Nächstenliebe muss konkret werden
Wer in diesen Tagen nach Italien fährt und die herrliche Kultur dieses Landes zu sehen bekommt, darf eines unter keinen Umständen auslassen: In Ravenna, der kunstsinnigen italienischen Stadt mit den weltberühmten Mosaiken kann man eine seltene Entdeckung machen. In der Kirche St. Appollinare nuovo sind die Heiligen dargestellt, wie sie in weiße Gewänder gehüllt im Kreis um Christus stehen, mit einer Ausnahme: Der heilige Diakon Laurentius, er trägt als einziger ein goldenes Gewandt. Der Grund ist schnell erklärt. Es ist der Lohn für seinen Dienst in der Sorge für die Armen.
Die Legende erzählt, wie der Diakon eines Tages verhaftet und vom Kaiser aufgefordert wird, alle Schätze der Kirche einzusammeln und binnen eines Tages in den Vorhof des Palastes zu bringen. Laurentius antwortet, dass diese Aufgabe unmöglich in einem Tag zu erledigen sei, das erfordere mindestens drei. Der Kaiser ist neugierig geworden über den unerwarteten Reichtum der Kirche. Gespannt betritt er am dritten Tag den Hof des Palastes. Was er sieht: Er ist er voller Kranker, Lahmer, Krüppel, Blinder und Behinderter. „Das, mein Kaiser“ sagt der Diakon Laurentius, „das sind die Schätze der Kirche!“
Sämtliche der Maiandachten dieses Jahres in der Augsburger Marienkathedrale stehen unter einem Thema. Es ist die erste Enzyklika unseres Papstes Benedikt XVI. „DEUS CARITAS EST“ – „Gott ist die Liebe“ so lautet der Titel. Heute geht es um einen der wesentlichsten Aspekte der Liebe: Es ist die konkrete Umsetzung in unserem Leben. Es ist nichts anderes als die Herausforderung des Hauptgebotes der Bibel an jeden Christen: Nächstenliebe muss konkret werden - im Leben des Einzelnen und in der Kirche
Welch eine große Perspektive für unser Leben, die uns hier geschenkt ist. Von Gott auf unsterbliche, unsagbare Weise geliebt und ins Herz geschlossen zu sein – das ist der Boden auf dem wir stehen, das ist das Fundament unserer Existenz. Caritas – Liebe, das ist der Anfang und der Grund allen Christentums!
Maria, die Gottesmutter, ihr Leben und ihr Dienst ist dafür das erste und das beste Beispiel. Ihre ganze Existenz ist vom ersten Augenblick des Daseins an hingeordnet auf den liebenden Gott. Das JA zur Botschaft des Engels, das Aushalten aller Unbegreiflichkeiten im Leben ihres Sohnes, das liebende Mitgehen aller seiner Wege in der Nachfolge bis hin zum Stehen unter dem Kreuz – das alles ist nur in der Liebe zu erklären und zu verstehen.
Dabei steht Maria den liebesbedürftigen Menschen aller Generationen so nahe, weil die Menschen immer schon das Gefühl hatten: Sie versteht uns, sie kennt uns auch in unseren Schwierigkeiten und Nöten. Sie ist ja eine Mutter, die mit lebendem, mütterlichem Blick auf uns wie auf ihre Kinder schaut.
In meinen Augen gibt es kein Marienlied, das diese Dimension schöner und eindringlicher auf den Punkt bringt als das bekannte „Maria die lieben“ – im Gotteslob Nr. 594. Hier ist es vor allem die dritte Strophe, die uns aus dem Herzen spricht:
Du Frau aus dem Volke, von Gott ausersehn /
dem Heiland auf Erden zur Seite zu stehn /
kennst Arbeit und Sorge ums tägliche Brot /
die Mühsal des Lebens in Armut und Not.
Papst Benedikt hat sich das zentralste und wichtigste aller zentralen Themen der Theologie und des Glaubens der Christenheit gewählt: Gott ist „Caritas“ – Gott ist Liebe. Vieles ist in Jahrhunderten der Geschichte der Theologie über Gott gesagt, gedacht, geschrieben worden. Millionen von Bänden füllen die theologischen Bibliotheken. Tausend Spekulationen über Gott und seine Eigenschaften kann man studieren. Doch all das verschwindet gegenüber diesem einen Wort: Gott ist Liebe! So beginnt der Papst seine Enzyklika:
1. „DEUS CARITAS EST“ – „Gott ist die Liebe“
„Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm“ (1 Joh 4,16). In diesen Worten aus dem Ersten Johannesbrief ist die Mitte des christlichen Glaubens, das christliche Gottesbild und auch das daraus folgende Bild des Menschen und seines Weges in einzigartiger Klarheit ausgesprochen. Außerdem gibt uns Johannes in demselben Vers auch sozusagen eine Formel der christlichen Existenz: ,,Wir haben die Liebe erkannt, die Gott zu uns hat, und ihr geglaubt“ (vgl. 4,16).
