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Wichtiges
Predigt von Bischof Bertram im Hohen Dom zu Augsburg anlässlich seines 65. Geburtstags

„Nur eines ist notwendig...!“

20.07.2025

Einen Höhepunkt an Peinlichkeit mutet uns das heutige Evangelium zu. Ein seltener, lieber, hoher Gast und guter Freund kommt zu Besuch. Schon lange hatten sie auf diese Begegnung hingelebt. Ein interessantes und tiefsinniges Gespräch entwickelt sich.

Und da mitten hinein platzt Marta mit dem Vorwurf: „Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die ganze Arbeit mir allein überlässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen!“ (Lk 10,40) Man hört förmlich eine doppelte Ohrfeige klatschen: indirekt, verhaltener gegenüber der Schwester Maria – und direkt, scharf, in das Gesicht Jesu: „Macht dir das eigentlich gar nichts aus, dass ich allein für dich, für euch alle herumschufte?“

Um die Unmöglichkeit dieser Situation noch weiter zu illustrieren, brauchen wir die Szene nur noch etwas zu aktualisieren: Als ich noch Student am Germanicum war, hat uns auch einmal Papst Johannes Paul II. im Seminar besucht. Beim Abendessen saß er an einem großen Tisch, neben anderen auch mit einigen Studenten zusammen. Andere Studenten machten Tischdienst. Wenn da einer geplatzt wäre und „vor versammelter Gemeinde“ hätte verlauten lassen: „Heiliger Vater! Macht es Ihnen denn überhaupt nichts aus, dass ich hier von Tisch zu Tisch renne, während einige auserwählte Mitstudenten herumsitzen und ihren Worten lauschen? Sehen Sie nicht, wie ich schwitze? Sagen Sie denen, sie sollen mir helfen!“ – Die Szene ist zu grotesk, als dass man sie sich als wirklich vorstellen könnte. Und doch: Ist sie nicht der Situation an Peinlichkeit ziemlich nahe?

Genau an diesem Punkt höchster Peinlichkeit ist die Stunde Jesu gekommen. Da reagiert er. Jesus nimmt Stellung, als offenbar wird, dass Marta völlig zerrissen ist, aus allen Fugen gerät und die Fassung verliert. Sie hat die Kontrolle über sich verloren und verrennt sich maßlos. Woran mag das liegen? Marta ist uneins mit sich selbst: Einerseits will sie wie Maria Jesus zu Füßen sitzen und am Gespräch teilnehmen, andererseits will sie ihre wirklichen oder eingebildeten Pflichten als Hausfrau erfüllen. Sie möchte im Wohnzimmer bei Jesus sein und zugleich bei den Kochtöpfen in der Küche. Und beides gleichzeitig geht nicht. Auch in der Bibel nicht, die mit dem Wunderbaren auf gutem Fuß steht.

Auf diesen wunden Punkt legt Jesus seinen Finger. In seinen gesprochenen Worten: „Nur eines ist notwendig!“ liegt die unhörbare Aussage: „Marta, sei entschieden! Lebe das, was du wirklich willst! Sei in der Küche oder sei bei mir! Sei bereit, auch den Verzicht auf dich zu nehmen! Denn keine Entscheidung geht ohne Verzicht ab! Nur so wendet sich die Not deiner Entscheidung! Denn nur eines ist not-wendend und damit notwendig.“

So gesehen hätte es eine ganz andere Marta-Maria-Geschichte geben können, die so hätte enden können: „Und Jesus lobte Marta und sagte: Du bist eine gute Hausfrau, eine wunderbare Frau! Ich weiß, wie gern du mir zugehört hättest bei einem meiner seltenen Besuche. Aber du hast darauf verzichtet und mir und meinen hungrigen Freunden ein vorzügliches Essen zubereitet. Wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat.“ Aber so endet die Geschichte eben nicht. Statt dessen wird der Marta eine Lektion erteilt: „Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Umstände. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat das Bessere erwählt. Das soll ihr nicht genommen werden!“ (Lk 10,41f.) Inwiefern hat Maria das Bessere erwählt?

Weil sie bei dem war und blieb, was für sie „dran“ war. Maria hat ihre Stunde der Jesusbegegnung erkannt und sie am Schopf gepackt. Sie war entschieden, ganz.

