„Europa wacht nur auf, wenn wir Christen es wieder beleben“
Liebe Schwestern und Brüder im Herrn, Europa heute ist ein Sorgenkind: Die Erschütterungen durch die Finanz- und Schuldenkrise sind noch nicht überwunden, der Brexit sorgte für Bestürzung und der Umgang mit Flüchtlingen stellt Europa weiterhin vor enorme Probleme. Corona erfordert weiterhin einen gemeinschaftlichen Kraftakt. Und seit Ende Februar tobt mitten in Europa ein furchtbarer Krieg, dessen Ende nicht abzusehen ist. Noch hält die Einheit um die Sanktionen, doch wie lange noch? Gas, Energie und Strom; Inflation und Rezession, diese Worte geistern durch die Welt und machen vielen Angst. Das „Haus Europa“ hat erhebliche Risse bekommen, der Zahn der Zeit nagt an ihm und immer mehr Länder scheinen in diesem Gebäude zu fremdeln. Dabei machen mir, nicht nur mit Blick auf den Wahlausgang in Italien, die neuen Nationalismen und Egoismen große Sorgen.
Kein geringerer als Papst Franziskus, der Südamerikaner mit italienischen Wurzeln, hat sich zu Europa und seinem Verhältnis zum Christentum mehrfach geäußert. Regelmäßig greift er das Thema in den monatlichen Gebetsimpulsen auf. Papst Franziskus spricht Klartext. Europa sei müde geworden und altersschwach, so der Papst in seiner Rede vor dem Europaparlament im November 2014. Er hat Europa verglichen mit einer „Großmutter“, die „nicht mehr fruchtbar und lebendig ist.“ Und einige Jahre später mahnt er an, dass Europa seinen „Schwung zu verlieren“ scheint. Es gehe nicht darum, die Vergangenheit „wie ein Erinnerungsalbum zu betrachten“, denn „mit der Zeit verblassen auch die schönsten Erinnerungen“. So ruft der Papst Europa zu: „Finde zu dir selbst! Entdecke deine Ideale wieder, die tiefe Wurzeln haben. Sei du selbst!“ (Schreiben an Kardinal Pietro Parolin vom 22.10.2020)
Ein müdes Europa! Welches Wasser könnte es erfrischen? Welche Ideale könnte Europa lebendig machen? Ich möchte hierzu das Bild vom Brunnen aufgreifen. Um nicht auszutrocknen, um (über-)leben zu können, braucht das Haus Europa einen Brunnen. Und dieser Brunnen ist der christliche Glaube. Wenn wir bereit sind, dem auf den Grund zu gehen, werden wir gewichtige Reichtümer zutage fördern und womöglich die eine oder andere fruchtbare Quelle neu erschließen, aus der wir in Europa auch in Zukunft schöpfen können.
Wenn wir im Brunnen der Vergangenheit nachbohren, dann können wir die Frage nicht ausblenden, die uns derzeit in verschiedenen Abwandlungen bewegt: Werden wir Christen Fremde in Europa? Ist das Christentum zukunftsfähig oder eher ein Auslaufmodell? Insofern sollen auch meine Gedanken weder theologisches Glasperlenspiel noch erhabener Elfenbeinturm sein, sondern ein Nachdenken über uns, d.h. die Christen in Deutschland und Europa.
In seiner bisherigen Geschichte ist Europa durch das Christentum mehr geprägt worden als alle anderen Kontinente, seit der Apostel Paulus nach einem Bericht der Apostelgeschichte des Neuen Testament in Troas, am Westzipfel Kleinasiens, jenen viel zitierten Traum hatte, in welchem ihm ein Mazedonier, ein Grieche, erschien und zurief: „Komm herüber zu uns und hilf uns!“ (Apg 16,9) Paulus setzte am nächsten Tag zu Schiff nach Griechenland über. Diese Reise steht faktisch und symbolisch für den Schritt des in Westasien entstandenen Christentums hinüber nach Europa. Paulus setzte sich unermüdlich für die Ausbreitung der frohen Botschaft ein, wie wir es in der heutigen Lesung im zweiten Timotheusbrief gehört haben: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue bewahrt. (…) Der Herr stand mir zur Seite und gab mir Kraft, damit durch mich die Verkündigung vollendet wird und alle Völker sie hören.“ (2 Tim 4,7.17)
So wurde Europa mit Paulus für ungefähr 1500 Jahre der größte und wichtigste Lebensraum des Christentums. Von hier aus wurden vom Beginn der Neuzeit an die Wellen der Missionierung in die beiden Teile Amerikas vorangetrieben und nach Asien getragen, zumal auf die Philippinen, später auch nach Australien. Während im frühen 19. Jahrhundert die katholische Kirche in vielen Ländern Europas nach dem Fegefeuer von Aufklärung und französischer Revolution von den Gegnern schon angezählt wurde, setzte gerade von Europa aus ein neuer missionarischer Schwung ein, der Nordamerika, Asien und Schwarzafrika erfasste und über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus dauern sollte.
