Menü
Wichtiges

Vortrag von Erzbischof Gerhard Ludwig Müller: Das Menschenbild Gottes – der Heilige

vortrag-von-erzbischof-gerhard-ludwig-mueller-das-menschenbild-gottes-der-heilige981049
09.07.2013

"Heilig sein hat etwas mit uns zu tun. Heilige sind Menschen wie Du und ich." Das hat der Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation, Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, in einem Vortrag am vergangenen Freitagabend (5. Juli) im Haus Sankt Ulrich gesagt. Sein Thema war: "Das Menschenbild Gottes: der Heilige". Den Text seines Vortrages dokumentieren wir im Folgenden.

Das Menschenbild Gottes – der Heilige

Da die Getauften in Jesus Christus ein „neues Geschöpf werden“ (2 Kor 5,17), spricht Paulus die Christen als „die Heiligen“ an. Ihnen gilt der Imperativ: „Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,24). „Der Heilige Israels“ (Jes 41,14; Ez 39,7) ist Gott, der Erlöser seines Volkes. In Jesus, dem „Heiligen Gottes“ (Mk 1,24; Lk 4,34) ist den Berufenen der Eintritt in den Bereich der Königsherrschaft Gottes gewährt, die in der Taufe auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes (Mt 28,19) Teilnahme und Mitvollzug an seinem dreifaltigen Leben eröffnet. Darum beruht das Heiligsein derer, die sich auf den „Namen Jesu“ (Apg 2,37-41), des Sohnes des Vaters und Gesalbten des Heiligen Geistes, taufen lassen, nicht auf ihren ethischen Leistungen, auf der Genialität tiefreligiösen Menschentums, auf psychosozialen Prozessen oder einer mystisch-magischen Einswerdung mit der „Natur“. Christlich gesehen entspringt die Heiligkeit des Menschen aus der Zuwendung des personalen Gottes zum Menschen, den er geschaffen hat und dessen Vollendung er ist, wenn er sich ihm als Liebe mitteilt. Zur Neuwerdung im Namen Jesu, der uns als der einzige Name gegeben ist, durch den wir selig werden können (Apg 4,12), gehört das Hinzugefügtwerden zur Gemeinschaft der an Christus Glaubenden, nämlich der Kirche, die das von der Einheit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes geeinte Volk Gottes, Leib Christi und Tempel des Heiligen Geistes ist[1].

Verehrung der Heiligen im christlichen Kontext bezieht sich nicht auf höhere personifizierte Mächte („die Götter der Heiden“), auf vergötterte Menschen („die heidnischen Heroen“) oder auf Personen mit mysteriösem Kontakt zur höheren Welt. Wenn Christen gedenkend und dankend aufschauen zu ihren Vorfahren im Glauben, die gleich ihnen Glieder am Leib Christi, der Kirche, sind, dann richten sie sich an ihre Brüder und Schwestern in Christus. Die Heiligen der Kirche sind nicht personifizierte und verabsolutierte „Mächte und Gewalten“, sondern Menschen mit einem menschlichen Antlitz, auf denen die Herrlichkeit Christi als die uns zugewandte Liebe und Nähe Gottes aufleuchtet. Die durch ihren Tod hindurch in Christus vollendeten Heiligen sind mit den Christen im Pilgerstand dieses irdischen Lebensweges in der Gnade verbunden, durch die sie in das Leben des dreifaltigen Gottes eingefügt worden sind und in der alle in der communio sanctorum verbunden sind. Die sancti sind verbunden durch die sancta der Taufe und der Eucharistie mit dem sanctus, dem allein heiligen Gott.

Die Verehrung der Heiligen ist nicht, wie manche Polemik glauben machen wollte, von außen in die christliche Frömmigkeit eingedrungen. Es handelt sich nicht um eine Verwässerung des klaren Monotheismus durch heidnisch-polytheistische Restbestände oder um die unbewusste Fortsetzung paganer Verhaltensmuster der christlich gewordenen Massen nach der Konstantinischen Wende oder um bloße Volkspädagogik.

Die Heiligen prägen das Leben der Menschen

Die Heiligenverehrung des christlichen Mittelalters bis in die Barockfrömmigkeit darf als ein Beispiel gelungener Inkulturation gelten. Der Glaube ist bis in das Alltagsleben hinein zum alles prägenden und erhellenden Faktor geworden. Die bayerische Volksfrömmigkeit hat nichts Aufgesetztes an sich. Sie ist ein Beispiel gelungener Inkarnation. Hier ist Jesus Christus wirklich zu Hause: „Er kam in sein Eigentum ... und denen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben“ (Joh 1,12).

