Die Schlafwandler
„Die Schlafwandler. Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog“ so lautet der Titel der wohl meistbeachteten historischen Bucherscheinung dieses Jahres. 100 Jahre Gedenken des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges und die Frage nach den Gründen – das ist das Thema. Christopher Clark, der renommierte britische Historiker schreibt in seinem Bestseller „Die Entscheidungsträger bewegten sich mit behutsamen, wohlberechneten Schritten auf die Gefahr zu.“ Muss nicht gefragt werden: Wenn sie so behutsam waren, und ihre Schritte wohl berechneten, warum bewegten sie sich nicht von der Gefahr weg? Weil sie vielleicht gute Argumente und Gründe für den nächsten und übernächsten Schritt hatten, nicht aber freie Sicht auf das, was jenseits dieser Schritte lag.
Führungskultur als Werte- und Bildungsfrage
Die Frage nach einer Führungskultur ist evident eine Werte- und Bildungsfrage. Sie richtet sich zu allererst und von klein auf an den Geist in den Köpfen der Verantwortungsträger. Die Dividende von Erziehung und Wertebildung entscheidet sich in den primären Sozialisationsinstanzen unserer Gesellschaft, die ihrer innersten Natur nach Bildungsinstanzen sind und diesen Geist prägen: Es geht also um die grundlegenden Orte, an denen die Biografie und Lebensperspektive eines jungen Menschen entschieden wird und Werteerziehung und Bildung wesentlich stattfindet:
1. die Familie und ihre zentrale Aufgabe in der Erziehung junger Menschen, 2. die Schule und die Bildungsherausforderung am Übergang zur modernen Wissensgesellschaft, und 3. die Rolle der Medien und ihr dramatischer Einfluss in unserer Gesellschaft.
Familie, Schule und Medien – hier liegen entscheidende Prüfsteine der Führungskulturfragen, die Bildungsfragen sind, weil es hier um die entscheidendste und wichtigste Ressource geht, die wir besitzen: Die geistige Formung der Einstellungen in den lebendigen Köpfe lebendiger junger Menschen!
1. Die Familie und ihre zentrale Aufgabe in der Erziehung junger Menschen
Die Familie ist nicht nur Baustein, sie ist der wesentliche Ort und das Fundament menschlicher Entwicklung. Von Anfang an ist es das Wunder der Weitergabe des Lebens, das in der Familie geschieht. Dabei ist es mehr als nur Genmaterial, was vom Vater und von der Mutter auf die Kinder übergeht. Die fundamentale Bedeutung, die der Familie für das Leben und die Persönlichkeitsentfaltung eines jungen Menschen zukommt, besteht in der naturgegebenen Zusammengehörigkeit der Generationen und im „miteinander Leben“. Es ist Erziehung und Sozialisierung im umfassenden Sinn. Sie reicht von der liebevollen Zuwendung, Zärtlichkeit und Geborgenheit, die das Baby erfährt, bis hin zur Ausbildung und zum sozialen Lernen, das in der Erziehung, natürlich auch in der Werte-Auseinandersetzung mit den Eltern und Geschwistern stattfindet. Wir sind als Persönlichkeiten weitestgehend zu dem geworden, was wir sind, im Zusammenleben mit den engsten Menschen um uns herum, mit unserer Familie!
Wie wesentlich solche soziale Zuwendung bereits von klein auf für das Werden der Person ist, bestätigt die Verhaltensforschung und die Sozialpsychologie immer wieder. Schon die Zuwendung der ersten Lebensmonate legt den Grund für das sogenannte „Urvertrauen“, das die Grundlage für spätere Beziehungsfähigkeit oder -unfähigkeit bilden kann. Und wie schmerzlich muss es da berühren, wenn solche Erziehung entweder misslingt oder überhaupt nicht stattfindet! Denn die Elternaufgaben sind ja heute, an der Grenze zur Postmoderne, unüberschaubar schwierig geworden. Alexander Mitscherlich beobachtet in den 70er Jahren in seinem bekannten Buch den „Weg in die vaterlose Gesellschaft.“ Das scheint sich unter den gewandelten und beschleunigten Rollenbedingungen unserer heutigen Gesellschaft zu einem wachsenden Problem auszuweiten: Es herrscht Verunsicherung, oft sogar Ratlosigkeit bei Eltern, die erziehen sollten, es herrscht fehlende Bereitschaft zur kräftezehrenden Werteauseinandersetzung mit jungen Menschen, und es herrscht nicht selten fehlender „Mut zur Erziehung“.
