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Wichtiges
Predigt in Heiligenkreuz (Wienerwald, Österreich) am 3. Oktober 2022

Kein anderes Evangelium, sondern Botschaft vom Kreuz!

04.10.2022

Eigentlich kennen wir ihn als polyglotten, gewandten Weltmann, der sich meist geschmeidig mühte, das Evangelium verschiedenen Kulturen einzupflanzen. Doch heute lernen wir einen ganz anderen Paulus kennen – einen, der Klartext spricht, der den Galatern ordentlich die Leviten liest: „Ich bin erstaunt, dass ihr euch so schnell von dem abwendet, der euch durch die Gnade Christi berufen hat, und dass ihr euch einem anderen Evangelium zuwendet.“ (Gal 1,6)

Ohne große Umschweife sticht Paulus am Anfang seines Briefes in die Situation der Gemeinde in Galatien hinein. Was ist geschehen? Die Galater sind gerade dabei, sich den judenchristlichen Gegnern des Paulus zuzuwenden. Bissig, mit einem Hauch von Polemik, hält er der Gemeinde den Spiegel hin: Die ein anderes Evangelium predigen, wollen nur verwirren und Unruhe stiften. Ach, genaugenommen gibt es überhaupt kein anderes Evangelium. Und es kommt noch dicker: Wer ein anderes Evangelium predigt, der ist verflucht! In der lateinischen Vulgata heißt es: „anathema sit.“ Gleich zweimal steht es da. Drastischer geht es kaum. „Wer euch ein anderes Evangelium verkündet im Widerspruch zu dem, das wir verkündet haben – er sei verflucht.“ – Anathema sit! (vgl. Gal 1,8f) 

Paulus stellt den Galatern kein gutes Zeugnis aus. Er erhebt schwere Vorwürfe. Ungeschminkt erklärt er, sie hätten sich von einem anderen Evangelium abwerben lassen. Für Paulus steht fest: „Es gibt kein anderes Evangelium, es gibt nur einige Leute, die (…) das Evangelium verfälschen wollen.“ (Gal 1,7) Und er fragt unverblümt: „Geht es mir denn um die Zustimmung der Menschen oder geht es mir um Gott? Suche ich etwa, Menschen zu gefallen?“ (Gal 1,10)

Um was, um wen geht es uns? Warum studieren oder lehren wir Theologie? Wollen wir nur „bella figura“ machen, uns selbst darstellen, oder verfolgen wir tatsächlich die Interessen des Herrn? Wollen wir Jesus Christus und sein Evangelium nach vorne bringen, oder rücken wir uns lieber selbst ins Zentrum?

Übrigens streitet Paulus nicht nur mit den Galatern über die Frage des authentischen Evangeliums. Bei den Korinthern sieht es ähnlich aus. Auch ihnen wäscht er den Kopf: „Ihr nehmt es offenbar hin, wenn irgendeiner daherkommt und einen anderen Jesus verkündet, als wir verkündet haben, wenn ihr einen anderen Geist empfangt, als ihr empfangen, oder ein anderes Evangelium, als ihr angenommen habt. Ich denke doch, ich stehe den Überaposteln (magnis apostolis) keineswegs nach. Im Reden mag ich ein Stümper sein, aber nicht in der Erkenntnis.“ (2 Kor 11,4-6).

Ein anderer Jesus, ein anderer Geist, ein anderes Evangelium. Kommen uns diese Stichworte nicht irgendwie bekannt vor? Alles muss anders werden. Eine andere Kirche muss her. Von einem Kulturbruch ist die Rede. Die Kirche sei nicht mehr anschlussfähig. Um anzukommen, bräuchte sie nicht nur ein anderes Sortiment, andere Angebote, sondern andere Inhalte. Zu viele Skandale hätten sich aufgetürmt und behinderten ihre Sendung, das Evangelium den Menschen zu künden. Manche meinen: Das System Kirche muss geändert werden. Alles soll auf den Prüfstand. - Weh uns, wenn wir nicht unterscheiden zwischen Gabe und Aufgabe! Die geistliche Erneuerung der Kirche, die bei jedem einzelnen beginnt und sich in Umkehr und Buße zeigt, ist uns aufgegeben.  Vorgegeben ist uns das Evangelium Jesu Christi, kein anderes Evangelium, sondern die Botschaft, mit der Gott sich selbst mitgeteilt hat: kurz die Offenbarung. Sie ist unserem Zugriff entzogen. Doch wir können, ja wir sollen sie uns immer mehr aneignen und weitergeben. So gesehen ist Tradition nichts Statisches, sie ist dynamisch. Tradition ist das „Leben“ der Kirche; sie hält die Kirche immer frisch und jung; katholische Kirche ist keine Monokultur, im Gegenteil: sie ist reich an vielfältigen Charismen.