Wir haben der Liebe geglaubt: So kann der Christ den Grundentscheid seines Lebens ausdrücken. Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt. In seinem Evangelium hatte Johannes dieses Ereignis mit den folgenden Worten ausgedrückt: ,,So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt ... das ewige Leben hat“ (3,16). Mit der Zentralität der Liebe hat der christliche Glaube aufgenommen, was innere Mitte von Israels Glauben war, und dieser Mitte zugleich eine neue Tiefe und Weite gegeben.“ – soweit Papst Benedikt.
Der heilige Augustinus - jener große Kirchenvater, der in unseren bayerischen Barockkirchen immer mit dem Symbol des brennenden Herzens dargestellt wird – er bringt den Unterschied zu allem anderen auf den Punkt:
„Die Liebe – sagt er – ist das einzige, was die Kinder Gottes von den Kindern des Teufels unterscheidet. Hörst Du: Das einzige. Wer die Liebe hat, ist aus Gott geboren; wer sie nicht hat, ist nicht aus Gott geboren. Das ist das große Zeichen, der große Unterschied.“
Damit ist die logische Konsequenz für das praktische Leben der Christen klar. Augustinus schreibt einmal den lateinischen Satz „Ama et fac quod vis!“ – „Liebe, und dann tu, was du willst!“ Denn wer liebt, kann im Grunde nichts mehr falsch machen. Der Liebende trägt die entscheidende Haltung, das wesentliche Motiv des richtigen Tuns im Herzen. Er ist allen gesetzlichen Bestimmungen meilenweit voraus.
Papst Benedikt bringt das in seinem ersten Weltrundschreiben – wie das Wort Enzyklika übersetzt heißt – in eine ganz aktuelle politische Dimension:
„In einer Welt, in der mit dem Namen Gottes bisweilen die Rache oder gar die Pflicht zu Hass und Gewalt verbunden wird, ist dies eine Botschaft von hoher Aktualität und von ganz praktischer Bedeutung. Deswegen möchte ich in meiner ersten Enzyklika von der Liebe sprechen, mit der Gott uns beschenkt und die von uns weitergegeben werden soll.“
2. Gottesliebe und Weltverantwortung
Die Würde jedes Menschen – als Ebenbild Gottes – ist für uns Christen das entscheidende Kriterium. Sie ist eine stetige Erinnerung an das wesentlichste Ziel unserer Sendung: Die Verwirklichung der Gottes und Nächstenliebe! „Du sollst den Herrn Deinen Gott lieben mit ganzem Herzen und ganzer Kraft und Deinen Nächsten wie dich selbst!“ – dies ist das Hauptgebot des Neuen Testamentes. Jesus stellt es in den Mittelpunkt unserer Lebensaufgaben. Christentum ist Caritas! Die Qualität der Nachfolge Jesu entscheidet sich immer an diesem Kriterium: Wie wichtig ist uns der Nächste? Und umgekehrt waren es immer die schlechtesten Jahrhunderte in der Geschichte der Kirche und der Christenheit, wenn Christen ihre Weltverantwortung nicht erkannten oder sie links liegen ließen.
Dies zeigt eine interessante und wichtige biblische Entdeckung: An der Stelle, wo in den ältesten Evangelien der Bibel nach Matthäus, Markus und Lukas die Berichte vom letzten Abendmahl Jesu stehen, da findet sich im Johannesevangelium die Schilderung von der Fußwaschung Jesu. Es gibt keine Eucharistie ohne Caritas, ohne dienende Liebe – das ist die Botschaft! Das hat eine tiefe Bedeutung für die zentrale Perspektive des Christentums: Eucharistie, das wichtigste Sakrament der Kirche und tätige Nächstenliebe gehören unmittelbar zusammen! Eine Trennung vom Glauben, den man glaubt und vom Leben, das man lebt, gibt es nicht!