Es gibt eine hochinteressante selbstbiografische Notiz der Tochter von Ulrike Meinhof, Mitglied der terroristischen Bader-Meinhof Gruppe. „Das Schlimmste für mich war, dass meine Mutter immer für alles Verständnis hatte!“ schreibt sie in ihrem Buch über ihre Mutter. Welch ein signifikantes Alarmsignal der Folgen mangelnder Elternzuwendung und der Angst vor Werte-Auseinandersetzung mit pubertierenden jungen Menschen.
Vor allem aber für die Situation der Kirche und die Zukunft des Glaubens in unserer Gesellschaft hat dieser Zusammenhang unermessliche Bedeutung: Schließlich ist die Familie nicht weniger als die erste und elementare religiöse Sozialisationsinstanz. Wenn sie ihre primäre Aufgabe nicht leistet, predigt der Pfarrer später mit reduziertem Erfolg, kann auch der beste Religionsunterricht in der Schule die Defizite kaum mehr wettmachen. Der Ausfall und die Defizite der religiösen Bildung und Erziehung in der Familie wird keineswegs unterschätzt, wenn man sagt: Wenn die Familie ausfällt, fehlt das Herzstück menschlicher Sozialisation!
2. Die Schule und die Bildungsherausforderung am Übergang zur modernen Wissensgesellschaft
„Wir sind die Schüler von heute
die in Schulen von gestern
von Lehrern von vorgestern
mit Methoden des Mittelalters
auf die Probleme von übermorgen
vorbereitet werden.“
Mit diesen Zeilen verabschiedete sich unlängst die Abiturklasse eines Berliner Gymnasiums in ihrer Schülerzeitung von der Schule ins Leben.
Welch herbe Kritik am System Bildung! Deutlich scheint die Sorge junger Menschen durch, für das Leben in der Gesellschaft von morgen, die ihrer Gestalt nach eine globale Wissensgesellschaft von ganz neuem Zuschnitt sein wird, nicht gut genug vorbereitet zu sein.
„Wissensgesellschaft“ heißt das Zauberwort, das als Erklärungsschema für die vielfältigen Wandlungsprozesse im Leben moderner Gesellschaften und einzelner Menschen herhalten muss. Man greift nicht zu kurz, wenn man selbst das Heraufkommen einer „neuen sozialen Frage“ diagnostiziert, die sich nicht mehr zwischen den klassischen Faktoren Arbeit und Kapital abspielt, sondern deren neue Dimensionen Wissen und Nichtwissen sind. Bei der Beschreibung der Probleme und der Herausforderungen der Zukunft ist der Trend zur Bildung und die Strukturänderungen, die durch diesen Prozess in Gang gesetzt werden, von entscheidender Bedeutung. Dieser Trend zur Wissensgesellschaft ist darum entscheidender logischer Erklärungshintergrund für die Frage: Wohin geht unsere Gesellschaft?
Einer der deutschen Kardinäle erzählte unlängst am Rande der Deutschen Bischofskonferenz ganz persönliches von seinem Urlaub, den er in Spanien verbrachte. Zu seinem Erstaunen bemerkte er sehr bald, dass in dem Hotel, in dem er untergebracht war, mehr als ein Dutzend junger Leute aus Deutschland arbeiteten, Studentinnen und Studenten, die im Service des Hotels jobbten und sich Geld für das Studium verdienten. Dem Kardinal stellte man dann natürlich den Dienstwagen des Hauses zur Verfügung, und eine der jungen Studentinnen hatte das Glück, ihn zu den Sehenswürdigkeiten des Landes chauffieren zu dürfen. Was ihm dabei auffiel, ließ ihn überrascht und bedrückt zurück: Wo immer man zu Sehenswürdigkeiten der Kultur und Geschichte Spaniens kam, konnte die intelligente und gebildete junge Frau perfekt, wenn nötig in vier Sprachen Auskunft geben. Kam man allerdings in eine Kirche, eine Kapelle oder einen Friedhof, und erklärte der Pfarrer oder Pater die Gegenstände oder liturgische Bräuche, dann fehlten der jungen Frau die Worte. „Das Bedrückendste meines Urlaubs in Spanien“ – so der Kardinal – „war für mich die Erfahrung der vollständigen religiösen Sprachlosigkeit eines intelligenten jungen Menschen.“
Die Schule und unser Bildungssystem sehen sich heute mehr und mehr einer ganz neuen ganzheitlichen Bildungsherausforderung konfrontiert. Es ist die Frage nach Orientierung und Wertmaßstäben für das Leben junger Menschen, und letztendlich die alles entscheidende Frage nach dem Sinn des Lebens. Junge Menschen müssen heute mehr denn je über alles technische Wissen hinaus, ausgestattet werden mit Antworten, mit denen sie ihr Leben ertragen und gestalten können. Das hat einen tiefen existentiellen Anspruch! Und darum müssen Lehrer heute weit über kognitive Wissensaspekte hinaus ihren Schülern mit ihrer ganzen Persönlichkeit zur Verfügung stehen, mit ihren Überzeugungen und ihren Lebensfundamenten. Dazu gehört letztlich immer wieder dieses eine: Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Und das umso mehr und umso dringlicher, je weniger heutige Familien in der Lage sind, sich dieser Existenzaufgabe junger Menschen zu stellen.
