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Ansprache am Karfreitag 2023 – Hoher Dom zu Augsburg

„Ecce homo“ - Seht den Menschen! Und wozu er fähig ist!

09.04.2023

Wir schreiben das Jahr 1882, als sich ein Passionserlebnis der ganz besonderen Art ereignet. Es ist der weltberühmte Urwalddoktor von Lambarene, der Nobelpreisträger, Wissenschaftler und Arzt Dr. Albert Schweitzer, der über ein bewegendes Ereignis aus seiner Kindheit berichtet, das ihn zeitlebens prägte.

Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben

„Einen tiefen Eindruck machte auf mich ein Erlebnis aus meiner Schulzeit. Mein Kamerad Heinrich Braesch und ich hatten uns Schleudern aus Gummischnüren gemacht, mit denen man kleine Steine schießen konnte. Es war im Frühjahr, in der Passionszeit. An einem sonnigen Sonntagmorgen sagte er zu mir: ´Komm, jetzt gehen wir in den Rebberg und schießen Vögel.´ Dieser Vorschlag war mir schrecklich, aber ich wagte nicht zu widersprechen, aus Angst, er könnte mich auslachen.

So kamen wir in die Nähe eines kahlen Baumes, auf dem die Vögel, ohne sich vor uns zur fürchten, lieblich in den Morgen hinaussangen. Sich wie ein jagender Indianer duckend, legte mein Kamerad einen Kiesel in das Leder seiner Schleuder und spannte sie. Seinem gebieterischen Blick gehorchend, tat ich, unter furchtbaren Gewissensbissen, dasselbe, mir fest gelobend, danebenzuschießen.

In demselben Augenblick fingen die Glocken der Kirche an, in den Sonnenschein und in den Gesang der Vögel hinein zu läuten. Es war das erste Läuten, das die Gläubigen in die Kirche rief. Für mich war es eine Stimme aus dem Himmel. Ich warf die Schleuder weg, scheuchte die Vögel auf, dass sie wegflogen und vor der Schleuder meines Kameraden sicher waren, und floh nach Hause.

Und immer wieder, wenn die Glocken der Passionszeit in den Frühlingssonnenschein und in die kahlen Bäume hinausklingen, denke ich ergriffen und dankbar daran, wie sie mir damals das Gebot ´Du sollst nicht töten´ ins Herz geläutet haben.“

Für Albert Schweitzer war dieses Passionsereignis der entscheidende Impuls seines Lebenswerkes „Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben.“

„Ecce homo“ - Seht den Menschen! Und wozu er fähig ist!

Für mich gehört jedes Jahr am Karfreitag diese kurze Szene zu den bewegendsten Augenblicken der Passion, wenn Jesus der Herr von Pilatus herausgeführt und der wütenden Menge gezeigt wird. „Ecce homo!“ sagt Pilatus. Seht den Menschen. Seht das ultimative Signal der Liebe Gottes zu den Menschen. Aber seht auch, wozu der Mensch fähig ist, in allen Jahrhunderten, auch heute, wenn es um Würde und Lebensrecht des Menschen geht. Und um die fortlaufende Verletzung und Kreuzigung des Menschen durch den Menschen.

Wenn wir heute über das christliche Abendland philosophieren und die vielzitierte Werteordnung Europa beschwören. Wenn wir Demokratie und Rechtstaat, Humanität und Menschenrechte in Anschlag bringen, dann müssen wir uns gerade heute, 2000 Jahre nach Christus fragen lassen: Was trägt uns? Was haben wir dazugelernt? Welches Menschenbild leitet uns?

Unmenschlichkeit ist ja nicht nur eine Eigenschaft der Vergangenheit. Gerade heute müssen wir davor erschrecken, wozu Menschen - selbst gegenüber wehrlosen Kindern, Alten und Zivilisten - fähig sind!

