In den Dienst des Guten Hirten
Predigt zur Aussendungsfeier in den pastoralen Dienst
Hirten sind heute Mangelware. Doch wenn ich näher hinschaue, merke ich: Es gibt sie doch noch – die Hirten. Zwei Beispiele sind mir eingefallen. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein.
Da ist zuerst unser Papst Franziskus. Im November 2016 – kurz vor dem Ende des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit – lädt er Obdachlose aus ganz Europa zu sich in den Vatikan ein. Durch die Zuwendung ihnen gegenüber macht er deutlich, wie sehr die Kirche auf ihr Verzeihen angewiesen ist überall dort, wo sie den Armen und Schwachen gegenüber versagt hat. Und dann bittet Franziskus die Obdachlosen, ihm – dem Papst – die Hände aufzulegen: Obdachlose segnen den Papst. Als ich das zum ersten Mal hörte, bekam ich eine Gänsehaut. Franziskus erweist sich den Bedürftigen gegenüber als Bedürftiger. Er kehrt die zementierten Rollen um. Der oberste Hirte zeigt damit, dass alle Menschen – auch die „in Amt und Würden“ – aufeinander angewiesen sind und einander brauchen. Wichtig ist dem Papst außerdem, dass die mundtot Gemachten wieder Stimme und die Ausgeschlossenen wieder Mitspracherecht erhalten. Der renommierten italienischen Tageszeitung „La Repubblica“ sagte der Papst: „Christus hat von einer Gesellschaft gesprochen, in der die Armen, die Schwachen, die Ausgeschlossenen diejenigen sind, die entscheiden. Nicht die Demagogen, nicht die Gauner, sondern das Volk.“
Damit kommt das zweite Beispiel in den Blick. Den Titel „Hirte“ sollte man hier besser in Anführungszeichen setzen. Die Rede ist von US-Präsident Donald Trump. Im November 2015, als er noch Präsidentschaftskandidat ist, verhöhnt er einen Reporter der New York Times, der unter einer angeborenen Gelenkversteifung leidet. Donald Trump tut dies, indem er die – durch die Krankheit behinderten – Bewegungen des Journalisten öffentlich nachäfft. Die Schauspielerin Meryl Streep ist so mutig, dass sie dieses Ereignis im Januar 2017 in einer Rede aufgreift: „Es gab eine Performance, die mich fassungslos machte. Sie senkte ihre Widerhaken in mein Herz. Nicht, weil sie gut war. Es gab nichts Gutes daran. Aber sie war wirksam und erreichte ihr Ziel. Sie brachte das Zielpublikum dazu, zu lachen und seine Zähne zu zeigen. Es war dieser Moment, in dem der Mensch, der danach verlangt, den am meisten respektierten Platz in unserem Land zu besetzen, einen behinderten Reporter nachmachte. Jemanden, dessen Privilegien, Macht und Fähigkeit, zurückzuschlagen, er übertrumpfte. Als ich das sah, brach es mir das Herz. Ich kann es noch immer nicht aus meinem Kopf kriegen, denn es war kein Film. Es war die Realität. Wenn dieser Instinkt, jemanden zu erniedrigen, von einem mächtigen Menschen vorgelebt wird, so sickert er ein in unser aller Leben. Denn er erlaubt andern, das Gleiche zu tun. Respektlosigkeit lädt ein zu Respektlosigkeit. Gewalt verleitet zu Gewalt. Wenn die Mächtigen ihre Position dazu benutzen, um andere zu tyrannisieren, so verlieren wir alle.“
Liebe Schwestern, die Sie sich heute senden lassen wollen! Ich rede Sie bewusst so an – als Schwestern, weil Sie sich von heute an uns Brüdern im Hirtendienst, den geweihten Priestern und Diakonen, aber auch Ihren Berufskollegen, zugesellen und mit ihnen zusammen das Reich Gottes aufbauen helfen wollen. Das Leitwort, unter das Sie ihren Dienst stellen, soll Ihnen dafür Richtschnur sein: Sie sind „gerufen zum Zeugnis Seiner Liebe.“ Wie damals Matthäus, so haben Sie sich gleichsam von Ihrer Zollschranke, Ihrer alltäglichen Arbeit, weg in den Dienst des Guten Hirten rufen lassen. In diesen Dienst bringen Sie sich selber mit und Ihre Fähigkeiten ein – mit Ihrem Namen und Ihrem Gesicht:
Frau Verena Wörle aus Obergriesbach: Ihre Zollschranke war zunächst die soziale Arbeit in einer Wohngruppe für Jugendliche, ehe Sie der Ruf in den pastoralen Dienst erreichte und immer eindringlicher wurde.
Frau Marie Zengerle aus Mörslingen: Als Ministrantin sind Sie in das kirchliche Leben hineingewachsen, der „Neue Weg“ als geistliche Gemeinschaft hat Sie wesentlich mitgeprägt. Um dem Guten Hirten zu dienen, haben Sie Ihre Zollschranke im Groß- und Außenhandel gelassen.
