Das Kreuz – Konfrontation mit einer Vertikalen
Weihbischof Anton Losinger im Hohen Dom zu Augsburg an Karfreitag 2012
In einer großen psychiatrischen Klinik auf dem Boden unserer Diözese wird die Karfreitagsliturgie gefeiert. Viele der psychisch kranken Patienten sind in die Kapelle gekommen, auch einige Ärzte, Pfleger und Schwestern sind da und eine Gruppe von Angehörigen. Der Klinikseelsorger weiß um die Sensibilität des Themas Leid und Tod für psychisch kranke Menschen und hat ein sehr schönes Zeichen der Kreuzverehrung vorbereitet. Mit einer gelben Blume in der Hand gehen die Patienten nach vorne und legen sie vor dem gekreuzigten Heiland nieder.
Plötzlich entsteht Unruhe. Ein Patient der geschlossenen Abteilung drängt auf einmal nach vorne, stürmt wild durch die Reihe hindurch und kniet schließlich vor dem Kreuz nieder. Dann zückt er eine Schere und holt - zum Staunen aller - aus seiner Hosentasche Verbandsmaterial und Heftpflaster heraus. Und er beginnt in einer ergreifenden Ruhe dem gekreuzigten Herrn die Wunden zu verbinden, erst die Füße, dann die Hände und das Herz.
Alle in der Kirche verstehen sofort! Das ist nicht Protest. Das ist nicht geisteskrank. Dies ist seine persönliche Antwort auf die Frage des Leides: mitfühlende Liebe! Aber es ist zugleich auch Zeichen furchtbarer Ohnmacht vor dem Leid, so wie die Reaktion der Menschheit auf das Leid der Kreatur seit Menschengedenken eben ist: herzzerreißende Hilflosigkeit, Angst, Trauer und auch Empörung: Ist das nicht eine Schlüsselszene der Erklärung des menschlichen Wesens, wenn Jesus in der Passion hinausgeführt wird vor die Menge und Pilatus sagt: Ecce homo – seht den Menschen! Da scheint für einen Moment die Zeit stillzustehen. Es entsteht die alte Frage neu: Was ist der Mensch? Was ist der Sinn seines Leidens? Und: Wo ist Gott im Leid?
Die Frage des Leidens: Nicht nur Therapie, sondern Heil
Leid und Krankheit sind immer gegenwärtig in unserem Leben und werden es bleiben. Trotz all der Möglichkeiten modernster Wissenschaft und Technik, trotz höchster medizinischer Kunst werden wir die Hinfälligkeit des Leidens nie beseitigen. Leiden, Krankheit und Tod, das gehört unentrinnbar tief hinein in unsere menschliche Existenz. Besonders im medizinischen Bereich ist uns in jüngster Zeit trotz der phantastischen Möglichkeiten und Aussichten, die uns die moderne Gentechnologie und Biomedizin verheißt, vieles fraglich geworden. All die Zweifel und Proteste um das Klonen von Menschen, die Grenzen der Embryonenforschung, die Fragen nach dem Beginn und dem Ende des menschlichen Lebens, der Schutz der Würde der Person von der Zeugung bis zu einem friedlichen Tod - das zeigt die Kehrseite einer wissenschaftlichen Dynamik, die wachsende Ängste in den Menschen entstehen läßt.
Da begegnet uns ganz aktuell eine sehr drückende Frage: Warum erbitten heute mehr und mehr ältere und pflegebedürftige Menschen in ihren Patientenverfügungen aktive Sterbehilfe? Warum wollen sie künstlich aus dem Leben befördert werden? Warum fürchten sie das Leben mehr als das Sterben? In unseren Untersuchungen im Deutschen Ethikrat fanden wir zwei typische Antworten: Erstens ist es die Angst vor Schmerzen. Und zweitens die Angst davor, in Demenz zu fallen und ein Pflegefall zu werden, und – wie die Menschen das so drastisch ausdrücken – an Schläuchen dahinzusiechen.
Auf beide Ängste hätten wir theoretisch gute Antworten: Erstens die Forderung nach palliativmedizinischer Ausbildung der Ärzte und verstärkter Forschung in der Schmerzmedizin, um den Menschen die Angst vor unerträglichen Schmerzen zu nehmen. Und zweitens gute Pflege und das Hospiz. Menschen sollen in der letzten entscheidenden Phase ihres Lebens menschlich begleitet, in Frieden und in liebevoller Geborgenheit dem wichtigsten Ziel des Lebens entgegen gehen können: dem Sterben.
