„Wissenschaft und Frömmigkeit paaren sich“
Liebe Dozierende und Angestellte der Universität, liebe Studierende und Angehörige der KHG, liebe Schwestern und Brüder, können Sie sich noch erinnern, worüber ich letztes Jahr hier gepredigt habe? - Es ging über die Frage des Pilatus, die auch zur Lebensfrage des hl. Thomas geworden ist: Was ist Wahrheit?
Liebe Dozierende und Angestellte der Universität,
liebe Studierende und Angehörige der KHG,
liebe Schwestern und Brüder,
können Sie sich noch erinnern, worüber ich letztes Jahr hier gepredigt habe? - Es ging über die Frage des Pilatus, die auch zur Lebensfrage des hl. Thomas geworden ist: Was ist Wahrheit? Weil ich dabei auch ganz allgemein auf Falschmeldungen einging, die uns über die Medien, vor allem die sog. social Media erreichen, wurde mir in einer renommierten katholischen Zeitschrift, deren Leser ich selbst seit Jahrzehnten bin, recht harsch empfohlen, nicht allgemein zu „wettern“, sondern mich mit meinen Anliegen gleich an den Deutschen Presserat zu wenden. Anscheinend wecken Aktualisierungen zum Thema: Was ist Wahrheit, aber auch: Wo ist Wahrheit zu finden, Empfindlichkeiten sogar bei Journalisten, die sich der Wahrheit des Evangeliums verpflichtet wissen. Grundsätzlich ist eine erhöhte Sensibilität dafür sicher wichtig. Denn wie sagte ich vor einem Jahr: „Wahrheit und Vertrauen sind eineiige Zwillinge.“ Wer einmal das Vertrauen seines Gegenübers verspielt hat, gewinnt es nicht so schnell wieder. Derartige Töne hören wir seit einigen Monaten ja auch in der Politik, gerade von jenen Volksvertretern, die sich des Dienstcharakters ihres Amtes voll bewusst sind, zuletzt in der Abschiedsrede der Bundeskanzlerin Anfang Dezember.
Gerade haben wir es wieder im Evangelium gehört: „Der Größte unter euch soll euer Diener sein“ (Mt 23,11). Ein Wunsch Jesu, den wir seit 2000 Jahren hören – und vergessen! Denn „die Welt“ und auch die Kirche funktionieren anders. Selbst das junge Christentum, das der Völkerapostel Paulus nach seinem Bekehrungserlebnis – heute feiert die Kirche seine persönliche Kehrtwende – auf die umstürzende Macht der Nachfolge Christi einschwor, hielt es nicht lange aus ohne Rangordnung, ohne Honoratioren und Ämterhierarchie.
Wir Menschen scheinen uns nur dann wohlzufühlen, wenn klar ist, „wer hier das Sagen hat“! Dennoch: Diese offensichtliche Diskrepanz zum Evangelium muss für uns Christen ein Stachel im Fleisch bleiben, weil wir uns nur so als Einzelne und als weltkirchliche Gemeinschaft dem annähern können, was Geschwisterlichkeit und Dienst im Sinne Jesu bedeuten.
Thomas von Aquin, als Grafensohn bestimmt zum Nachfolger seines Onkels, des Benediktinerabtes auf dem Monte Cassino, trat gegen den Willen seiner Familie bei den Dominikanern ein – in einen der beiden jungen Bettelorden, wo die Gründer Franziskus und Dominikus die hierarchische Gliederung der Benediktiner bewusst nicht übernommen hatten. Der hochbegabte Thomas wollte lehren, aber nicht als Lehrer beweihräuchert werden. Damals galt ein „Lesemeister“, wie man den Dozenten auf Deutsch nannte - man denke an Meister Eckhart -, erst dann als Autorität im Vollsinn, wenn er vor seinem Auditorium auch als „Lebensmeister“ bewährte. Lehrende und Lernende betrachteten sich vor allem als Lerngemeinschaft. Alle sahen sich als Schüler, Scholaren (vgl. Scholastik), die gewissermaßen wie Maria, die Schwester der Martha, zu Füßen des Herrn saßen. Dieses Selbstverständnis wurde unterstützt durch den methodischen Rückgriff auf die dialogische Form des Disputes, den die Griechen gepflegt hatten, allen voran Sokrates mit seiner Maieutik, der ‚Hebammenkunst‘: Studium als Hebammendienst an der Wahrheit.
