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Wichtiges
Katchese von Bischof Bertram zum 2. Advent in der Reihe "Cantate Domino" im Augsburger Dom

Die Begegnung zwischen Maria und Elisabet (Lk 1,39-56)

03.12.2022

Vor einer Woche haben wir uns das Gespräch Marias mit dem Engel Gabriel vergegenwärtigt, der sie einlud, cooperatrix Dei, Mitarbeiterin Gottes, Mitwirkende am göttlichen Heilsplan zu werden: Mit dem Ja Mariens beginnt das Erlösungswerk Jesu. Wie jedes menschliche Kind wollte er sich nicht nur dem Vater im Himmel verdanken, sondern auch einer Mutter, einer einfachen Frau aus dem Volk Israel. Sie hatte vom Engel erfahren, dass ihre Verwandte Elisabet schon der Niederkunft entgegensah und folgte dem inneren Impuls, der betagten Erstgebärenden beizustehen. Die Reise von Nazaret ins „Bergland von Judäa“ (Lk 1,39) war alles andere als ein Spaziergang. Das erfährt der Heiligland-Pilger auch heute noch und wenn er nur merkt, dass es dort oben sehr viel kühler ist. Im Winter kann es sogar Schnee haben – also ein ganz anderes Klima als im galiläischen Flachland.

„Maria eilte“ heißt es, doch wir dürfen uns das nicht so vorstellen, als wäre sie allein losgezogen. Das schickte sich für eine junge, unverheiratete Frau nicht; auch war die rund 100 km lange Strecke nicht ungefährlich. Vermutlich schloss sich das Mädchen aus Nazaret einer Handelskarawane an und konnte so nachts mit anderen Frauen in einem Zelt oder einer Herberge sicher ruhen. – Wenn im nächsten Jahr der Weltjugendtag in Lissabon stattfindet, werden sich Tausende von jungen Leuten mit diesem ersten Vers unseres Evangeliumstextes beschäftigen: „Maria machte sich auf den Weg und eilte in eine Stadt im Bergland von Judäa“ (Lk 1,39). Beginnen wir heute schon mit dem Gebet für alle, die sich die Muttergottes zum Vorbild nehmen, dass auch sie sich dem unendlich liebenden Gott zur Verfügung stellen und so zu Schalen Seiner Gnade4 werden!
 
Wir wissen nicht, ob Maria ihr Kommen bei den Verwandten angekündigt hat, wahrscheinlich ist eher, dass es ein Überraschungsbesuch war. Eines Tages steht sie in der Tür und die Freude bei den Verwandten ist groß. Der Blickwinkel, den das Evangelium hier einnimmt, erscheint allerdings recht ungewöhnlich: „Als Elisabet den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib“ (Lk 1,41). Welch eine tiefe Verbundenheit spricht aus dieser Beobachtung! Die Hochschwangere, selbst ganz Ohr, wird durchflutet von der Freude, die auch das ungeborene Kind unmittelbar erfasst. Der Mutterleib als Resonanzkörper für das Baby – seit wenigen Jahrzehnten erst ist wissenschaftlich bestätigt, was hier als geisterfüllter Augenblick geschildert wird. Die ungeborenen Kinder erkennen einander gleichzeitig mit ihren Müttern!
 
Vermutlich erinnern sich auch manche Mütter unter Ihnen, wie sehr sie die vorgeburtliche Lebendigkeit ihres Kindes beglückte und wahrscheinlich auch anstrengte. Elisabet macht in diesem Moment buchstäblich eine Erfahrung der Be-Geisterung. Der Heilige Geist lässt sie zur Verkünderin werden, zur Prophetin „mit lauter Stimme“: „Gesegnet bist Du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes“ (Lk 1,42). Ein solcher Segenswunsch ist an sich nichts Besonderes – die folgende Frage, „Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?,“ aber schon. Denn dies ist das allererste Messiasbekenntnis! Im Lukasevangelium steht es in der Kindheitsgeschichte Jesu neben dem von Simeon und Hanna (Lk 2,22-40). Elisabet wird also wie ihr Sohn Johannes zur Vorläuferin, zur Heroldin Jesu und auch auf sie trifft die Seligpreisung zu, die der Auferstandene Thomas und den anderen Apostel mitgab: „Selig sind, die nicht sehen, und doch glauben“ (Joh 20,29). Hier haben wir ein Beispiel dafür, dass der Glaube wirklich vom Hören (vgl. Röm 10,17) kommt!
 