Frau Christa Döllner aus Euernbach bei Scheyern: Ehefrau und Mutter, von Beruf technische Zeichnerin. Auch Sie haben Ihre Zollschranke eingetauscht mit dem Engagement für die Seelsorge, zu der Sie sich berufen fühlen.
Drei Lebensläufe – drei Persönlichkeiten – drei Frauen, die sich vom Guten Hirten einspannen lassen. Herzlichen Glückwunsch dazu! Sie werden sehen: Unter Jesu Hirtenstab lässt es sich gut leben und arbeiten.
Was meint Jesus, wenn er vom guten Hirten erzählt? Seine Hirtenrede ist keine harmlose Schäferidylle. Es geht um Leben und Tod. Der gute Hirt (Joh 11) gibt sein Leben für die Schafe (vgl. v.3). Jesus zeichnet ein Bild, das die Züge seiner Lebensgeschichte trägt. Dessen markante Züge sind:
Der gute Hirt kennt die Seinen, er ruft sie „einzeln beim Namen und führt sie hinaus“ (v.3). Er schaut nach ihnen – nicht mit dem Kennerblick eines Händlers, der darauf aus ist, die Schafe auszuschlachten, sondern um sie ins „Leben in Fülle“ (v.10) zu führen.
Der gute Hirt bleibt auch denen nahe, die sich verlaufen haben. Er steigt ihnen hinterher, bis in die finstersten Täler und entlegensten Schluchten. Den Gestrandeten und Verlorenen geht er nach, hebt sie auf, trägt sie heim und freut sich, dass er sie wiedergefunden hat (vgl. Lk 15,1-7).
Wenn’s zum Stechen kommt, kneift er nicht. Er setzt sein Leben ein für die Schafe. So hebt er sich vom „bezahlten Knecht“ ab, der im Ernstfall das Weite sucht, weil ihm „an den Schafen nichts liegt“ (v.13).
Auf diesem Hintergrund erhebt sich noch eine wichtige Frage, der wir uns stellen sollten: Können wir das Bild vom guten Hirten, wie Jesus es zeichnet, für die Kirche heute in Anspruch nehmen? Die Heilige Schrift tut es, aber mit durchaus kritischem Unterton: Sie geißelt die Hirten, die sich nur selber mästen (vgl. Ez 34). Papst Franziskus legt den Priestern seiner Diözese Rom ans Herz: „Seid Hirten mit dem Geruch der Schafe.“ Also: Man muss riechen können, dass ihr es mit den Menschen von heute zu tun habt – nicht wie sie sein sollen, sondern wie sie tatsächlich sind. Es gilt, der Versuchung zu widerstehen, geruchsneutral zu sein, steril. Die Frohe Botschaft ist nicht nur gedacht für das Hirn, sondern auch für das Herz. Wir dürfen nicht nur ein besonderes Aroma zulassen, etwa nur den Weihrauchduft. Wir müssen an die Ränder gehen, auch und gerade Marginalität ernst nehmen, wie es auf einer Spruchkarte der Schweizer Caritas zu lesen ist: „Wo die am Rande sind, da ist die Mitte.“
Trifft das für die Frauen und Männer im pastoralen Dienst heute zu? Oder meinen wir, unser „Kerngeschäft“ bestehe darin, Gemeinde zu organisieren, Gremien zu koordinieren und dabei den Gang in die Diakonie als „Accessoire“ abtun zu können? Wir dürfen die Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließen. Ehrlichkeit ist angesagt. Der Mangel an geweihten Hirten ebenso wie an hauptberuflichen Frauen und Männern sowie die damit verbundene Dehnung und Streckung unserer Seelsorgeeinheiten bringt es mit sich, dass die in der Seelsorge Tätigen ihre „Schafe“ nicht mehr kennen, weil sie deren Namen nur noch in der Computerdatei stehen haben. Dieser Befund ruft die Verantwortung wach, die wir alle füreinander tragen – unabhängig ob wir eine Weihe oder kirchliche Beauftragung empfangen haben oder nicht. Wir sind aufeinander angewiesen. Pointiert formuliert: Wir sind füreinander Hirtinnen und Hirten. Ist diese Zeit der Kirche vielleicht die Stunde, das Hirtenamt aller getauften und gefirmten Christinnen und Christen neu und tiefer zu erfassen, ohne das besondere, geweihte Priesteramt zu relativieren?
Ich träume von einer Kirche, die wie ein großes Hoffnungsnetz ist – möglichst engmaschig geknüpft. Liebe Frau Döllner, liebe Frau Wörle, liebe Frau Zengerle, schön, dass wir heute mit Ihnen drei neue feste Knotenpunkte in dieses Netz knüpfen dürfen. Für unsere Diözese darf ich Sie „rufen zum Zeugnis Seiner Liebe“. Gern sende ich Sie mit dem Auftrag: „Verkündet und lebt Gottes Wort, damit seine Kraft im Leben der Menschen wirksam wird.“