Gelehrt wurden vor allem Demut, Disziplin und Dankbarkeit, die drei wesentlichen Haltungen des Menschen gegenüber seinem Schöpfer. Um dem nachzuspüren, empfehle ich Ihnen, sich einmal den Fronleichnamshymnus des hl. Thomas vorzunehmen, Pange lingua gloriosi corporis mysterium – gerne auch im lateinischen Original. Darin verschwistern sich wie in einem Brennglas intellektuelle und poetische Fähigkeit des Aquinaten mit seiner Frömmigkeit, die ja - das sollten wir nicht vergessen - auch eine der sieben Gaben des Hl. Geistes ist. Intellekt und Glaube, wissenschaftlicher Spürsinn und Anbetung des göttlichen Mysteriums der Menschwerdung und der Eucharistie schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander. Wissenschaft und Frömmigkeit paaren sich. Na klar, das wissen wir längst, das wird ja auch gebetsmühlenartig wiederholt, werden Sie denken. Doch wird es auch gelebt, frage ich Sie?
Gestatten Sie mir ein offenes Wort: Ich beobachte eher das Gegenteil: dass gerade unter den jungen Christen beides relativ unverbunden nebeneinander steht. Einerseits wird Frömmigkeit großgeschrieben, bravo! Man pflegt Anbetung und Lobpreis, nichts dagegen: das ist absolut zu unterstützen! Doch wenn ich mit jungen Erwachsenen in den Pfarreien, ja selbst im Priesterseminar und mit künftigen hauptberuflichen MitarbeiterInnen rede, bin ich nicht selten erschrocken, welch geringen Stellenwert das Wissen um den Glauben und dessen konkrete Umsetzung im Alltag hat. Zudem erlebe ich, dass unter den drei Grundvollzügen der Kirche die Liturgie nicht nur den höchsten Rang einnimmt, sondern dabei die gewachsene Vielfalt der Gottesdienstformen wenig geschätzt und praktiziert wird. Nebenschauplätze werden Hauptsachen und Katholiken ereifern sich z.B. auf Facebook über die vorgeblich falsche Farbe des bischöflichen Gewandes bei einer Altarweihe im Advent.
Verstehen Sie mich recht! Mir ist seit frühester Jugend bewusst: die Eucharistie ist „Quelle und Höhepunkt unseres Lebens“ (LG 11). Doch hat sich, so scheint mir, der Fokus verschoben, wenn die Zahl der Eucharistiefeier und die Art des Kommunionempfangs (Mund oder Hand) zu Kampfthemen gemacht werden; oder die Anbetung, die aus der Eucharistie erwächst (daher lautet der vollständige Name: Eucharistische Anbetung), von dieser losgelöst wird. Adoratio basiert auf Celebratio. Wir beten nicht das Allerheiligste an, sondern den Allerheiligsten, dessen täglich Brot das Dienen war, der selbst gekommen ist, nicht um bedient zu werden, sondern zu dienen (vgl. Mk 10,45)!
Nicht erst jetzt als Bischof stelle ich mir die Frage: Was kann ich tun, dass die spürbare Kluft zwischen den teils exklusiven Gruppierungen in unserer Kirche überbrückt wird? Was kann ich tun, dass in unserem gelebten Glauben Verstand und Herz, Einsicht und Empathie, ja: Gottes- und Nächstenliebe zusammenwirken - und zwar unabhängig von der formalen Intelligenz, von Schulabschluss, Ausbildungsrichtung oder gar akademischem Grad? Werden doch schon im 1. Petrusbrief die Jüngerinnen und Jünger, alle, die in die Nachfolge Christi gerufen sind, ermutigt: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt“ (1 Petr 3,15). Eine solche Auskunftsfähigkeit setzt in meinen Augen eben beides voraus: Glaubenswissen und Glaubenspraxis, basierend auf einem Selbstverständnis, das von lebenslangem Wissensdurst, von Erfahren- und Lernenwollen ausgeht!