Europa, der Ursprung der heute global wirksamen naturwissenschaftlich-technischen Zivilisation, von der aus die anderen Kontinente kolonialisierend erfasst wurden, ist nicht selbst die Wiege der großen Weltreligionen, auch nicht des Christentums. Aber gerade in Europa wuchs dem Christentum die Rolle zu, eine ungemein große Zahl von Menschen zu formen, die wie Leuchttürme ausstrahlten und hineinwirken bis in unsere Tage. Unter ihnen die großen Heiligen und Patrone Europas Benedikt, Cyrill und Methodius, Franziskus, Theresa von Avila, Catarina von Siena; nicht zu vergessen in der Gegenwart Mutter Teresa und Papst Johannes Paul II. Das Christentum machte also das aus, was man metaphorisch „die Seele Europas“ genannt hat. Trotz aller Umbrüche und Abbrüche ist es bis heute als „Seele des Kontinents“ unsterblich geblieben.
Allerdings dürfen wir nicht verschweigen, dass gerade in Europa auch Dunkles und Pathologisches aus dem Christentum erwachsen ist. Wiederholt haben die Päpste Fehler beklagt und um Vergebung gebeten: für die Behandlung der Sklaven aus Afrika, Antisemitismus, Ketzerverbrennungen und anderes mehr. Zu „heißen Themen“ wie Inquisition, christlicher Antijudaismus oder zur Gestalt des böhmischen Reformators Jan Hus wurden Experten-Konferenzen einberufen. Vor allem Papst Johannes Paul II. hat eine kritische Rückschau auf Fehler von Christen in der Vergangenheit gehalten und damit zu einer „Reinigung des Gedächtnisses“ der Kirche beigetragen. Ein Höhepunkt dabei war die öffentliche Bußfeier im Petersdom am ersten Fastensonntag im Großen Jubiläumsjahr 2000. Der Grundtenor seiner „Confessio“ klang damals so: Die dunklen Schatten, die durch Söhne und Töchter der Kirche auf die Geschichte geworfen wurden, haben keine Grundlage im Evangelium. Genau dieser Gedanke ist uns heute ein Stachel im Fleisch. Er tut weh – er muss uns weh tun. Der Missbrauchsskandal schadet unserer Glaubwürdigkeit; er zerstört Vertrauen. Das betrifft vor allem die katholische Kirche, die gern den moralischen Zeigefinder erhebt. Nun ist offenkundig geworden, dass es bei uns graue Eminenzen und dunkle Existenzen gibt. Trotzdem bitte ich Sie, liebe Schwestern und Brüder: Schreiben Sie uns nicht ganz ab! Machen Sie groß, was die beiden christlichen Kirchen in Bayern, in Deutschland und Europa bis heute leisten: Sie verständen sich als Anwältinnen für die Würde des Menschen von der Zeugung bis zum natürlichen Tod. Sie bemühen sich, ein Menschenbild zu leben, das gerade denen eine Stimme gibt, die am Rande sind, arm und a-sozial, außerhalb der Gesellschaft. Wir machen den Menschen groß – um Gottes willen.
Trotz aller Skandale bin ich davon überzeugt: Noch immer gibt es in den Kirchen Europas millionenfach glaubhaftes christliches Leben. Dennoch haben wir den Eindruck, dass manche der Kirche die Sterbeglocke läuten wollen. Dieses Urteil wird zwar durch den Einfluss von Medien verstärkt, aber nicht einfach von ihnen erzeugt. Kritiker innerhalb und außerhalb, die der Kirche einen Modernisierungsschub verordnen wollen, greifen zu kurz. Wir brauchen Erneuerung, was aber mehr ist als neue Strukturen. Wir brauchen eine „geistliche Revolution“, eine spirituelle Offensive.
