Caritas-Generalsekretär plädiert für Versachlichung der Armutsdebatte und Empathie für die Armen
Augsburg (pca). Der 5. Armut- und Reichtumsbericht der Bundesregierung soll demnächst vorgelegt werden. Die gesellschaftliche Debatte zum Thema "Armut" polarisiert. Ein Grund für das Sozialreferat der Stadt Augsburg und den Diözesan-Caritasverband den Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, Professor Dr. Georg Cremer, einzuladen. So schilderte Professor Cremer gestern im Haus St. Ulrich den mehr als 80 Gästen seine Sicht auf die Armutsdiskussion. „In der Debatte werden Superlative verwendet, die aus meiner Sicht nicht aufrütteln, sondern abstumpfen.“ Er plädierte stark dafür, das Thema zu versachlichen. Ihm mache es Angst, dass die „postfaktische Welt“ von heute an Fakten orientierte Lösungsversuche untergrabe.
Zweifel daran, dass es in Deutschland arme Menschen gebe, ließ er allerdings nicht aufkommen. Vergleiche der Armut in Deutschland mit der in Bangladesch lehnte er rundweg ab. Es gehe schließlich darum, dass, wie das Bundesverfassungsgericht auch für die Bundesrepublik Deutschland festgeschrieben habe, jedem Menschen nicht nur die physische Existenz zu sichern sei, sondern dass jeder ein Recht auf das soziokulturelle Minimum habe. Insofern steht Prof. Cremer voll und ganz hinter der europaweiten Definition der relativen Armut. Demnach sei derjenige arm, der weniger als 60 Prozent des „Medians der Nettoäquivalenzeinkommens“ habe, ein Mittelwert, der sich aus der Betrachtung aller Einkommen unter Berücksichtigung der Anzahl der Mitglieder in einem Haushalt ergibt.
Derzeit gelten 12 Millionen Menschen nach dieser Statistik in Deutschland als arm. Prof. Cremer wies aber darauf hin, dass in diese Statistik auch Studierende fallen, die zeitlich befristet nun mal mit weniger Geld auskommen müssten. Die Menschen, die aber eine genauere sachliche Betrachtung verdienten, weil sie dauerhaft unter dem genannten Stellenwert leben, von vielem, was die deutsche Gesellschaft ausmache und das Leben auch lebenswert mache, ausgeschlossen sind. Er zählte als betroffene Risikogruppen all jene Menschen, die keinen, schlechten oder nicht ausreichenden Zugang zu produktiver Arbeit hätten. Darunter Alleinerziehende, gering Qualifiziert, ältere Menschen, die in Altersarmut leben, und Familien mit drei oder mehr Kindern. „Um die Obdachlosen und Illegalen ist es sogar relativ still in unserer Armutsdiskussion.“
Der Generalsekretär der Caritas in Deutschland wollte dabei statistische Zahlen an sich nicht in Zweifel ziehen, er plädierte aber dafür, hinter die Zahlen zu schauen und die Zusammenhänge genau zu analysieren. Nach seinem Urteil sei die Einführung von Hartz IV nicht die wie oft behauptet die Ursache für steigende Armut. Diese sei vielmehr durch die wachsende Lohnungleichheit vor 2005 zu erklären. Für den Volkswirtschaftler und hohen Vertreter des größten Wohlfahrtsverbandes in Deutschland hat das auch Konsequenzen für den politischen Diskurs. „Wir führen einen Niedergangsdiskurs losgelöst von den Fakten“, beklagte er. Wenn man nun auch behaupte, dass die gesellschaftliche Mitte von sozialem Abstieg bedroht sei, fördere das nur die Angst. Fakt sei hingegen, dass die soziale Schere von allen Fachleuten keineswegs weiter auseinandergehe, sondern relativ stabil bleibe. Die fortdauernde Skandalisierung der gesellschaftlichen Entwicklung spiele hingegen nur jenen in die Arme, die auf populistische Weise die Mitte für sich zu mobilisieren zu versuchen, ohne eine tatsächliche Lösung anbieten zu können. Prof. Cremers Rezept dagegen lautet: „Wir brauchen eine sachliche Analyse, daran müssen wir festhalten. Empathie für die Armen ist damit aber nicht ausgeschlossen.“
Die Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch XII nur als Ausdruck der Armut zu verstehen, wertet Prof. Cremer als falsch. „Sie auch aus Ausdruck der Hilfe unseres Sozialstaates“. Die Caritas fordert, diese um 60 bis 80 Euro zu erhöhen, damit man prinzipiell davon wirklich leben könne, ohne dabei auch dauerhaft zum Beispiel auf die Tafel angewiesen zu sein. Folgte die Bundesregierung diesem Vorschlag, würde sich die Zahl der Empfänger um schlagartig um 800.000 erhöhen. Die Erhöhung der statistischen Zahl dürfte man aber dann nicht als Anstieg der Armut bewerten, „sondern wir würden unseren Sozialstaat und die Hilfen verbessern“, forderte er einen positiven Blickwinkel ein.