Aber alle die theoretischen Lösungen werden in solcher Situation zweitrangig, wenn Menschen keinen Halt, keine Hoffnung und wirklichen Trost finden. Vielleicht hat Alexander Solschenizyn, der russische Schriftsteller und Nobelpreisträger, das Empfinden vieler moderner Menschen angesichts der heutigen Fortschrittskrise präzise wie kaum ein anderer getroffen, als er bereits 1971 in seinem „Offenen Brief an die sowjetische Führung“ schrieb: „Wir sind in eine Sackgasse geraten. Wir müssen umkehren. Der ganze unendliche Fortschritt hat sich als sinnloser, krampfhafter, nicht zu Ende gedachter Vorstoß der Menschheit in eine Sackgasse erwiesen. Die gierige Zivilisation des ewigen Fortschritts ist zusammengebrochen und geht ihrem Ende zu.“
Es ist der Trost des Kreuzes, dass nichts und niemand je aus der Hand Gottes herausfallen kann! Es ist das Geschenk des Glaubens, dass wir als erlöste Menschen mit einer ewigen Perspektive leben dürfen! Es ist die Zusage, dass Gott immer da ist, auch in den dunkelsten und depressivsten Phasen unseres Lebens. Im Blick auf das Kreuz können Menschen ihre Not einordnen, wenngleich nicht begreifen. Im Blick auf das Kreuz erfahren sie die Liebe des Gekreuzigten, sein Mitleiden und seine tröstliche Nähe, sein Heil – und eben nicht nur Therapie!
„Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben, im Kreuz ist Hoffnung“
„Freilich ist es hart.“ – sagt Romano Guardini in seinem großen Buch: Der Herr - „Es ist »Kreuz«. Hier rühren wir an das schwerste Geheimnis des Christseins. Christentum und Kreuz sind voneinander nicht zu lösen. Seitdem Christus den Weg zum Kreuz hat gehen müssen, steht das Kreuz auf dem Wege eines jeden, der Christ sein will; für jeden als »sein« Kreuz. Die Natur lehnt sich dagegen auf. Sie will sich »behalten«. Sie will da nicht hin-durchgehen. Jesus aber sagt, und es ist das Grundgesetz des Christentums: Wer sich, sein Leben, seine Seele festhält, der wird sie verlieren. Wer sich hineingibt in das Kreuz, so wie es hier und jeweils für ihn aufgerichtet ist, der wird sich finden - und dann unverlierbar sein, weil er an Christus Teil hat“ – soweit Romano Guardini.
Gott nimmt das Leid nicht weg. Die Schwerkraft der Geschichte, das Negative des Leidens bleibt bestehen, solange wir als Menschen leben. Aber eines ist anders: Das Leid hat mit dem Karfreitag eine andere Dimension bekommen. Gott ist im Leiden nicht fern! Und darum gibt es keine Ecke unserer Existenz, die so dunkel wäre, dass Gott sie nicht kennt! Der bleibende Trost, den Gott schenkt, ist eine neue Dimension:
Hier gewinnt das Kreuz seine Kraft für unseren Alltag! Dieser Trost muss auch immer wieder vor aller Welt gesagt und ausgesprochen werden, gerade dort, wo die Not erdrückend wird. So riskiere ich es an das Ende dieser Karfreitagsbetrachtung das Wort eines Politikers zu stellen. Es ist unser ehemaliger Bundespräsident Roman Herzog, der noch zu seiner Amtszeit in der Frankfurter Pauskirche im Blick auf das Kreuz dies sagte:
„Die Konfrontation mit einer Vertikalen“
„Ich weiß, dass es für die Kirchen zur Zeit nicht einfach ist, ihren Ort in unserer sich ständig verändernden Gesellschaft zu bestimmen. Mir steht es auch nicht zu, ihnen einen solchen Ort zuzuweisen. Eines aber weiß ich sicher: Eine Kirche, die die Orientierungslosigkeit der Gesellschaft nur noch einmal verdoppelte, hätte sich selber überflüssig gemacht, noch bevor andere ihr das bescheinigten. …
Was ich vom kirchlichen Engagement erwarte - und zwar nicht nur als Person, sondern dezidiert von meinem Amt her - ist, um es vorsichtig zu sagen, die Konfrontation der Menschen mit einer Vertikalen, mit der "ganz anderen" Perspektive. Zu vieles, was Staat und Gesellschaft heute bewegt, macht den Eindruck, es gehe um Allerletztes und Allerwichtigstes. Die Kirchen aber sollten daran erinnern, dass viele unserer Debatten sich - im besten Falle - um Vorletztes drehen. Das scheint mir die Aufgabe der Kirche zu sein, die heute am notwendigsten ist - die Konfrontation der Menschen mit einer Vertikalen.“