Die Tugenden des Lammes: Demut, Geduld und Hingabe
Liebe Schwestern und Brüder, in seinem berühmten Isenheimer Altar hat Matthias Grünewald in großartiger Weise die Bedeutung Johannes des Täufers herausgestellt. Er hat ihm einen Platz zugewiesen unter dem Kreuz – allen historischen Daten zum Trotz, da Johannes zu diesem Zeitpunkt längst schon enthauptet worden war. Doch was für den Künstler schwerer wiegt, ist die theologisch-spirituelle Aussage, die dahintersteht: Johannes zeigt mit einem übergroßen Finger auf den Gekreuzigten, wobei ihm der Satz in den Mund gelegt ist: „Seht das Lamm Gottes.“ Johannes – der große Zeigefinger. Ich selbst möchte heute dem Johannes ein wenig nacheifern und auf drei Stellen hinzeigen.
1. Ein erster Zeigefinger: „Seht das Lamm Gottes“
Der Herr der Welt – nur ein Kind. Das war das Thema der Weihnacht. Der Erlöser der Welt – nur ein Lamm. So wird der Faden heute weitergesponnen. Ein schwaches Bild verglichen mit den kraftvollen, herrschaftlichen Wappentieren, z.B. Löwe und Adler, mit denen sich die Mächtigen dieser Erde schmücken.
Gott sah, was er alles erschaffen hatte, und freute sich darüber. So erzählt eine rabbinische Geschichte. Die Tiere zogen in langer Prozession an Gott vorüber: wehrhaft mit Stoßzähnen die einen, mit Krallen, die sich tief eingraben können, und Panzern andere. Alle hatten ihre Waffen, ihr schlagendes, beißendes Werkzeug. Ganz traurig, in sich geduckt, stand abseits noch ein anderes Tier. Ängstlich starrte es auf die Büffel und Nashörner, die Schlangen und Tiger, die Löwen und Krokodile: ein Lamm. Es kam sich ganz verloren vor, denn es hatte nichts, womit es sich hätte wehren können. „Warum gabst du ihnen so viele Waffen?“ fragte das Lamm den Schöpfer und fügte vorwurfsvoll hinzu: „Du weißt doch, was sie alles damit Schlimmes anrichten können und tatsächlich anrichten.“ Da sagte Gott zum Lamm: Auch dir habe ich Waffen gegeben, die „Waffen des Friedens“: Geduld, Demut und Hingabe.
Das Lamm Gottes heute mit den Waffen des Friedens – steht es nicht auf verlorenem Posten in unserer Ellenbogenwelt? Es kann keine Zähne zeigen; das Lamm hat keine Krallen, die packen und zerreißen, keine Pranken, die zuschlagen und zerschmettern. Alles das hat es nicht – aber dafür besitzt es eine Fähigkeit, die allen menschlichen Rüstungen weit überlegen ist: Es nimmt hinweg die Sünden der Welt. Ein Glück, das es das Lamm Gottes gibt! Es lässt uns erahnen, dass es eine ganz andere Möglichkeit gibt, unsere Konflikte zu lösen als zugespitzte Worte, Waffen und kugelsichere Panzer. In seiner Wehrlosigkeit liegt seine Stärke.
Diese Erfahrung der Wehrlosigkeit gehört in den Alltag des heutigen Christen. Die Kirche hat keine Daumenschrauben mehr für ihre schwarzen Schafe. Auf viele äußere Macht- und Druckmittel hat sie verzichten müssen. Um den Menschen wieder zu erreichen, muss sie heruntersteigen vom hohen Ross, heraus aus den Burgen der Pfarrhöfe, hinein in die Welt der Menschen und dabei eindringlich und bohrend wie ein ausgestreckter Zeigefinger: Seht das Lamm Gottes, das hinweg nimmt die Sünden der Welt.
Doch ich möchte nicht im Allgemeinen stecken bleiben. Brechen wir unsere Gedanken ins Konkrete hinunter.