Wenn sie nach einiger Zeit hin- und hergerutscht wäre auf ihrem Stuhl, dann hätte Jesus sie wohl ebenso direkt gefragt: „Was ist los mit dir, Maria? Weißt du nicht, was du eigentlich willst? Bleib, wenn du glaubst, bleiben zu sollen. Aber du kannst auch gehen, wenn du glaubst, gehen zu sollen.“ So aber hat Maria das Bessere erwählt – weil sie wirklich gewählt hat.

Was können wir nun daraus mitnehmen für die Frage nach Hören und Tun, Beten und Wirken, Aktivität und Betrachtung? Steckt dahinter nicht die Einladung: Lebe aus der Mitte!

Versuche, dir selber auf der Spur zu bleiben! Lebe in innerer Einheit! Was du tust, das tue ganz! Denn was nützte das Zuhören der Maria, wenn es Ausflucht vor dem Tun und Bequemlichkeit ist? Was nützt die Gastfreundschaft und Fürsorge der Marta, wenn sie im Grunde aggressiv und zerrissen macht, wenn das Lob ausbleibt? Was nützt das Engagement für andere, wenn es im Grunde Ausdruck von Hektik und Wichtigtuerei ist? Was nützt ein Beten, wenn es bloß Träumerei und introvertierte Selbstbespiegelung ist! Eines nur ist notwendig: aus dem Einen heraus hörend und handelnd zu leben.

„Aus der Mitte leben“! Wenn wir diesen Bogen zu Ende spannen, dann führt er uns an einen Punkt, der uns fremd erscheinen mag. „Aus der Mitte leben“ wird zum Imperativ: „Aus der Ferne lieben!“ Beides gehört zusammen, denn dahinter steht die Frage: Was tut Marta eigentlich so weh? Welcher Schmerz ist es, der sich dann in eine so massive Aggressivität umsetzt?

Sie fühlt sich im Stich gelassen. Und das bringt sie auch ins Wort: „Herr, kümmert es dich nicht, dass Maria die ganze Arbeit mir überlässt?“ Ausgedeutscht will das sagen: „Jesus, du hast wohl gar kein Auge für mich. Du siehst nur deine dich andächtig anhimmelnde Maria. An mich denkst du wohl gar nicht. Du hast doch sonst immer einen so aufmerksamen Blick für einen Zachäus auf dem Baum und für die alte Witwe, die ein paar Pfennige in den Opferkasten wirft. Dass ich mich hier allein abplage, scheinst du gar nicht zu merken. Und wie gut würde mir das tun! Du weißt doch, wie ich mich auf dich freue. Du spürst doch, wie ich die wenigen Stunden herbeisehne, die du mal vorbeikommst. Ich möchte dieses Zusammensein doch ganz auskosten. Und jetzt kommt gar nichts von dir. Du hast nicht einmal nach mir gefragt.“

Wie sehr eine solche Situation ans Herz geht, können wir nachfühlen. Übersehen zu werden tut weh. Martas Worte – ein SOS-Ruf nach Anteilnahme und Zuneigung. Martas Ölbergstunde mit Jesus: von dem, der einen liebt; von dem, den man liebt, sich verlassen zu fühlen. Eine Stunde, die sich alle Tage ereignen kann und die sich jeden Tag ereignet. Doch wie tief muss die Freundschaft gewesen sein, dass sie eine solche Auseinandersetzung bestehen kann! Mehr noch: Martas Freundschaft zu Jesus wird reifer. Marta selbst lernt aus der verkorksten Dreierbegegnung. Als Jesus auf die Nachricht von der Krankheit des Lazarus hin wieder nach Betanien kommt, bleibt Marta nicht mehr in der Küche. Das soll ihr nicht noch einmal passieren, dass sie eigentlich gern bei ihrem Jesus wäre, aber unter der Knute irgendeines Hausfrauen-Überichs die Kochtöpfe traktiert. Sie läuft Jesus entgegen und spricht ein Bekenntnis, das aus der Tiefe ihres Herzens kommt: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der in die Welt kommen soll.“ (Joh 11,27) Es ist schade, dass dieses Bekenntnis hinter dem Glaubenszeugnis eines Petrus fast in Vergessenheit geraten ist.

Eines nur ist notwendig – auch für uns. Marta – Maria – Jesus – die Geschichte dieser Freundschaft kann uns lehren, das Unsrige ganz zu tun. Was du tust, das tue ganz – und du wirst leben. Dies möchte ich mir zum Vorsatz nehmen.