Die fünf Finger einer Hand reichen ja gar nicht aus um all die Untiefen anzuzeigen, die den Karfreitag des Jahres 2023 ausmachen. Die Kreuzigung des Menschen durch den Menschen geht ja weiter!

Wir sehen einen Karfreitag in der Ukraine: Die immense Brutalität des Krieges auf dem Boden Europas - am 400. Tag der Invasion. „Es ist ein Schlachthaus“ schreibt der Tagesspiegel ein Jahr nach den ungeheuren Menschenrechtsverletzungen, für welche die Stadt Butscha steht: Mord, brutale Kriegsverbrechen und furchtbare Zerstörung. Ganze Viertel dem Erdboden gleichgemacht, Menschen gefoltert. Und ein Ende nicht in Sicht!

Wir sehen einen vergessenen Karfreitag auf dem Mittelmeer: Es sind nicht nur die Bootsflüchtlinge und ihr tragischer Tod. Nach Info der UNHCR sind derzeit 80 MIO Menschen weltweit auf der Flucht und in Angst um ihr Leben und ihre Existenz! Die Menschenrechtsorganisation Open Doors weist konstant darauf hin, dass gerade Christen die derzeit meistverfolgte religiöse Denomination sind. Nie in der Geschichte der Kirche hat es eine Christenverfolgung und Flucht in diesem Ausmaß gegeben. Und wie bedrückend ist es, wenn das Internationale Friedensforschungsinstitut SIPRI feststellt, dass sich die Zahl der bewaffneten Konflikte auf Erden seit 2010 auf 56 verdoppelt hat?

Schließlich sehen wir einen tragischen Karfreitag in Freudenberg. Die Tötung der 12-jährigen Luise durch zwei ihrer Mitschülerinnen. Welch eine erschreckend große Tat durch kleine Hände! Wozu sind Kinder fähig? Wie sollen Eltern, wie soll eine Schule zu einem Normalmodus zurückfinden angesichts der Unbegreiflichkeit dieses Todes eines Kindes durch Kinder?

Jesus Christus: Das neue Menschenbild der Erlösung

Inmitten all dieser Dramen wird uns am Karfreitag ein neues Bild des Menschen aufgerichtet. Ecce homo! Seht den Menschen! Seht das "Haupt voll Blut und Wunden"! Seht Jesus von Nazareth, dessen Leben vor 2.000 Jahren am Kreuz brutal beendet wurde! Aber: Seht den Leidensmann, der das ultimative Maß der Menschenfreundlichkeit und Liebe Gottes ist! Und: Seht den erlösten Menschen, wozu er fähig ist und wozu er in den Augen Gottes berufen ist!

Am Ende dieses Karfreitag-Gedankens soll das bewegende Zeugnis eines modernen Märtyrers stehen: Es ist Dietrich Bonhoeffer, der Theologe und Blutzeuge des Dritten Reiches, am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg - auf Hitlers persönliche Anweisung - wegen seines Widerstandes gegen die Unmenschlichkeit und Brutalität des Nazi Regimes hingerichtet. Was ist gewiss? lautet seine finale Frage. Und seine Antwort Gottes Ja und Amen!

„Was ist gewiss? Gottes Ja und Amen“

„Gewiss ist, dass wir immer in der Nähe und unter der Gegenwart Gottes leben dürfen und dass dieses Leben für uns ein ganz neues Leben ist; dass es für uns nichts Unmögliches mehr gibt, weil es für Gott nichts Unmögliches gibt; dass keine irdische Macht uns anrühren kann ohne Gottes Willen und dass Gefahr und Not uns nur näher zu Gott treiben; gewiss ist, dass wir nichts zu beanspruchen haben und doch alles erbitten dürfen; gewiss ist, dass im Leiden unsere Freude, im Sterben unser Leben verborgen ist; gewiss ist, dass wir in dem allen in einer Gemeinschaft stehen, die uns trägt. Zu all dem hat Gott in Jesus Ja und Amen gesagt. Dieses Ja und Amen ist der feste Boden auf dem wir stehen.“