Vom Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben und von der Pflicht zum Engagement
„Assistierter Suizid - Leben am Lebensende“ lautete der Titel eines Vortrags von Weihbischof Dr. Dr. Anton Losinger, den die Teilnehmer der Vollversammlung des Diözesanrats am 18. Juni um 18 Uhr online mitverfolgen durften, von 2005 bis 2016 Mitglied des deutschen Ethikrates und derzeit des bayerischen Ethikrates, analysierte zunächst die seit letztem Jahr neue Ausgangslage: Nach der jahrelangen Diskussion über Suizid und Sterbehilfe hatte im Februar 2020 das Bundesverfassungsgericht entschieden, Würde und Freiheit des Menschen geböten, dass jeder seinen Todeszeitpunkt frei festlegen und sich bei der Durchführung der Hilfe Dritter bedienen könne. Auf diese Weise hat das Selbstbestimmungsrecht über das eigene Leben eine Dimension über die bisher diskutierten Fälle von tödlichen Krankheiten und unerträglichen Schmerzen oder sonstigen ausweglosen Zuständen wie Demenz hinaus erlangt. Losinger sieht deshalb eine Verschiebung in der Interpretation des Menschenbildes unserer Verfassung von der Sozialität und Vulnerabilität des Menschen hin zur reinen Individualität und Autonomie.
Die Problematik verschärfe sich aber durch und für das Umfeld des Einzelnen, für dessen Letalität oder Lebensmüdigkeit eine schiefe Ebene erreicht worden sei, in der der Ball des Lebens nach unten, in die Todesrichtung zu rollen drohe. So werde für den Menschen die Situation schwerer Krankheit, seelisch-psychischer Not oder Pflegebedürftigkeit zum Anlass, sich selbst als beseitigbare Belastung seines Umfeldes zu sehen. Damit stelle sich zugleich die Frage nach Assistenz bei bzw. Durchführung der Suizidierung, denn das Bundesverfassungsgericht hatte ja mit seinem Urteil das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung durch den Bundestag aufgehoben. Damit käme, so Losinger, neben sog. Sterbehilfeorganisationen (wie Dignitas oder Exit in der Schweiz) nun auch der Arzt als Helfer oder Ausführender in Frage.
Weihbischof Losinger erinnerte mit dem Stichwort „nihil nocere“ – „niemandem schaden“ daran, dass der Hippokratische Eid den Ärztestand seit jeher verpflichtet, „niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift zu verabreichen oder auch nur dazu zu raten“. Nun habe der Deutsche Ärztetag kürzlich das darauf basierende berufsrechtliche Verbot der ärztlichen Suizidbeihilfe aufgehoben. Erwachse daraus auch weder eine normale ärztliche Dienstleistung noch die Pflicht des einzelnen Mediziners zur Suizidassistenz, so verschiebe sich doch, mit den Worten des früheren Präsidenten der Ärztekammer Franz Ulrich Montgomery, das Arztbild „vom Helfer zum Vollstrecker“.
Die Kirche hingegen habe sich stets für eine Förderung der Palliativmedizin ausgesprochen. Tatsächlich habe in diesem Bereich die medizinische Forschung dramatische Fortschritte gemacht, sodass in den allermeisten Fällen auch extreme Schmerzen unterbunden werden könnten, eine Aussicht, die erfahrungsgemäß Abstand von der Suizidabsicht entstehen lasse. Als zweiten Schwerpunkt kirchlichen Wirkens nannte Weihbischof Losinger den Ausbau der Hospizarbeit: Menschen in einem austherapierten Zustand, deren Lebensbogen sich gewissermaßen geneigt habe, könnten im Hospiz in Freiheit und liebevoll begleitet ihre letzten Tage verbringen. „Ars moriendi“, die alte „Kunst des Sterbens“, wozu auch die Versöhnung am Lebensende gehöre, werde auf diese Weise kulturell wiederentdeckt.
In diesem Zusammenhang erinnerte Weihbischof Losinger auch an das Schicksal von Walter Jens, der als bedeutender Intellektueller einst öffentlich kundgetan hatte, er wolle sich im Falle der Demenz das Leben nehmen. Tatsächlich erkrankte der Rhetorikprofessor an Demenz, starb aber eines natürlichen Todes. Seine Frau Inge Jens erzählte, dass er in der Situation dieser Krankheit auf wunderbare Weise neue Lebensfreude gewonnen und deutlichen Lebenswillen geäußert hätte.