Wenn man ohne Vorurteile die Entstehungsgeschichte der Heiligenverehrung von den biblischen Anfängen bis zur endgültigen Ausbildung nach dogmatischem Inhalt und liturgischer Formgebung um die Mitte des 3. christlichen Jahrhunderts nachvollzieht, dann zeigt sich, dass nur eine spontane Erfassung des Zusammenhangs wesentlicher Ansichten von Gott, Jesus Christus, Gnade und kirchlicher Heilsgemeinschaft eine gleichgerichtete Entwicklung in Ost und West in Gang bringen konnte. Entscheidend ist das Verhältnis zu Gott, der als der Schöpfer bekannt wird, der den Menschen zur Gottunmittelbarkeit befähigt, ihn erlöst von den „Zwängen und Gewalten des Kosmos“, der politisch-totalitären Herrschaft, dem blinden Schicksal der Naturgewalten etc. Eine theozentrische Sicht der Wirklichkeit, in der wir stehen, lehrt uns, dass wir berufen sind zur „Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21).

Der neue Mensch in Christus

Diejenigen, die durch den Glauben an Christus den inneren und äußeren Mächten der Selbstzerstörung entkommen sind, haben den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und sind zu einem neuen Menschen geworden, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen. Denjenigen, die „mit Christus in Gott leben“, gilt: „Ihr seid von Gott geliebt, seid seine auserwählten Heiligen“ (Kol 3,11-12). Aus der neuen Sicht der Welt als Schöpfung Gottes und aus der unverlierbaren Gemeinschaft des Menschen mit Gott in der Menschwerdung des Sohnes des ewigen Vaters und der endzeitlichen Ausgießung des Geistes beider in unsere Herzen (Röm 5,5) ergibt sich ein neues Menschenbild: Der Mensch ist Person, der seine in der Freiheit konzentrierte Geistnatur auf den transzendenten Gott hin vollzieht, der uns in der Immanenz des Menschen Jesus von Nazaret und der Gemeinschaft seiner Jünger, der Kirche, real, konkret, leibhaftig, gemeinschaftlich und geschichtlich begegnet. Bei der Heiligenverehrung, in der „der endzeitliche Charakter der pilgernden Kirche und ihre Einheit mit der himmlischen Kirche“ (Lumen Gentium 7) zum Ausdruck kommt, handelt es sich um ein spezifisch christliches Phänomen und nicht um eine christlich verschobene Heldenverehrung, wie sie die großen totalitären Ideologien der drei letzten Jahrhunderte, auch mit gezielt antichristlicher Zielsetzung praktiziert haben.

Der Heilige gibt sich Gott hin

Dass eine religiöse Tradition ihre großen Persönlichkeiten im Gedächtnis behält, sich in ihren Absichten wiedererkennt oder in Krisenzeiten an ihrem Beispiel aufrichtet, ist gewiss nichts Ungewöhnliches. In der christlichen Beziehung zu den großen Gestalten der Heils- und Kirchengeschichte, den Propheten, Aposteln, Märtyrern, Asketen, Bekennern, heiligen Bischöfen, Ordensgründern und zu Maria, der Mutter des Herrn (Lk 1,43), kommt hingegen ein ganz eigenartiges Moment zum Ausdruck, das mit dem zentralen Akt des christlichen Glaubens zu tun hat, nämlich der umfassenden Hingabe der geschaffenen Person an Gott als Ursprung und Ziel des Menschen. Der Beter erkennt in Jesus Christus, dem menschgewordenen ewigen Wort des Vaters und in seiner Gabe, dem Heiligen Geist, Gott selbst als den „der sich zu seiner Mitte und zu seinem Lebensprinzip gemacht hat (Gal 2,20; Phil 1,2 1; Röm 5,5). So steht der Mensch nicht mehr nur Gott gegenüber und Gott kommt ihm nicht nur näher. Dass Gott mit seiner Macht, seiner Güte und Liebe, die er selber ist, den Menschen durchdringen will, ihn seinem ewigen seligen Leben anverwandeln will und so heilig macht, gibt erst der christlichen Religion und dem christlichen Menschenbild den unverwechselbaren Akzent.

