrung der Eigenständigkeit und warnen davor, sich soweit manipulieren zu lassen, dass man sich selbst vor lauter Wut vergisst. Der Künstler Jehuda Bacon, der als Jugendlicher das Grauen im KZ Auschwitz durchleiden musste, antwortete auf die Frage, wie er mit diesen Erfahrungen überhaupt noch Vertrauen zu Menschen haben konnte: „Wenn ich hassen würde, hätte Hitler gesiegt. Denn der Hass zerstört nur den eigenen Menschen, mir wird dabei nicht geholfen.“[1]

Was also im ersten Moment absurd klingt, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten, ist in Wahrheit das Geheimnis innerer Freiheit: „Segnet eure Verfolger, segnet, verflucht sie nicht! (…) Vergeltet niemandem Böses mit Bösem! Seid allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht! Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden! Übt nicht selbst Vergeltung, Geliebte, sondern lasst Raum für das Zorngericht Gottes; denn es steht geschrieben: Mein ist die Vergeltung, ich werde vergelten, spricht der Herr. Vielmehr: Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; tust du das, dann sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt. Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!“ (Röm 12,14.17-21).

Darum geht es im Letzten: Selbst Mensch sein und bleiben, was auch immer geschieht, weil nur so Frieden und Neuanfang möglich ist!

Leider sind wir oft geneigt, Versöhnungsbereitschaft als Schwäche auszulegen, und die öffentliche Meinung bestärkt uns noch darin. Jesus aber redet seinen Jüngerinnen und Jüngern ins Gewissen, damals wie heute. Und er hat recht, es muss ja etwas geben, was uns Christen von der großen Masse oder dem Mainstream unterscheidet: Denn mit den Wölfen zu heulen, das brauchen wir nicht erst lernen! Doch anders zu reagieren, als man es üblicherweise erwartet, das verlangt lebenslange Übung – weil es immer wieder neu Überwindung kostet. Wer sein Christsein ernst nimmt, der geht in Vorleistung, wie es die sog. Goldene Regel, auf die sich Jesus bezieht, ausdrückt: „Wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen!“ (Lk 6,31). An mir ganz persönlich liegt es also, meinem Gegenüber, dem jeweiligen Nächsten, einen Vertrauensvorschuss zu gewähren, bis zum Beweis des Gegenteils und sogar darüber hinaus.

Nur wenn ich immer wieder neu an das in jedem Menschen schlummernde Gute glaube, kann ich auch erleben, dass mein Gegner beschämt ist. Wie es David erfuhr, als Saul bewusst wurde, in welcher Gefahr er geschwebt war und dass er, der seinem angeblichen Rivalen nach dem Leben getrachtet hatte, sein eigenes nun dessen Ehrfurcht vor Gott verdankte. So kann die Erkenntnis persönlichen Fehlverhaltens zur Grundlage von Versöhnung werden.

Wenn wir heute 50 Jahre Dekanatswallfahrt feiern, dann geht unser Blick unwillkürlich auch zurück. Ich möchte nur einige wenige Schlaglichter aus dem Jahr nennen, in dem die Wallfahrt ihren Anfang nahm: 1975 (und in den Jahren danach) halten die Anschläge und Entführungen der RAF die deutsche Öffentlichkeit in Atem. Im April 1975 geht der seit 1946 tobende Vietnamkrieg zu Ende, „die Regierung Südvietnams kapituliert und übergibt alle Macht den Kommunisten.“[2] Im August wird die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki unterzeichnet und leitet eine vorsichtige Entspannungspolitik ein. Im Sinai-Abkommen schließen Israel und Ägypten u. a. einen Nichtangriffspakt. Beim ersten Weltwirtschaftsgipfel „beginnen die wichtigsten westlichen Industriestaaten, ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik aufeinander abzustimmen“[3]. Im Dezember nimmt Jelena Bonner für ihren Mann Andrej D. Sacharow, dem die sowjetische Regierung die Ausreise verweigert hat, den Friedensnobelpreis entgegen.

50 Jahre Ringen um den Frieden: Kleine Schritte der Verständigung wechseln sich ab mit Rückschlägen und kriegerischen Auseinandersetzungen. Der Fall der Berliner Mauer 1989 läutet eine neue Phase in Europa ein. Doch führt die Auflösung bisheriger politischer Systeme nicht nur zu neuen Staaten, sondern zu großen gesellschaftlichen Verwerfungen und wirtschaftlichen Einbrüchen. Im Rückblick jedoch überwiegt die Dankbarkeit.

Frieden ist keine Selbstverständlichkeit, das spüren wir heute, wo der Krieg wieder nach Europa zurückgekehrt ist und politische Bündnisse brüchig geworden sind, stärker als vor zehn Jahren. So ist es gut, hier in „Maria Thann“ auf die Gottesmutter, die Königin des Friedens, zu schauen, ohne deren Einverständnis Gott nicht Mensch werden wollte. Sie wusste um die Prophezeiung des Jesaja, die auf den künftigen Messias hindeutete und die Sehnsucht nach Erlösung wachhielt: „Ein Kind wurde uns geboren, ein Sohn wurde uns geschenkt. Die Herrschaft wurde auf seine Schulter gelegt. Man rief seinen Namen aus: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens“ (Jes 9,5).

Die Sehnsucht nach Frieden eint uns alle. Doch schon die ersten Christen mussten erleben, wie sehr das Kreuz zum Skandalon, zum Stein des Anstoßes für diejenigen wurde, die sich das Eingreifen Gottes in die Welt ganz anders ausmalten. Bis heute reiben sich viele daran, dass der Weg zum Heil über das Kreuz gehen soll und selbst wir sehen, je nach eigener Lebenssituation, darin manchmal mehr den Marterpfahl als den Lebensbaum. Lassen wir uns nicht beirren, sondern nehmen wir auch mit unseren Zweifeln, mit unserem Kleinglauben immer wieder Zuflucht zum Gebet. Die Wallfahrtskirche Maria Thann steht alle Tage offen und Gottes Ohr ist immer „auf Empfang“. Da bin ich mir sicher!

[1] Yehuda Bacon: "Hass zerstört den Menschen" | rbb24 Inforadio

[2] Zit. n. LeMO Jahreschronik 1975

[3] Ebd.

 

Lesungen: 1 Sam 26,2.7-9.12-13.22-23; Röm 12,9-21; Lk 6,27-38