Was heißt unantastbar?
Die Entscheidung des Deutschen Bundestages zu PID ist gefallen. Mit deutlicher Mehrheit wurde das weitreichende Modell zur Legitimierung der Präimplantationsdiagnostik gebilligt, das die künstliche Herstellung von menschlichen Embryonen in Vitro (IVF) akzeptiert und im Falle der Entdeckung genetischer Auffälligkeiten nach Präimplantationsdiagnistik (PID) deren Verwerfung, also Tötung, legitimiert.
Die Entscheidung berührt die Kernfrage nach dem Wert des Lebens Anton Losinger
Ist das nun ein Dammbruch? Nein! Es ist eine permanente Erosion, ein stetig steigender Wasserspiegel, der das Lebensrecht in unserem Land in seiner Substanz unterspült. Alois Glück nennt dies „einen Bruch mit einem bewährten gesellschaftlichen Konsens“ und spricht aus langer Erfahrung von „einer dramatischen Diskriminierung besonders des behinderten menschlichen Lebens“. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt mahnt: „Es geht um das Ganze der Gesellschaft!“ Und der selige Papst Johannes Paul II. warnte vor einer Zerstörung der „Kultur des Lebens.“ Die Lebensschützer „haben gekämpft wie Löwen“, so eine kirchliche Wochenzeitung. Aber leider, so möchte man ergänzen, sind sie „als Bettvorleger gelandet“. Was nun?
„Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potenziellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“ So stellte das Bundesverfassungsgericht in der Debatte um das Abtreibungsrecht fest. Alle Erkenntnisse der Medizin sprechen dafür, im menschlichen Embryo einen embryonalen Menschen im Anfangsstadium seiner Existenz zu sehen. Das gilt auch für den Embryo in vitro. Der Embryo entwickelt sich als Mensch, nicht erst zum Menschen!
So liegt die Würde des Menschseins und das Lebensrecht auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen. Es verbietet sich „jegliche Differenzierung der Schutzverpflichtung mit Blick auf Alter und Entwicklungsstand dieses Lebens“. Hier ist mit der PID-Entscheidung des Bundestages ein Paradigmenwechsel geschehen: Bisher standen sich – im Abtreibungsrecht – als moralische Abwägungsgüter allenfalls Leben und Gesundheit der Mutter und das Lebensrecht des Kindes gegenüber. Nun aber ist eine bestimmte genetische Disposition ausreichend für die Tötung menschlichen Lebens. Wo sind die Grenzen? Was geschieht am anderen Ende des Lebensbogens? Eugenik? Aktive Sterbehilfe? Euthanasie?
Der Deutsche Ethikrat hatte im Vorfeld nach intensiver Beschäftigung mit dem Thema sieben Gründe benannt, warum PID ethisch nicht gerechtfertigt ist und verboten werden sollte: Weil erstens der in vitro gezeugte Embryo einer besonderen Verantwortung unterliegt, die es verbietet, ihn gezielt zu erzeugen, um ihn im Falle unerwünschter Eigenschaften zu verwerfen. Durch die Erzeugung von Embryonen ist Elternverantwortung entstanden. Es gibt – bei allem Verständnis für Behinderung, Leid und Kinderlosigkeit in einer Familie – keine rechtlich ungebundene, freie Entscheidung der Mutter. Elterliche Verantwortung besteht immer darin, ein Kind in seiner jeweiligen Eigenart anzuerkennen und anzunehmen.
Zweitens, weil der selektive Blick auf die durch gezieltes menschliches Handeln erzeugten Embryonen und die Bereitschaft zu ihrer Verwerfung die PID grundlegend von der Situation des Schwangerschaftsabbruchs aufgrund medizinischer Indikation nach einer Pränataldiagnostik unterscheidet.
Drittens, weil mit der PID eine embryopathische Indikation wieder eingeführt würde, also die Erlaubnis, menschliches Leben aufgrund unerwünschter Eigenschaften zu verwerfen, die aus der Schwangerschaftskonfliktregelung ausdrücklich gestrichen wurde. Welches Menschenbild von Menschen mit Behinderung wird generiert, wenn unerwünschte genetische Disposition ein hinreichender Grund zur Verwerfung ihres Lebens wird?
Viertens, weil gravierende Folgen für den Embryonenschutz absehbar sind, insbesondere indem eine hohe Anzahl von „überzähligen“ Embryonen entstehen würde, von denen niemand weiß, wie mit ihnen umzugehen wäre.
Fünftens, weil eine Begrenzung auf wenige Fallgruppen oder schwere Erkrankungen nicht einzuhalten ist, vielmehr eine Ausweitung der Indikationen und Anlässe für die Anwendung der PID absehbar ist, wie in anderen Staaten bereits geschehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel tritt für das strikte PID-Verbot ein. Es sei eine Illusion, dass eine Eingrenzung auf Einzelfälle in der Wissenschaft je realistisch durchzuhalten gewesen wäre.
Sechstens, weil die technische Entwicklung chipgestützter Diagnosetechniken einen ausgeweiteten Einsatz der PID für die gleichzeitige Diagnostik einer Vielzahl von genetischen Determinanten, Abweichungen oder Veranlagungen in absehbarer Zeit wahrscheinlich macht. Allein die Praxis des „family balancing“ – die gezielte genetische Geschlechterwahl – führt in manchen Kulturkreisen zu einem skandalösen Überlebensrisiko für Mädchen. Siebtens schließlich, weil sich der Druck auf genetisch belastete Eltern, die sich keiner PID unterziehen wollen, und auf Menschen mit Behinderung, insbesondere mit genetisch bedingten Behinderungen, erhöht.
Wenn nach dem Gesetzesentwurf künftig Ethikkommissionen der Krankenhäuser und Kliniken beraten, welche vererbbaren Krankheiten für eine Verwerfung menschlicher Embryonen hinreichen, wird sich dann eine Liste von Krankheiten herausbilden, deren Träger a priori nicht leben dürfen? Was heißt das für die Alten und Kranken allgemein? Wird man demnächst über 90-jährige Greise in Pflegeheimen entscheiden?
Die Entscheidung zur Zulassung der PID berührt die Kernfrage nach dem Wert des Lebens eines Embryos und nach seinem Schutz. So stellt sich für manchen Bürger, insbesondere für den Juristen, die Frage der Konformität mit unserer Verfassung und den Grundrechten. „Eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts hätte zum Ziel, den verfassungsrechtlichen Rang des Lebensschutzes am Beginn menschlichen Lebens zu klären“, sagt Herbert Veh, Präsident des Landgerichts in Augsburg. Es ist des gründlichen Nachdenkens wert, ob dieser Gang nach Karlsruhe nicht die letzte Möglichkeit ist, Klarheit zu schaffen über die Bedeutung und Reichweite des Lebensrechtes in unserer Rechtsordnung, um dem Fortgang der Erosion der Grenzen des Lebensschutzes entgegenzutreten.
Anton Losinger ist Weihbischof und Dompropst im Bistum Augsburg.
Ausgabe: Jahrgang 62, Nr. 30, 30. Juli 2011