In Christus Bild Gottes werden

Der Mensch als geistiges und freies Geschöpf kann nicht nur passiv vor Gott stehen und nur Empfänger sein wollen. Alles von Gott allein begonnene Wirken zielt darauf, dass der Mensch in Christus zu einem Bild Gottes wird. Die höchste Angleichung an Gott ist aber erreicht, wenn der Mensch nicht nur Gottes Güte empfängt, sondern sie auch weiterschenkt, wenn er so zu einem Kooperator Gottes wird (1 Kor 3,9; 2 Tim 2,15). Dies ist freilich kein äußerer Zusatz zu Gottes Wirken. Gott will vielmehr die Mitteilung seiner Liebe auch durch die Liebe, die die Menschen von ihm empfangen haben, weitergeben, damit die soziale Seite seiner Heilsgegenwart deutlich bleibt: „Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen, und er wird noch größere vollbringen, denn ich gehe zum Vater“ (Joh 14,12).

Sich für Gott „disponieren“

Dabei erfüllt Gott allein alle Bitten, aber so, dass er Gebet und Fürbitte, wodurch die freien Geschöpfe mit ihm verbunden sind, als Mittel und endliche Ursachen aufgreift, um dadurch seinen Heilsplan auszuführen. Jede Fürbitte eines vollendeten Heiligen bei Gott hat darum nicht den Sinn, Gott erst zu informieren über das, was den Beter bewegt. Der Beter spricht den Heiligen, an den er sich wendet, auch nicht darum an, dass dieser so lange werbend auf Gott einredet, bis Gott sich einer Angelegenheit annimmt, die ihm bislang noch gleichgültig war oder fern lag. Gott kann auch nicht zu etwas bewegt werden, was er vorher nicht oder so nicht gewollt hat. Denn wir beten ja nicht Gottes wegen, sondern immer unseretwegen, damit wir uns öffnen und disponieren für den Willen Gottes, der mit unserem Heil identisch ist. Je mehr ein Mensch aber mit Gott vereint ist, d.h. je tiefer er von Gottes Heiligkeit endgültig durchformt ist, desto mehr geht auch seine Güte und Liebe zu den Brüdern und Schwestern konform mit der Güte Gottes, der sich uns als Mitte unseres Lebens zu eigen geben will.

„Bleibende Vorbilder des christlichen Lebens“

Die Beziehung der Heiligen auf bestimmte Formen der Spiritualität, auf einzelne Probleme und Nöte des Lebens hat lediglich subjektive Bedeutung. Es können sich Wahlverwandtschaften einzelner Christen oder Gemeinschaften bilden, insofern ein einzelner Heiliger eine bestimmte Seite des Christlichen zu einer überzeugenden Darstellung gebracht hat, die nun schöpferisch umgesetzt wird in die Gestaltung des eigenen Weges zu Gott. So sind die Heiligen „bleibende Vorbilder des christlichen Lebens, als solche, in welchen sich Christus ausgeprägt hat, in welchen er sich auf tausendfache Weise reflektiert, den ganzen Umfang der durch ihn möglich gewordenen Tugenden zur lebendigsten Anschauung bringt und als Muster für alle Lebensverhältnisse aufgestellt hat“[2].

Wir verehren also die Heiligen, nicht weil wir neben Gott weitere Gegenstände der Andacht brauchen oder weil sie uns als Menschen näher stehen als Gott - wer könnte uns näher sein als der Schöpfer und der Erlöser, dessen Güte und Menschenfreundlichkeit erschienen ist in Jesus Christus (Tit 3,4) - sondern weil sich in ihnen Gottes Gegenwart in der Welt in Personen sichtbar macht und weil in Jesus Christus, dem Gott-Menschen, Gott und Mensch und die Menschen untereinander durch das eine Band der Vollkommenheit, die Liebe, verbunden sind (Kol 3,14).