Was offenbart uns diese Tiefenbohrung in die Geschichte? Bei allem Wandel der bislang 2000-jährigen Kirchengeschichte gibt es ein unauflösbares Band zwischen Europa und dem Christentum: Da Europa der Brückenkopf für die Globalisierung des Christentums wurde, verdankt das Christentum Europa viel. Umgekehrt verdankt Europa dem Christentum viel, zumal der christliche Glaube weitgehend das ausmacht, was man die Seele Europas genannt hat. Am Anfang waren die Christen allerdings Fremde auf diesem Kontinent und heute scheinen sie in vielen Lebensbereichen wieder Fremde zu werden. Macht aber das Fremdsein in gewisser Hinsicht nicht gerade das Christsein aus? Stromlinienförmige Christen gestalten Europa nicht. Sie ecken nicht an, fallen aber auch nicht auf. Paulus schreibt uns ins Stammbuch: „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern lasst euch verwandeln durch die Erneuerung des Denkens, damit ihr prüfen könnt, was der Wille Gottes ist.“ (Röm 12,2)
Schöpfen wir noch einmal in diesem für Europa erquicklichen Brunnen! Welche erfrischenden Quellen gibt er uns frei? Da ist das christliche Menschenbild zu nennen. Gott, der aus Liebe heraus den Menschen in seiner Freiheit erschaffen hat, will, dass der Mensch frei und gut lebt und dass er die von Gott gegebenen Talente zum Wohle seiner Mitmenschen nutzt. Aber was tut der Mensch? Er strebt danach, wie Gott zu sein. In der Leugnung Gottes, in seinem Größenwahn, wie Gott zu sein, wird der Mensch im wahrsten Sinn des Wortes unmenschlich. Nach dem Motto „Wissen ist Macht“ hat er wohl großes Wissen, aber wenig Gewissen. Was mit dem Drang zur schrankenlosen Selbstverwirklichung begann, kann in der Selbstvernichtung enden.
Erst unsere Generation hat es fertiggebracht, dass die Menschheit durch den Menschen vernichtbar geworden ist. Bis dahin ist es gekommen. „Der Tag ist nicht mehr weit“, sagte bereits Teilhard de Chardin, „der Tag ist nicht mehr weit, an dem die Menschheit wählen kann zwischen Selbstmord und Anbetung“.
Was wählen wir? Wählen wir die Anbetung? Wir sind eingeladen zu einem Leben, das sich selbst beschränkt und Gott die Ehre gibt. Das ist der einzige Weg, den unmenschlichen, selbstmörderischen Gotteskomplex zu durchbrechen und wieder wirklich Mensch zu werden. Gott selbst hat es uns vorgemacht: Gott wurde Mensch, um uns Menschen davon abzubringen, Gott gleich werden zu wollen. Gott ist Mensch geworden – der Mensch nicht Gott. Oder anders gesagt: Gott begegnet dem Menschen, der sein will wie Gott, in dem, der ganz Mensch war: Jesus Christus. Und das Wort ist Fleisch geworden (Joh 1,14).
Die Bilder von Gott und Mensch spiegeln sich. Gott und Mensch leuchten einander gleichsam aus. Sag mir, wie du über den Menschen denkst, und ich sage dir, wie du über Gott denkst! Und umgekehrt: Wo Gott für tot erklärt wird, da muss auch der Mensch bald sterben – vor allem der Schwächste und Ärmste, der ohne Recht und ohne Stimme, der Ungeborene und Todgeweihte. Die Botschaft von Gott um des Menschen willen und vom Menschen, der von Gott eine Würde erhält, die ihm keine sich noch so mächtig gebärdende Autorität nehmen kann – diese kraftvolle Botschaft gilt es in die Welt des dritten christlichen Jahrtausends hineinzusagen. Sie gehört zu den vordringlichsten Aufgaben der Kirche und zu den vornehmsten Aufgaben Europas.
Konkret wird das in der gelebten Nächstenliebe. Caritas kennt keine Grenzen. Die Krisen der letzten Jahre haben gezeigt, dass diese nicht im Alleingang zu stemmen sind. Nur ein gemeinschaftlich agierendes Europa wird es schaffen, Unterschiede positiv zu integrieren und die Probleme zu bewältigen. Mich stimmt hoffnungsvoll für die Zukunft Europas, mit welch großer Solidarität die Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen wurden. Als „Weltkirche-Bischof“, der ich zuletzt in der Ukraine, in Polen und in Litauen unterwegs war, spüre ich eine tiefe europäische Verbundenheit aus christlichem Geist.
Das Hinabsteigen auf den Grund des christlichen Brunnens erschließt Quellen, aus denen Europa neu belebt werden kann. Dabei dürfen wir nicht vergessen: Es gibt kein Christentum ohne Christen, die ihre Taufe und Firmung leben. Das müde Europa wacht nur auf, wenn wir Christen es wiederbeleben. Oder, wie es Papst Franziskus ausdrückt, „nur eine Kirche, die reich an Zeugen ist, vermag von neuem das reine Wasser des Evangeliums auf die Wurzeln Europas zu geben.“ (Rede bei der Verleihung des Karlspreises 2016) Amen.