Zuweilen stehe sich aber auch der Sozialstaat selbst im Wege, weil wie zum Beispiel bei Jugendlichen, die einer gezielten Förderung für die Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt bedürften, je nach Situation das Jobcenter, die Arbeitsagentur oder die Jugendhilfe zuständig sein. Diese verkrustete Versäulung der Zuständigkeiten helfe aber oft den Menschen nicht. Mehr Flexibilität und Abstimmung wäre hilfreich, damit die betroffenen Personen auf ihrem Weg nur einen Ansprechpartner hätten. Der Generalsekretär der Caritas in Deutschland wünscht sich deshalb eine Erweiterung des Gerechtigkeitsbegriffes auf die der Befähigungsgerechtigkeit. Nur wenn die Menschen ihre Potenziale entwickeln und man ihnen helfe, ihre individuellen Entwicklungschancen heben und fördern zu können, leiste man wirkliche Armutsprävention. „Hier wünsche ich mir mehr Innovation, wenn ich auch die verstehe, die um ihr Budget kämpfen müssen und Nichtzuständigkeiten für sich ablehnen.“
Pauschale Forderungen nach einer Rentenerhöhung sind in den Augen Prof. Cremers zwar wohlklingend, doch man müsse genau hinschauen, ob denn die von Armut betroffenen älteren Menschen davon profitierten. Sein Urteil: „Nichts“. Eine Erhöhung um drei Prozent bringe den mit guten Renten einen großen Sprung, den mit einer mittleren Rente einen kleinen Zusatz und jeden, die auf Grundsicherung angewiesen ist, nichts. Denn die Erhöhung wird sofort verrechnet und wird wieder abgezogen. „Wir nähmen also viele Milliarden in die Hand und hätten gleichzeitig nichts gegen die Altersarmut getan.“
Für den harten Kern der Langzeitarbeitslosen und nur schwer in den Arbeitsmarkt zu vermittelnden Personen wünscht Prof. Cremer sich einen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt. „Wettbewerbsneutrale Beschäftigungen“ wie bei den Ein-Euro-Jobs damit zu schaffen, hält er allerdings für einen Fehler. „Das ist praxisfern.“ Er plädiert deshalb auch im Sinn der Befähigungsgerechtigkeit für „relevante, arbeitsnahe Tätigkeiten“. Damit aber daraus keine Verlagerung weg von regulären Beschäftigungen in diesen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt geschehe, sollten sich die Jobcenter an den Rat der Tarifpartner binden.
Den ganzen Abend klang immer wieder Prof. Cremers Grundanliegen an, auch in der Diskussion um die Integration von Flüchtlingen durch Bildung und Arbeit oder um den Wohnungsmarkt an. Anklage sei nicht der richtige Weg, aber eine genaue Analyse der unterschiedlichen Lebens- und Armutssituationen sowie der Gegebenheiten. Daraus leitet sich auch sein Appell ab, nicht den großen Wurf für mehr Gerechtigkeit unbedingt anzustreben, „wir müssen bereit sein auch zum Stückwerk“, „wir müssen bereit sein zu zähen Schritten, um alle Potentiale zu nutzen.“ Dann würde die Armut auch wirklich weniger. Wenn der Bundestagswahlkampf sich auch mit sozialer Gerechtigkeit beschäftige und dabei tatsächlich konkrete Lösungsansätze zur Diskussion stellt, begrüßt der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes Prof. Dr. Cremer das. Was er nicht will, ist ein populistischer Wettstreit losgelöst von den Fakten.
Augsburgs Bürgermeister und Sozialreferent Dr. Stefan Kiefer sprach sich ausdrücklich für diesen Ansatz aus. „Wir haben ein sehr starkes Sozialsystem auch mit ausdrücklichen Ansprüchen“, sagte er in seinem Schlusswort. „Trotzdem müssen wir uns fragen, was wirkt und was nicht.“ Denn es gehe nicht nur um viel Geld, sondern im Kern um Menschen. Zur Erinnerung an den Besuch in Augsburg überreichte er am Ende des Abends Prof. Cremer ein Buch über die Augsburger Gewerkschaftsgeschichte.