„Denen, die ihm folgen, gibt er Leben“

Der Christ ehrt die Heiligen darum, weil Gott selbst die ehrt, die ihm dienen (Joh 12,26). Denn der Mensch kann nicht durch irgendeine Gabe Gott die Ehre geben. Die Ehre Gottes in der Schöpfung ist vielmehr der Mensch selbst, der Gottes Leben und Liebe in sich aufnimmt: „Gott braucht keine unterwürfigen Menschen; seinerseits gibt er aber denen, die ihm folgen und dienen, Leben, Unverweslichkeit und ewige Herrlichkeit ... So wenig Gott jemanden braucht, so sehr braucht der Mensch die Gemeinschaft mit Gott. Der Ruhm des Menschen ist es, im Dienst Gottes zu bleiben“[3]. Wegen der inneren Durchformung des Glaubenden durch die Gegenwart Gottes allein kann der Christ in den schon vollendeten Brüdern und Schwestern Gott ehren und sie in Gott verehren.

Das II. Vatikanische Konzil hat im 7. Kapitel der Kirchenkonstitution das fürbittende Gebet der pilgernden Kirche für die Verstorbenen und die Bitte um das Gebet der vollendeten Heiligen für uns integriert in die eschatologische Sicht der Kirche, die bestimmt ist durch den Aspekt ihrer Einheit mit der himmlischen Kirche. Die Heiligenverehrung wird auch aus ihrer Isolierung herausgenommen. Sie ist nur zu verstehen und zu praktizieren im Geheimnis Christi und der Kirche. Die vier wesentlichen Aspekte werden hervorgehoben (Lumen Gentium 50):

„Wenn wir nämlich auf das Leben der treuen Nachfolger Christi schauen, erhalten wir neuen Antrieb, die künftige Stadt zu suchen (vgl. Hebr 13,14 und 11,10). Zugleich werden wir einen ganz verlässlichen Weg gewiesen, wie wir, jeder nach seinem Stand und seinen eigenen Lebensverhältnissen, durch die irdischen Wechselfälle hindurch zur vollkommenen Vereinigung mit Christus, nämlich zur Heiligkeit, kommen können. Im Leben derer, die, zwar Schicksalsgenossen unserer Menschlichkeit, dennoch vollkommener dem Bilde Christi gleichgestaltet werden (vgl. 2 Kor 3,18), zeigt Gott den Menschen in lebendiger Weise seine Gegenwart und sein Antlitz. In ihnen redet er selbst zu uns, gibt er uns ein Zeichen seines Reiches, zu dem wir, mit einer so großen Bezeugung der Wahrheit des Evangeliums, mächtig hingezogen werden.

Aber nicht bloß um des Beispiels willen begehen wir das Gedächtnis der Heiligen, sondern mehr noch, damit die Einheit der ganzen Kirche durch die Übung der brüderlichen Liebe im Geiste gestärkt werde (vgl. Eph 4, 1 -6). Denn wie die christliche Gemeinschaft unter den Erdenpilgern uns näher zu Christus bringt, so verbindet auch die Gemeinschaft mit den Heiligen uns mit Christus, von dem als Quelle und Haupt jegliche Gnade und das Leben des Gottesvolkes selbst ausgehen. So ziemt es sich also durchaus, diese Freunde und Miterben Christi, unsere Brüder und besonderen Wohltäter, zu lieben, Gott für sie den schuldigen Dank abzustatten, ,sie Hilfe suchend anzurufen und zu ihrem Gebet, zu ihrer mächtigen Hilfe Zuflucht zu nehmen, um Wohltaten zu erflehen von Gott durch seinen Sohn Jesus Christus, der allein unser Erlöser und Retter ist'. Jedes echte Zeugnis unserer Liebe zu den Heiligen zielt nämlich seiner Natur nach letztlich auf Christus, der ,die Krone aller Heiligen’ ist, und durch ihn auf Gott, der wunderbar in seinen Heiligen ist und in ihnen verherrlicht wird.

Auf vornehmste Weise wird aber unsere Einheit mit der himmlischen Kirche verwirklicht, in der die Kraft des Heiligen Geistes durch die sakramentalen Zeichen auf uns einwirkt, das Lob der göttlichen Majestät in gemeinsamem Jubel zu feiern. So verherrlichen wir alle, die im Blute Christi aus allen Stämmen, Sprachen, Völkern und Nationen erkauft (vgl. Offb 5,9) und zur einen Kirche versammelt sind, in dem einen Lobgesang den einen und dreifaltigen Gott.“

[1] Vgl. Apg 2,41; 20,28; Cyprian von Karthago, De oratione Dominica 23; II. Vatikanisches Konzil, Lumen Gentium 4.

[2] Johann Adam Möhler, Symbolik § 52.

[3] Irenäus von Lyon, Gegen die Häresien IV 14,1.