3. Die Rolle der Medien und ihr dramatischer Einfluss in unserer Gesellschaft
Neben der Familie, der Schule und den Bildungsinstitutionen gehört schließlich eine dritte entscheidende Komponente zu den wesentlichen geistigen Prägekräften moderner Gesellschaften. Es sind die Medien, die all die Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft konstituieren, welche unser Leben vielfach regulieren und beeinflussen, die vielbeschworene „vierte Gewalt“ im Staat. Wir alle leben ohne Frage immer in dieser publizistischen Beziehung zur öffentlichen Macht der Medien. Sie bestimmt und beeinflusst ganz unweigerlich einen bedeutenden Teil unserer Lebensmöglichkeiten, vor allem der jungen Online-Generation. Hier spielt und gestaltet sich zudem ein entscheidender Teil der Wertedebatte! Die sozialen und kulturellen Wirkungen dieser medialen Kommunikation, sowohl in der Geschwindigkeit wie auch in der Menge der Datenströme als dramatisch zu bezeichnen, scheint in keiner Weise untertrieben.
Junge Menschen brauchen in dieser Situation Orientierung und Halt. Das ist einhellig und klar. Wo sie es nicht bekommen, entsteht geistige Not, da gerät unsere Gesellschaft in dramatische Schieflagen! Gerade in diesen Tagen, da sich der berühmt-berüchtigte Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt wieder jährt, wird uns so deutlich wie selten bewusst, wie wichtig tragende Wertmaßstäbe für ein gelingendes Leben und für gesellschaftlichen Frieden sind.
Es ist der Chefredakteur der „Augsburger Allgemei­nen“ Walter Roller, der diese Frage auf den Punkt bringt. In seinem Leitartikel unmittelbar nach der Katastrophe von Erfurt nennt er drei entscheidende Forderungen. Alles konzentriert sich in der bitteren Notwendigkeit geistiger Orientierung und Werteerziehung:
„Erstens: Es gibt ein Defizit an Erziehung. Viele Jugendliche sind mit sich und ihren Sorgen allein. Der Staat kann nicht wettmachen was Eltern versäumen. Jugendliche brauchen Orientierung und Halt.
Zweitens: Eine Gesellschaft, in der jeder seinen Vorteil sucht und zunehmend für sich lebt, büßt Ihre sozialen Bindungskräfte ein. Man sieht gerne weg. Gefährdete Jugendlich driften ab, weil sich niemand – auch die Schule nicht – hinreichend um sie kümmert.
Drittens: Gefestigten Menschen mag der Dauerkonsum von gewaltverherrlichenden TV- und Kinofilmen, Videos und Computer­spielen vielleicht nichts anhaben. Bei labilen, zu Nachahmung neigenden Jugend­lichen können diese Gewaltorgien ungeheure Aggressionen und Allmachts-Phantasien auslösen. Hier muss eingegriffen werden.“
Ohne Frage ist durch die Breitenwirkung des Einflusses neuer Medien der Schule eine Parallelwelt von Tönen und Bildern erwachsen, die vor allem Wirklichkeits- und Wertvorstellungen der Schüler und Schülerinnen in ungeheurem Maß bestimmt. Die Frage zum Beispiel, welche Wirkung das alles in der Seele und im Leben der jungen Menschen hinterlässt, ist sicher noch nicht zu Ende diskutiert. Zweifellos wird mit der Multiplikation der Bilder und Töne auch die gesellschaftliche Verantwortung der gesellschaftlichen Führungsinstitutionen für die Folgen multipliziert!
Eine Provokation am Schluss
Es ist kein anderer als ausgerechnet der so schillernde PDS-Politiker und Ex-Wirtschaftssenator in Berlin Gregor Gysi. Er sagt in einem Interview mit dem „Berliner Tagesspiegel“ zum Thema „Gottlose Gesellschaft“:
„Ich fürchte eine gottlose Gesellschaft, obwohl ich nicht religiös bin. Eine gottlose Gesellschaft wäre heute eine wertlose Gesellschaft. Und das ist ein wirkliches Risiko. In unserer Gesellschaft stehen alle Werte, von denen wir meinen, dass sie außerhalb bestimmter religiös verankerter Werte liegen, auf sehr, sehr tönernen Füßen.“