2. Seht das Lamm Gottes in unseren Familien
Jesus hat keine heile Welt gemalt. Er selbst gibt seinen Freunden den Hinweis: „Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe.“ Wie viele Menschen müssen das gerade in ihrer Ehe immer wieder bitter erfahren! Da habe ich mich einem Wolf im Schafspelz ausgeliefert. Wie viele Eltern und Großeltern leiden darunter, dass ihre jungen Familien und Enkel den Weg zur Kirche nicht mehr finden! Mancher von Ihnen hat sich wohl auch schon in die traurige Feststellung zurückgezogen, wenn er auf die größer werdenden Lücken in unseren Bankreihen schaut: Die Waffen des Lammes sind eben doch zu stumpf, um die Menschen zu erobern. Aber: Ein verzagter, schwindsüchtiger Glaube hilft uns nicht weiter. Verletzbar ist das Lamm, es hat geblutet und ist verstummt – aber es steckt den Kopf nicht in den Sand. Und so möchte ich als Eheloser heute bewusst den Zeigefinger auf die richten, die in Familien leben. Es sollen keine Kritikpunkte sein, sondern Botschaften und Anfragen des Lammes:
Das Lamm überzeugt durch die Waffe der Wehrlosigkeit. Lebt eure eheliche Beziehung aus dieser Wehrlosigkeit? Lasst ihr Gott „den Dritten im Bunde“ sein?
Das Lamm zeigt uns, dass Verzicht, Verletzbarkeit eine Quelle von Möglichkeiten, Liebe und Engagement sein kann. Verzicht ist auch in der Ehe nötig.
Wir warten alle auf die „Hochzeit des Lammes“. Seht ihr, dass auch ihr nur Gast auf Erden seid und die letzte Erfüllung der Liebe auch beim liebsten Menschen ausbleiben muss?
Das Lamm wurde zur Schlachtbank geführt – keiner konnte ihm diesen Gang abnehmen. Auch in der Ehe gibt es Leid – wenn Wünsche unerfüllt bleiben. Leidenschaft wird dann zur Leidensgemeinschaft. Seid ihr bereit, auch miteinander und füreinander zu leiden?
Seht ihr, liebe Eheleute, was für ein Evangelium ihr sein könnt in einer Zeit, wo persönliche Beziehung und eheliche Treue so gefährdet und in Frage gestellt sind wie heute?
Wenn es Ihnen gelingt, die Botschaft des Lammes nicht nur in Worten einzuhämmern, sondern durch Ihr Leben zu predigen, dann haben Sie all Ihre Schuldigkeit getan. Denn wir können und brauchen nichts erzwingen, was letztlich nur von Gott kommen kann.
Liebe Schwestern und Brüder,
ich weiß, hier hat wieder einmal einer etwas angesprochen, was er selbst nicht in letzter Konsequenz erfahren hat. Daher drehe ich bei meinem letzten Zeigefinger den Spieß um.
Sie, liebe Eheleute, sollen auf uns zeigen – auf uns Seelsorger und Alleinstehende und uns die Botschaft des Johannes deuten:
3. „Seht das Lamm Gottes“ – bei euch in eurem Leben, wo ihr liebt und leidet:
Wie steht es mit eurer Beziehungsfähigkeit, mit eurer Liebesfähigkeit?
Habt ihr die Waffen des Lammes angelegt: Demut, Geduld und Hingabe?
Wie ist eure Liebe zu den euch anvertrauten Menschen? „Aufmerksam“ oder „aufdringlich“, „diskret“ oder „neugierig“?
Ich würde mich freuen, wenn wir auch über solche Fragen in unserer Gemeinde mehr und mehr ins Gespräch kommen könnten – alte und junge, verheiratete und alleinstehende Menschen. Denn wir alle sind Brüder und Schwestern und damit Geschwister im Glauben. Vom Lamm können wir lernen, unsere Panzer und Geschütze abzulegen.