Schon der hl. Irenäus hat von diesem lebendigen Wechselspiel regelrecht geschwärmt: „Den Glauben haben wir von der Kirche empfangen und behüten ihn: Wie ein kostbarer Schatz, der in einem wertvollen Gefäß verschlossen ist, wird der Glaube durch das Wirken des Geistes Gottes immer verjüngt und verjüngt das Gefäß, das ihn enthält. (…) Wo die Kirche ist, dort ist der Geist Gottes; und wo der Geist Gottes ist, dort ist die Kirche und jegliche Gnade.“[1] Daher finde ich es traurig, wenn wir uns immer mehr gegenseitig in Schubladen stecken. Einzelnen, Gemeinschaften und Gruppen werden schnell Etikette angeheftet wie konservativ, progressiv, liberal oder auch traditionalistisch. Doch holzschnittartiges Denken hilft nicht weiter. Schauen wir ins Zweite Vatikanische Konzil! Die innovativsten Theologen waren diejenigen, die aus dem alten Schatz der Kirchenväter schöpften. Bitten wir darum, dass auch wir von der Kenntnis der Heiligen Schrift zehren und zugleich im Licht der Tradition die drängenden Fragen der heutigen Zeit angehen. Wer die Überlieferung befragt, kramt nicht in einer verstaubten Mottenkiste, sondern begibt sich auf Entdeckungsreise, um Altes für die neue Zeit zu suchen und anzuwenden. Wer die Tradition der Kirche hochhält, umgeht zudem die Gefahr, einem anderen Evangelium auf den Leim zu gehen und sich einem anderen Geist als dem Geist Jesu Christi zu beugen. Ich wünsche mir eine gläubige, betende und vernünftige Theologie, die den Menschen und die Humanwissenschaften ernst nimmt, aber dabei immer Gott auf der Spur bleibt. Gott hat Vorfahrt! Ich freue mich, wenn diese kirchliche Straßenverkehrsordnung bei Euch in Heiligenkreuz gilt.

Papst em. Benedikt XVI. sieht die Aufgabe der Theologen so: „Dass der Unfassbare zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort fassbar geworden sein soll, dass der Unsterbliche am Kreuz gelitten haben und gestorben sein soll, dass uns Sterblichen Auferstehung und ewiges Leben verheißen ist – das zu glauben ist für die Menschen allemal eine Zumutung, ein Skandal. Dieser Skandal, der unaufhebbar ist, wenn man nicht das Christentum selbst aufheben will, ist leider in jüngster Zeit überdeckt worden von den anderen schmerzlichen Skandalen der Verkünder des Glaubens. Gefährlich wird es, wenn diese Skandale an die Stelle des primären skandalon des Kreuzes treten und ihn dadurch unmöglich machen, also den eigentlichen christlichen Anspruch hinter der Unbotmäßigkeit seiner Boten verdecken.“[2]

Die Skandale, die wir als Kirche weltweit derzeit aufklären, aufarbeiten und in Zukunft möglichst vermeiden müssen, lassen sich nicht verharmlosen. Jeder Skandal ist einer zu viel; mancher Skandal ist auch schwer verzeihlich. Denn es geht um Menschen. Doch dürfen uns die Skandale nicht so in Beschlag nehmen, dass sie uns die Sicht versperren auf den Skandal schlechthin, das Kreuz. Das Kreuz ist der Brennpunkt aller Skandale. Davon war schon der Apostel Petrus überzeugt: „Jesus hat unsere Sünden mit seinem eigenen Leib auf das Holz des Kreuzes getragen, damit wir tot sind für die Sünden und leben für die Gerechtigkeit. Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (1 Petr 2,24) Im Kreuz schlägt die Stunde der Gerechtigkeit, aber auch der Barmherzigkeit Gottes.

Warum ist der Skandal des Kreuzes so wichtig? Weil das Ärgernis des Kreuzes wie ein Stoppschild ist. Stopp, sagt uns das Kreuz, wenn wir unzulässig Grenzen überschreiten wollen. Stopp, wenn wir uns ein anderes Evangelium ohne Passion wünschen. Für mich ist gerade das „Rote Kreuz“ auch ein tröstliches Zeichen. Wo treffen wir aufs „Rote Kreuz“? Überall, wo Not ist und Leiden. Das Kreuz heißt: Stopp, nicht wegschauen, nicht wegschleichen vor dem Leid des andern. Fliehen wir nicht vor dem Kreuz! Noch haben wir kein Paradies auf Erden. Noch gibt es Elend, Sünde und Schuld. Im Kreuz zeigt sich die Zuwendung Gottes zu allem, was weh tut. Gott hat nicht weggeschaut. Daher dürfen auch wir nicht wegschauen, verdunkeln, vertuschen.

Das Kreuz ist ein gutes Zeichen. Rein menschlich betrachtet, war und bleibt es ein Skandal. Gerade wenn wir unsere Skandale ins Licht des Kreuzes halten, kann daraus aber auch Klarheit im Dunkel, Erleichterung für die Seele und ein Weg der Versöhnung entstehen. Wir brauchen keinen anderen Jesus, keinen anderen Geist, kein anderes Evangelium. Das alte Wort vom Kreuz will uns aufs Neue Frohe Botschaft sein: „Denn ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten.“ (1 Kor 2,2)

Kann es für das Wachsen dieser Erkenntnis einen besseren Ort geben als Heiligenkreuz! In Heiligenkreuz will man kein anderes Evangelium suchen, wir halten uns an die Botschaft vom Kreuz: Wir beten Dich an, Herr Jesus Christus, und preisen dich; denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst. Amen.     

[1] Adversus haereses 3,24,1.

[2] Ansprache an engagierte Katholiken aus Kirche und Gesellschaft im Konzerthaus Freiburg i.Br. am 25.9.2011.