Der Besuch Marias lässt Elisabet sicher aufatmen, weil sie in ihr eine Freundin, eine Verbündete gegen alle üble Nachrede hat. Jede der beiden Frauen erkennt die andere an, da gibt es keinen Neid, keine Eifersucht. Denn jede weiß von ihrer ganz eigenen Bedeutung im Heilsplan Gottes, jede ist gottunmittelbar. Wie sich später ihre Kinder ergänzen, so wird wohl auch den Müttern jetzt bewusst, dass keine ohne die andere sein kann. Was Maria im Magnifikat über sich selber sagt, das hat Elisabet aufgrund ihrer tiefen Gottverbundenheit bereits im Voraus erkannt. Zugleich offenbart der Lobpreis, den ihr der Evangelist Lukas in den Mund legt, dass die Mutter des Erlösers sich als Glied eines lebendigen Reigens von Frauen betrachtet, in dem sie Halt und Ort bekommt. Das wichtigste Vorbild dabei ist Hanna, die Mutter Samuels. Sie teilt mit Elisabet das Schicksal langer Kinderlosigkeit und pilgert, wie das erste Buch Samuel erzählt, jedes Jahr mit ihrem Mann zum Wallfahrtsort Schilo. Hanna fastet und betet inständig, und macht schließlich ein Gelübde: Sie verspricht, im Falle einer Schwangerschaft den heißersehnten Sohn „für sein ganzes Leben dem Herrn (zu) überlassen“ (1 Sam 1,11). Und tatsächlich: Gott erhört die Verzweifelte – ein Jahr später dankt sie ihm mit jenen prophetischen Worten, aus denen ihre jüngere Schwester Maria Jahrhunderte später schöpft, um das Wunder ihrer eigenen Auserwählung zu besingen:
 
1 Sam 2, 1-11
1 Mein Herz ist voll Freude über den HERRN, / erhöht ist meine Macht durch den HERRN. / Weit öffnet sich mein Mund gegen meine Feinde; / denn ich freue mich über deine Hilfe. 2 Keiner ist heilig wie der HERR; / denn außer dir ist keiner; / keiner ist ein Fels wie unser Gott. 3 Redet nicht immer vermessen, / kein freches Wort komme aus eurem Mund; / denn der HERR ist ein wissender Gott / und bei ihm werden die Taten geprüft. 4 Der Bogen der Helden wird zerbrochen, / die Wankenden aber gürten sich mit Kraft. 5 Die Satten verdingen sich um Brot / und die Hungrigen gibt es nicht mehr. / Die Unfruchtbare bekommt sieben Kinder / und die Kinderreiche welkt dahin. 6 Der HERR macht tot und lebendig, / er führt zum Totenreich hinab und führt auch herauf. 7 Der HERR macht arm und macht reich, / er erniedrigt und er erhöht. 8 Den Schwachen hebt er empor aus dem Staub / und erhöht den Armen, der im Schmutz liegt; / er gibt ihm einen Sitz bei den Edlen, / einen Ehrenplatz weist er ihm zu. / Ja, dem HERRN gehören die Pfeiler der Erde; / auf sie hat er den Erdkreis gegründet. 9 Er behütet die Schritte seiner Frommen, / doch die Frevler verstummen in der Finsternis; / denn der Mensch ist nicht stark aus eigener Kraft. 10 Wer gegen den HERRN streitet, wird zerbrechen; / über ihn lässt er es am Himmel donnern. / Der HERR hält Gericht bis an die Grenzen der Erde. / Seinem König gebe er Kraft / und erhöhe die Macht seines Gesalbten.
 
Lk 1, 46-55
Meine Seele preist die Größe des Herrn / 47 und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. 48 Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. / Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. 49 Denn der Mächtige hat Großes an mir getan / und sein Name ist heilig. 50 Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht / über alle, die ihn fürchten. 51 Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: / Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; 52 er stürzt die Mächtigen vom Thron / und erhöht die Niedrigen. 53 Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben / und lässt die Reichen leer ausgehen. 54 Er nimmt sich seines Knechtes Israel an / und denkt an sein Erbarmen, 55 das er unsern Vätern verheißen hat, / Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.
 
Es könnte eine kleine adventliche Besinnung sein, diese beiden Texte miteinander zu vergleichen. Auffällig ist, dass beide Frauen die geringe Bedeutung, die ihnen die zeitgenössische Gesellschaft zumisst, durch ihren welt- und heilsgeschichtlichen Horizont als Fehlurteil entlarven. Was damals niemand für möglich hielt, das hat sich in das Gedächtnis der Menschheit eingegraben: Hier, im Gebirge Efraim (1 Sam 1,1) und im Bergland von Judäa (Lk 1,39), in armseligen Zelten und Hütten, wurde Geschichte geschrieben – und zwar von Frauen!
 