Da denke ich an Vinzenz von Paul, den Gründer der Barmherzigen Schwestern, die auch in unseren bayerischen Krankenhäusern wertvollen Dienst tun. Immer wieder kamen damals Bettler und Kranke, die während der Frühmesse an die Pforte der Schwestern klopften und Hilfe suchten. Die Frage quälte die Schwestern sehr: Darf man die heilige Messe verlassen um im Notfall zu helfen? Die Antwort des Heiligen lautet: Es ist erlaubt! „Ihr dürft, denn wisset Schwestern, Ihr geht ja von Jesus weg zu Jesus hin!“
Die Trennung von Glaube und Caritas, den programmierten Rückzug der Kirche aus der gesellschaftlichen Verantwortung heraus, kann und darf es niemals geben. Im Gegenteil: Es gibt kein Christentum ohne Caritas, sozusagen im luftleeren Raum! Geglaubter Glaube und gelebtes Leben gehören zusammen. Das Gebot der Liebe bedingt immer zugleich soziale Verantwortung!
Diese Dialektik benennt gerade das Zweite Vatikanische Konzil in aller Deutlichkeit: In der berühmten Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ Über die Kirche in der Welt von heute betonen die Konzilsväter vor genau 40 Jahren:
„Die Wahrheit verfehlen die Christen, die im Bewusstsein, hier keine bleibende Stätte zu haben, sondern die künftige zu suchen, meinen, sie könnten ihre irdischen Pflichten vernachlässigen. Sie verkennen, dass sie, jeder nach der zuteil gewordenen Berufung, gerade durch den Glauben umso mehr aufgerufen sind, ihre Pflicht zu erfüllen. …
Die Spaltung zwischen dem Glauben, den man bekennt, und dem täglichen Leben gehört zu den schweren Verirrungen unserer Zeit. Ein Christ, der seine irdischen Pflichten vernachlässigt, versäumt damit seine Pflichten gegenüber dem Nächsten, ja gegen Gott selbst und bringt sein ewiges Heil in Gefahr.“ (Gaudium et spes, 43)
An diesem Punkt zeigt sich in aller Deutlichkeit, wie sehr Spiritualität und Weltverantwortung zusammengehören. Das Soziale und das Transzendente schließen sich nicht aus. Im Gegenteil: Nur ein Mensch, der ein Ziel, eine Perspektive, eine Vision für sein Leben hat, wird fähig sein und die Kraft haben, seine irdischen Herausforderungen, den Alltag und auch Grenzsituationen seines Lebens zu bestehen.
3. „Wer nicht Gott gibt, gibt zu wenig!“
In seiner aktuellen Fastenbotschaft für das Jahr 2006 spricht unser Papst Benedikt XVI. über Fragen der Entwicklung. Er bringt in meinen Augen, was der Kern der Botschaft Jesu ist, auf den Punkt. Der Zielpunkt seiner Botschaft lautet: „Wer nicht Gott gibt, gibt zu wenig!“
Hier die Kernsätze des Textes:
„Der erste Beitrag der Kirche zur Entwicklung des Menschen und der Völker [ist] nicht die Bereitstellung materieller Mittel oder technischer Lösungen, sondern die Verkündigung der Wahrheit Christi, welche die Gewissen erzieht und … zudem eine Kultur fördert, die auf alle echten Fragen der Menschen antwortet. …Auch in der heutigen Zeit globaler gegenseitiger Abhängigkeiten kann man feststellen, dass die Hingabe seiner selbst an den anderen, in der sich die Liebe ausdrückt, durch kein ökonomisches, soziales oder politisches Projekt ersetzt werden kann. Wer nach dieser Logik des Evangeliums tätig ist, lebt den Glauben als Freundschaft mit dem menschgewordenen Gott und nimmt sich der materiellen und geistigen Nöte des Nächsten an. Er weiß, wer nicht Gott gibt, gibt zu wenig.“
Amen.
Ein Text zum Nachdenken
Berufung und Leben
von Edith Stein
Der Mensch ist dazu berufen,
in seinem Innersten zu leben
und sich selbst so in die Hand zu nehmen,
wie es nur von hier aus möglich ist;
nur von hier aus
ist auch die rechte Auseinandersetzung
mit der Welt möglich;
nur von hier aus kann er den Platz in der Welt finden,
der ihm zugedacht ist.
In der Zeit unmittelbar vor
und noch eine ganze Zeit nach meiner Konversion
habe ich gemeint,
ein religiöses Leben führen heiße
alles irdische aufgeben
und nur in Gedanken an göttliche Dinge leben.
Allmählich habe ich aber einsehen gelernt,
dass in dieser Welt anders von uns verlangt wird
und dass selbst im beschaulichsten Leben
die Verbindung mit der Welt
nicht durchgeschnitten werden darf;
Ich glaube sogar,
je tiefer jemand in Gott hineingezogen wird,
desto mehr muss er auch in diesem Sinne
„aus sich herausgehen“,
das heißt in die Welt hinein,
um das göttliche Leben in sie hineinzutragen.