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Wichtiges
Ansprache von von Weihbischof Dr. Dr. Anton Losinger am Familiensonntag 2021 im Hohen Dom zu Augsburg

Krise der Familie – Krise der Gesellschaft?

26.12.2021

»Wenn jemand mich fragt, wer ich bin, nenne ich ihm nicht nur einen Vor-, sondern auch einen Familiennamen. In unserem persönlichen Namen sind unsere Verwandten im Grunde mitgenannt. Hier zeigt sich, wie wir mit ihnen verflochten sind. Menschsein heißt: von anderen her sein!

Zwei Menschen, zwei Familien dahinter, zwei Ströme der Menschheit kamen zusammen, und dann, im gegebenen Augenblick... war ich da! Wirklich im ,,gegebenen“ Augenblick!«

Der das sagt, ist weder Pfarrer, noch Dichter, noch Philosoph. Es ist ein „nüchterner“ Naturwissenschaftler, der Biologe und Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeld, der die Familie in solch hohen Tönen lobt. In dieser Wertschätzung kommen persönliche Lebenserfahrung und das Ergebnis lebenslanger wissenschaftlicher Verhaltensforschung zusammen.

 Die Familie als Fundament menschlicher Entwicklung

Die Familie ist nicht nur Baustein, sie ist der wesentliche Ort und das Fundament menschlicher Entwicklung. Von Anfang an ist es das Wunder der Weitergabe des Lebens, das in der Familie geschieht. Dabei ist es mehr als nur Genmaterial, was vom Vater und von der Mutter auf die Kinder übergeht. Die fundamentale Bedeutung, die der Familie für das Leben und die Persönlichkeitsentfaltung eines jungen Menschen zukommt, besteht im „miteinander Leben“. Es ist Erziehung und Sozialisierung im umfassenden Sinn. Sie reicht von der liebevollen Zuwendung, Zärtlichkeit und Geborgenheit, die das Baby erfährt, bis hin zur Ausbildung und zum sozialen Lernen, das in der Erziehung, natürlich auch in der Auseinander­setzung mit den Eltern und Geschwistern stattfindet.

Wie wesentlich solche soziale Zuwendung bereits von klein auf für das Werden der Person ist, bestätigt die Verhaltensforschung immer wieder. Schon die Zuwendung der ersten Lebensmonate legt den Grund für das sogenannte „Urvertrauen“, das die Grundlage für spätere Beziehungs­fähigkeit oder -unfähigkeit bildet. Und wie schmerzlich muss es berühren, wenn solche Erziehung misslingt oder überhaupt nicht stattfindet! Vor allem die Elternaufgaben sind ja heute, an der Grenze zur Postmoderne, unüber­schaubar schwierig geworden. Was Alexander Mitscherlich in den 70er Jahren als den „Weg in die vaterlose Gesellschaft“ beobachtete, scheint sich unter den heutigen, gewandelten Rollenbedingungen unserer Gesellschaft zu einem flächendeckenden Problem auszuweiten: Das Fehlen von Eltern, die erziehen sollten, die fehlende Bereitschaft zur Werte-Auseinandersetzung mit jungen Menschen, schließlich vielleicht sogar fehlender „Mut zur Erziehung“.

Gerade für die Situation der Kirche und die Zukunft des Glaubens in unserer Gesellschaft hat dieser Zusammenhang unermessliche Bedeutung: Schließlich ist die Familie nicht weniger als die erste und elementare religiöse Sozialisationsinstanz. Wenn sie ihre primäre Aufgabe nicht leistet, predigt der Pfarrer später mit reduziertem Erfolg, kann auch der beste Religionsunterricht in der Schule die Defizite kaum mehr wettmachen. Der Ausfall und die Defizite der religiösen Bildung in der Familie wird keineswegs unterschätzt, wenn man sagt: Wenn die Familie ausfällt, fehlt das Herzstück menschlicher Sozialisation!