Manchmal habe ich den Eindruck, wir stehen in der Auslegung der Heiligen Schrift noch am Anfang, und da meine ich vor allem den Blick von uns Männern auf die Heilsgeschichte. Haben wir sie bisher nicht hauptsächlich als eine Geschichte von Männern gelesen und die Szenen, in denen Frauen die Hauptrolle spielen, gewissermaßen nebenherlaufen lassen? Was sind fast sechs Jahrzehnte gemeinsamer Anstrengungen von Theologinnen und Theologen, die Frohe Botschaft Jesu Christi im Blick auf die zweite Hälfte der Menschheit zu ergründen, angesichts fast zweier Jahrtausende unter patriarchaler Sonnenbrille?
 
„Der Fromme von morgen“, so das bekannte Wort Karl Rahners von 1966 im Wortlaut, „wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein.“5 Diese ernste Einschätzung unmittelbar nach Beendigung des II. Vatikanischen Konzils ließ damals aufhorchen. Sie wirkte wie ein Dämpfer inmitten der Aufbruchsstimmung, in der sich die Kirche befand. Heute, fast 60 Jahre danach, gibt es wohl niemanden mehr, der Rahner nicht zustimmen und gleich die Frage hinterherschieben würde: Gibt es sie wirklich noch, solche Frommen, solche Zeugen und Jüngerinnen Jesu Christi?
 
Millionen Menschen haben in den letzten Jahren der Kirche den Rücken gekehrt. Wenn sie ihren Glauben weiterhin leben wollen, was nicht unmöglich ist, aber sehr viel schwerer als in Gemeinschaft, dann verzichten sie trotzdem in den meisten Fällen auf den Empfang der Sakramente. Dies bedeutet auf Dauer zwangsläufig eine Schwächung der Glaubenspraxis. Auch vor diesem Hintergrund ist die Begegnung von Maria und Elisabet für unsere Zeit hochaktuell. Hier vergewissert sich eine junge Frau, die eine Gotteserfahrung gemacht hat, dass sie nicht auf dem Holzweg ist, dass sie sich ‚das mit dem Engel‘ nicht eingebildet hat und trifft auf eine sehr viel Ältere, der in ähnlicher Weise die Nähe Gottes buchstäblich auf – ja, in den Leib geschrieben ist. Diese Seelenverwandtschaft, die zu der familiären dazu kommt, drückt sich nicht zuletzt auch in den Namen der beiden ungeborenen Kinder aus: Jesus – Jehoschua bedeutet, wie wir schon gesehen haben, „Gott rettet“ und Johannes – Johanan heißt übersetzt „Gott ist gnädig.“ Zweimal eine ähnliche Gotteserfahrung, zweimal eine Verheißung, die in noch ungeborenen Kindern Fleisch angenommen hat. So schreibt Gott auch heute noch Heilsgeschichte, nicht über die Köpfe der Menschen hinweg, sondern mit uns und durch uns. Wir sind das Buch der Liebe Gottes, das alle, die mit uns leben, lesen – ganz gleich, ob sie sich zur Gemeinschaft der Gläubigen zählen oder nicht. Das ist unsere Chance, aber auch die Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Christ sein bedeutet, Botschafter der Freude sein, erkennbar sein als Kind, als Tochter und Sohn Gottes, ihm ähnlich werden …
 
Ich wünsche Ihnen, dass Sie eine solch befreiende Gotteserfahrung machen; dass Sie Ihren Schöpfer als den liebenden Urgrund und als das Ziel Ihres Lebens erfahren dürfen. Jesu Einladung gilt noch immer, sie gilt auch für uns: „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten; mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm Wohnung nehmen“ (Joh 14,23). Vertrauen wir wie Maria und Elisabet auf diese Zusage und lassen wir ihn ein, wenn er anklopft! Advent heißt Ankunft des Herrn: Nutzen wir diese Tage, um uns innerlich auf ihn vorzubereiten.
 
4 Vgl. die Empfehlung des hl. Bernhard von Clairvaux: „Erweise Dich als Schale und nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie erfüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter.“ Aus der 18. Predigt zum Hohenlied (Sermo 18 super Cantica Canticorum), in: Gesammelte Werke lateinisch und deutsch (= SBO), Innsbruck 1994, V, 255ff.
 
5 Karl Rahner, Frömmigkeit heute und morgen. In: Geist und Leben, Würzburg: Echter 1966, S. 326-342, hier: S. 335.