Fahr hinaus auf den See! – Lasst uns ans andere Ufer fahren!
Liebe Mitbrüder im priesterlichen und diakonalen Dienst, liebe Dozierende und Angestellte der Universität, liebe Studierende und Angehörige der KHG, liebe Schwestern und Brüder! Auch wenn Augsburg nicht unmittelbar am Ammersee oder Starnberger See liegt, können wir uns alle gut in die Situation des Seesturms hineinversetzen.
Und das nicht erst seit der Flutkatastrophe im Ahrtal. „Transeamus contra! – Wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren“ (Mk 4,35). Dieser Aufruf Jesu passt zum hl. Thomas von Aquin, den wir heute, einige Tage nach seinem Fest im Kalender, feiern. Er passt auch an den Beginn des Jahres 2023 – und er ist mir schon in den ersten Monaten meines Bischofsamtes so wichtig geworden sind, dass ich meine Impulse zu einer Seelsorgsinitiative mit den beiden Aufforderungen Jesu, Duc in altum (Fahr hinaus auf den See) und Transeamus contra (Lasst uns ans andere Ufer fahren), überschrieben habe. Der Ruf des Herrn ergeht immer an eine konkrete Person, an mich, an Dich,…
Die jungen Menschen unter Ihnen spüren vielleicht schmerzlich die Sehnsucht nach dem Angerufenwerden, den Wunsch nach einem erfüllten Leben. Wir alle tragen die „Anrufbarkeit“, wie dies der Soziologe Hartmut Rosa nennt, als Anlage in uns. Legen auch wir Älteren sie wieder frei, wenn sie durch den Staub des Alltags verschüttet zu werden droht.
Ein Mann wie Thomas von Aquin hat sich ansprechen, anrufen lassen: Duc in altum. Sein „See“, das Gewässer seines Lebens war die Wissenschaft; seine Berufung war es, Glaube und Vernunft zusammenzubringen und die alten Autoritäten der vorchristlichen Antike mit den Kirchenvätern – nein, nicht einfach zu harmonisieren, sondern verantwortungsvoll abzuwägen und im Blick auf das ewige Heil zu gewichten, analog zu jenem Wort Jesu: „Jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreiches geworden ist, gleicht einem Hausherrn, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt“ (vgl. Mt 13,52). – Man beachte die Reihenfolge!
Doch zurück zu unserem Evangelium: Transeamus contra - das meint nicht einfach Weitergehen statt Stehenbleiben, ja selbst Aufbruch wäre noch zu wenig. Es geht um mehr: Jesus will, dass wir einen Perspektivenwechsel vornehmen, uns an Neues wagen. Die Jünger im Boot begeben sich nicht aufs Glatteis, sie kennen ja den See Genezaret, waren sie doch fast alle Fischer und am Ufer daheim. Experten in ihrem Fach! Doch Wasser ist nun mal nicht festes Land und das galiläische Meer, wie der See auch genannt wurde, hat seine Tücken. Unvorhergesehene Fallwinde können das Wasser aufwühlen und stellen eine lebensbedrohliche Gefahr für alle da, die nicht schnell genug den Hafen erreichen.
Jede und jeder von uns kennt wohl die Schrecksekunde, einen Moment, in dem man den Atem anhält und hinterher erzählt: Mensch, das hätte ins Auge gehen können! Bei den Jüngern in unserer Szene kommt noch etwas hinzu: Sie folgen mit der Ausfahrt einem Wunsch des Meisters und es ist nicht überliefert, ob sie angesichts eines heraufziehenden Unwetters Bedenken äußerten. Sie vertrauen – und folgen. Und was tut Jesus? Genau dasselbe: er setzt sich ins Boot, vertraut sich völlig den Ruderkünsten der Jünger an und nutzt die Überfahrt zum Schlafen.
„Jesus schläft. Was soll ich hoffen?“ hat Johann Sebastian Bach seine Kantate zu dieser Perikope überschrieben und damit der Angst der Jünger, ja des Menschen überhaupt vor den Naturgewalten musikalischen Ausdruck verliehen. Doch er wäre nicht der tiefgläubige „fünfte Evangelist“, wie man ihn mit Recht genannt hat, wenn er nicht seinen kompositorischen Schwerpunkt auf die Heilszusage Jesu legen würde. So endet die Kantate mit dem Choral „Unter deinen Schirmen/bin ich vor den Stürmen/aller Feinde frei.“
Fragen wir uns: Entspricht dies auch unserem Lebensgefühl, ist darin auch unser Glaube, unser Gottvertrauen ausgedrückt? Wenn nicht, dann sollten wir der Ursache ehrlich nachspüren. Wo finden wir uns in diesem Evangelium? An dem Punkt, als die Jünger rufen: Meister, kümmert es Dich nicht, dass wir zugrunde gehen? (Mk 4,38) Oder ergreift uns eine Ahnung dessen, der alles Verstehen übersteigt: Wer ist denn dieser, dass ihm sogar der Wind und das Meer gehorchen? (Mk 4,41).
Viele Fragen und keine fertige Antwort. Denn die kann nur jede und jeder von uns ganz persönlich geben und zwar dann, wenn „völlige Stille“ (Mk 4, 39) eingetreten ist. Dann und nur dann, wenn wir den Lärm und die scheinbare Wichtigkeit unseres Alltags hinter uns gelassen haben, wenn wir auf Jesu Bitte hin aufbrechen, um ans andere Ufer zu fahren, dann geschieht das Unvorhergesehene und das Unvorhersehbare, dann machen wir eine Erfahrung, die unser ganzes Leben umkrempelt.
Duc in altum: Fahr hinaus auf den See und Transeamus contra: Lasst uns ans andere Ufer fahren, das sind die Aufforderungen, die an uns alle ergehen – besonders jetzt, am Beginn eines neuen Kalenderjahres. Reihen wir uns - im Vertrauen auf Gottes Nähe - ein in die Zahl derer, die der Autor des Hebräerbriefes aufzählt, von Abel über Henoch und Noach zu Abraham und Sara, ja wir können hinzufügen: Elisabeth und Zacharias, Maria und Josef.
Sie alle waren bereit, Gewohntes hinter sich zu lassen und ein Wagnis mit offenem Ende einzugehen. Es waren verschlungene und leidvolle Wege, im Bewusstsein, dass wir Menschen, wie es heißt „Fremde und Gäste auf Erden sind“ (Hebr 11,13), aber in der Hoffnung, „dass Gott sogar die Macht hat, von den Toten zu erwecken“ (Hebr 11,19). Denn, wie es der junge Dichter Novalis ausgedrückt hat: „Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren – das Hörbare am Unhörbaren – das Fühlbare am Unfühlbaren. Vielleicht das Denkbare am Undenkbaren“ (Traktat vom Licht, Fragment 2120). Vertrauen wir uns heute, im Gedenken an den hl. Thomas, der sich wie kaum ein anderer Theologe dem unbestechlichen Blick Gottes ausgesetzt hat, wieder neu dem Ewigen an, dem liebenden Vater und dem brüderlichen Freund Jesus Christus, der auch uns in den Stürmen des Lebens begleitet und uns rettet vor aller Not. Amen.