„Ihr sollt Euch nicht Lehrer nennen lassen; denn nur einer ist Euer Lehrer, Christus.“ (Mt 23,10). Eine Frau, die es für sich selbst beherzigt hat, sich dieser Wahrheit ganz und gar anvertraute, auch nach der Verhaftung, in Erniedrigung und Deportation bis hin zu einem grausam namenlosen Tod, möchte ich Ihnen am Ende unserer Betrachtung vor Augen stellen: Edith Stein. Als Jüdin geboren, war sie in Jugend und Studium existentiell auf der Suche nach „der Wahrheit“. Am 1. Januar 1922, vor jetzt 100 Jahren, outete sich die 31jährige. Sie bezeugte öffentlich, dass sie die Wahrheit in Gestalt des personalen Gottes Jesu Christi gefunden hatte. Sie trat über die Schwelle des christlichen Credos und empfing in der Pfarrkirche von Bad Bergzabern das Sakrament der Taufe: eine hochintelligente Frau, eine der ersten, die sich mittels Abitur und Promotion das Wirken an der Universität auch gegen Widerstände erarbeitet hatte, und die doch, wie sie selbst schreibt, „von den ersten Lebensjahren an wusste, dass es viel wichtiger sei, gut zu sein als klug.“
So stand auch ihre Berufswahl unter dem selbstgewählten Motto: „Wir sind auf der Welt, um der Menschheit zu dienen. Das kann man am besten, wenn man das tut, wozu man die geeigneten Anlagen mitbringt.“ Doch ihre männlichen Zeitgenossen, vor allem der von ihr geschätzte Philosophieprofessor Edmund Husserl, blieben in den patriarchal überkommenden Geschlechterrollen gefangen und verwehrten ihr die Habilitation. Edith Steins Leben ist geprägt vom schmerzlichen Konflikt zwischen den empfangenen Gaben des Geistes und des Herzens
und
den beschränkten gesellschaftlichen Möglichkeiten für eine Frau, diese Gaben zum Wohle der Gemeinschaft einzusetzen. Edith Stein hat ein Hauptwerk des hl. Thomas „De veritate“ übersetzt. Dabei geht es in 29 sog. Quaestiones um die Grundfragen der Philosophie und Theologie, letztlich um das Thema der Wahrheit. Edith Stein selbst brachte es auf den Punkt: „Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott – ob es ihm klar ist oder nicht.“
Bis heute ringen wir in der Kirche um die Wahrheit. Das ist anstrengend - intellektuell und auch menschlich. Doch wir dürfen die Wahrheitsfrage nicht ausklammern. Es geht darum, dem Geist Gottes, dem Evangelium Jesu Christi, Raum zu geben; wir tun uns schwer, zwischen ihrem befreienden Gehalt und unseren kulturell bedingten Vorurteilen zu unterscheiden. Wahrheit duldet keine Grenzen. Anders gewendet: Der Geist der Wahrheit weht, wo er will.
Ihr aktuelles Semesterthema „Geistreich leben“ könnte man ohne Abstriche auch über das Leben Edith Steins schreiben, vorausgesetzt, dass damit der Fokus auf dem Hl. Geist liegt! Er gab ihr die Kraft, nicht an dem, was ihr versagt blieb, zu verzweifeln, sondern einen Weg zu suchen, wie sie ihr persönliches Glück und die Erfüllung des Willens Gottes allen äußeren Beschränkungen zum Trotz, ja noch unter Lebensgefahr, miteinander verbinden konnte. Sie ließ sich ein auf die Freundschaft mit Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, und bekannte: „Je tiefer jemand in Gott hineingezogen wird, desto mehr muss er auch in diesem Sinn ‚aus sich herausgehen’, d.h. in die Welt hinein, um das göttliche Leben in sie hineinzutragen.“
Nach Jahren als Gymnasiallehrerin in Speyer wirkte sie wenige Monate als Dozentin am Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster, bis man ihr auch dieses Mandat verbot. Im Herbst 1933 trat sie als Schwester Teresia Benedicta a Cruce in den Kölner Karmel ein; sie zog sich komplett aus dem gesellschaftlichen Leben zurück - wissenschaftlich arbeitend und voller Empathie für das Leid in der Welt, das sie im inständigen Gebet vor Gott trug. Wie der Brandbrief, den sie für die verfolgte jüdische Gemeinschaft an Papst Pius XI. geschrieben hatte, so zeigt auch ihr Geistliches Testament: Zu keinem Zeitpunkt gab sie sich über die Mordabsichten der Nationalsozialisten Illusionen hin! Sie nannte die Wahrheit beim Namen, bekam aber von den Diplomaten in Rom keine Antwort.
Trotzdem bejahte sie ihr Schicksal im Lichte des Glaubens und wurde noch im Sammellager Westerbork zur Stütze für die verzweifelten Mitgefangenen. „Ad orientem“ stand auf einem Zettel, den sie bei einem Halt im Bahnhof Schifferstadt aus dem Zug nach Auschwitz werfen konnte. Es ging nach Osten – zur aufgehenden Sonne, die für Sr. Teresia Benedicta a Cruce, die vom Kreuz Gesegnete, Christus geworden war…
Hand aufs Herz: Haben Sie sich mit der Namensgeberin Ihres KHG-Gebäudes einmal beschäftigt? Ich empfehle Ihnen den Zugang über Edith Steins Fragment gebliebene Aufzeichnungen „Aus dem Leben einer jüdischen Familie.“ Sie werden dort einen wachen, selbstkritischen und humorvollen Menschen kennenlernen – ich bin mir sicher: Sie werden die hl. Edith Stein schätzen und lieben lernen! Amen.