 

Krisenerscheinungen und Probleme der Familien heute

Doch kommen wir nun zu den Krisenerscheinungen und Problemen, denen die Familien heute in unserem Land konfrontiert sind. Aus dem Bündel der bekannten Problemlagen will ich nur zwei Punkte herausgreifen:

 

1. Partnerschaftskrisen – Ehescheidungen

Zu den einschneidendsten Krisenphänomenen der modernen Familien­situation gehören ohne Zweifel Partnerschaftskrisen und Ehescheidungen. Statistisch gesehen wird in Mitteleuropa jede dritte Ehe, oft schon nach kurzer Zeit geschieden. Die Konsequenzen dieser Situation liegen auf der Hand und sind bereits häufig analysiert und beschrieben. Neben den persönlichen Wirkungen für die Befindlichkeit geschiedenen Ehepartner weise ich vor allem auf die Folgen für die Lebensperspektiven der Kinder hin: Bei allen sozialen Abfederungsmaßnahmen, die heute - Gott sei Dank – für alleinerziehende Eltern im Rahmen unseres sozialen Sicherungs­systems existieren, bleibt für mich die Sorge um die psychologische Lücke im Leben und Denken eines Kindes, die das Fehlen eines Vaters oder einer Mutter hinterlässt. Das ist eine Sorge, die Kirche und Staat verbindet!

2. Ökonomische Probleme

Eine zweite Problemlage moderner Familien liegt im wirtschaftlichen Bereich. Die Caritas zum Beispiel weist anlässlich der diesjährigen Frühjahrssammlung erneut auf das Armutsrisiko „Familie“ hin. Was man als „relative Armut“ bezeichnet, die Tatsache, dass in einem Land wie der Bundesrepublik eine zunehmende Zahl von Menschen mit weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Netto­verdienstes auskommen muss, betrifft mehr und mehr Familien. So bitter es klingt, neben den bekannten Standardauslösern für Armut, nämlich Arbeitslosigkeit, Behinderung, Krankheit oder geringe Rente, sind Familien mit mehr als drei Kindern in Deutschland mittlerweile zu einem ernstzunehmenden Armutsrisiko geworden. Dabei ist jedem klar: Es sind die Kinder, die in unseren Familien groß werden, die die Zukunft unserer Gesellschaft, auch des sozialen Sicherungssystems sichern. Nicht die Rentenbeiträge, sondern die künftige lebende Kindergeneration ist die Sicherung des Alters!

 

Weihnachten und der Familiensonntag am Stephanstag

 Der Focus auf das neugeborene Kind in der Krippe weltweit, in allen Farben und Formen aller Kulturen dieser Erde, das bedeutet auch – neue Verantwortung für eine neue Zukunft für alle Kinder und alle Familien dieser Erde. Darum am Ende noch einmal der Naturwissenschaftler vom Anfang: Irenäus Eibl- Eibesfeldt,

»Die Familie gewährt dem Menschen jene Liebe und Sicherheit, in der das Urvertrauen zu Mitmenschen wächst. Und dieses Vertrauen ist die Voraussetzung für seine freie Entfaltung. Zwar kann die Erziehung in der Familie auch autoritär verbilden, doch ist das keineswegs ein notwendiges Resultat jeder familiären Erziehung. Nur in der Familie werden die positiven sozialen Anlagen des Menschen geweckt und damit die Fähigkeit zu sozialer Verantwortlichkeit und Identifikation. Wer keine Familien-bindung entwickelte, kann später auch keine Liebe zur Gesellschaft ent-wickeln. Wer jedoch Eltern und Geschwister lieben lernte, kann später auch ein Kollektiv lieben. Nur er ist fähig, in Mitmenschen Brüder zu sehen. Auf Liebe und Vertrauen basiert die menschliche Gesellschaft, beides wird über die Familie entwickelt!« (107)

 

Irenäus Eibl- Eibesfeldt, Liebe und Hass. München:Pieper 1970, S. 268