Weihbischof Losinger warnte vor aber drei Illusionen: Erstens, man könne das Suizid-Phänomen beseitigen, zweitens man könne das Bundesverfassunggerichtsurteil revidieren und drittens, wir seien als Kirche in der Situation, dass unser Grundsatz von der Unverfügbarkeit des Menschenlebens von der Gesamtgesellschaft angenommen werde. Vielmehr verschlechtere sich die kirchliche Stellung durch die Uneinigkeit in den Kirchen, wie durch einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ersichtlich. Dort hatten sich Anfang Januar drei evangelische Theologen für die Integration des assistierten Suizids in diakonische Einrichtungen ausgesprochen. Zwar hätten, wie der Referent berichtete, evangelischerseits Theologen wie Peter Dabrock, Vorsitzender des deutschen Ethikrates, sowie Bischöfe wie Wolfgang Huber und Heinrich Bedford-Strohm widersprochen, ebenso auf katholischer Seite der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, aber die Uneinigkeit blieb (erneuter Artikel FAZ 25.5.21).
Das nationale Suizidpräventionsprogramm der Bundesregierung zeige bei den allermeisten vollzogenen Suizidfällen sowohl eine psychische Notlage als auch die prekäre Situation von Pflege und Krankheit. Damit sei mehrheitlich eben nicht die Selbstbestimmung des Einzelnen als Ursache für den Suizidwunsch angesehen. Im Laufe seines Vortrags verwies der Ethikexperte auf folgende lohnenswerte Lektüre:
Die Erklärung der Pastoralkommission der deutschen Bischöfe: „Bleibt hier und wacht mit mir!“ (Mt 26,38). Palliative und seelsorgliche Begleitung von Sterbenden. 23. Februar 2021 (DB-Kommission Nr. 51) https://www.dbk-shop.de/de/publikationen/die-deutschen-bischoefe-kommissionen/erklaerungen-kommissionen/bleibt-wacht-mir-mt-26-38-palliative-seelsorgliche-begleitung-sterbenden
Ferdinand von Schirach: GOTT. Ein Theaterstück. Luchterhand Literaturvlg. 2020.
Im Fernsehen: https://www.daserste.de/unterhaltung/film/gott-von-ferdinand-von-schirach/index.htmlDemenz und Selbstbestimmung. Stellungnahme des Deutschen Ethikrats. Berlin 2012. https://www.ethikrat.org/mitteilungen/mitteilungen/2012/deutscher-ethikrat-selbstbestimmung-demenzbetroffener-achten-und-bewahren/
In der sich dem Referat anschließenden Diskussion wies Weihbischof Losinger darauf hin, dass die schiefe Ebene in eine noch drastischere Schieflage geraten würde, entspräche der Gesetzgeber dem Bestreben der Parteien „Bündnis 90/Die Grünen“ und „Die Linke“, sämtliche Lebensschutzparagraphen aus dem Strafrecht zu tilgen: 217, 218 und 219. Ferner forderten Fortpflanzungsmediziner die Aufhebung des Embryonenschutzgesetzes und des Stammzellgesetzes, um die Keimbahntherapie (Genmanipulation), die CRISPR/Cas-Methode (Genschere) und das Klonen zu ermöglichen.
Diese bioethischen Fragen betreffen den Menschen am Anfang und am Ende seines Lebens bzw. in Situationen, die so belastend sind, dass Einzelne so nicht weiterleben möchten. Die Bedeutung der Antworten, die wir alle – auch durch unser Engagement und unsere Wahlentscheidung – darauf geben, machte Weihbischof Anton Losinger an einem Wort fest, das dem früheren Bundespräsidenten Horst Köhler zugeschrieben wird: „Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den schwächsten ihrer Glieder verfährt.“ Dies aber wird aus der moralischen Substanz vieler Einzelner reguliert, womit jedem Gläubigen eine Aufgabe für das Gemeinwesen, ein Weltauftrag zukommt. Deshalb erinnerte der Weihbischof abschließend an das berühmte Wort des katholischen Juristen Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“
Michael Widmann