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Predigt anlässlich der 200-Jahr-Feier zur Wiedererrichtung des Bistums Augsburg am 27. November 2021 in der Ulrichsbasilika

Das Jahr 1821: „Vom Kollaps zur Blüte“ Bischof und Domkapitel: füreinander gemeinsam unterwegs

27.11.2021

Liebe Mitbrüder im bischöflichen, priesterlichen und diakonalen Dienst, liebe Mitglieder des Domkapitels, liebe Schwestern und Brüder,

des einen Freud, des andern Leid – dieses Sprichwort kam mir in den Sinn, als ich darüber nachdachte, welche Entwicklung die beiden Bistümer Augsburg und Konstanz nach der Säkularisation genommen haben: Während mit Konstanz eines der ältesten (gegründet ca. 584) und sowohl in der Fläche als auch an Personenzahl größten Bistümer Mitteleuropas von der Landkarte verschwand, erhielt Augsburg gewissermaßen eine zweite Chance - und wieder einen Zugang zum Bodensee.

Wer hätte das im 10. Jahrhundert gedacht? Damals (934) wurde Konrad von Altdorf unter dem Einfluss des hl. Ulrich zum Bischof von Konstanz gewählt und auch von ihm geweiht. Wenn man den Quellen und vor allem der legendarischen Ausschmückung (vgl. Vita Sancti Uodalrici, Add.3, S.409) glauben darf, verband die beiden Männer nicht nur die Treue zum ottonischen Herrscherhaus, sondern auch eine tiefe geistliche Freundschaft. In der Ulrichsvita wird mehrfach von Besuchen unseres Bistumspatrons in Konstanz berichtet, zumal er aufgrund seiner Ausbildung bei den Benediktinern in St. Gallen ja auch sehr gut mit der Abtei auf der Reichenau sowie von Meinradszell, das später Einsiedeln heißen sollte, vernetzt war.

Heute können wir uns kaum mehr vorstellen, was der sog. Reichsdeputations-hauptschluss von 1803 für Bischöfe, Klerus, Ordensleute und Gläubige in Deutschland bedeutete: Enteignung und Entmachtung als traumatische Erfahrung! Fast 20 Jahre kämpften vor allem die Ordensfrauen mit zähem Gottvertrauen und wiederholten Petitionen um die Wiedererlangung ihrer Daseinsberechtigung, die ihnen seit der Reformation nicht mehr so radikal abgesprochen worden war.

Zwei Jahrzehnte Vakuum in einem rechtlich instabilen Raum: Alles musste neu ausgehandelt werden, Anzahl und Grenzen der Bistümer, Bischofssitze und Nominationsrecht für künftige Bischöfe[1]: eine Art moderner Investiturstreit, wie wir ihn, erheblich abgeschwächt, auch heute hin und wieder diskutieren.

Exemplarisch zeigt der Werdegang des „letzten geistlichen Reichsfürsten“ Karl Theodor von Dalberg (1744-1817), welch eine Zeitenwende diese Generation zu verkraften hatte: Die Bühne des 19. Jahrhunderts betrat Dalberg um 1800 als Fürstbischof von Konstanz, die nächste Station war Worms, dann folgte Mainz (1802). Gerade Erzkanzler des Heiligen Römischen Reiches und Primas von Deutschland, wurde er ein Jahr später zum Administrator (1803) und Erzbischof (1805) von Regensburg ernannt. Wie eine Schachfigur versetzt, ließ sich Dalberg weder entmutigen noch zog er sich wegen des Karriereknicks beleidigt zurück; im Gegenteil: Er engagierte sich in der Seelsorge, hielt sein Domkapitel durch großen Einsatz und Gebet zusammen und mühte sich, ganz gewiefter Diplomat und Kirchenmann, um ein Reichskonkordat, das aber mangels eines adäquaten Gegenübers nicht zustande kam; so blieb „dem Päpstlichen Hof“ nichts anderes übrig, als sich auf „ Einzelverträge“ zu verlegen und „mit Bayern ein Musterkonkordat für alle anderen deutschen Länder abzuschließen.“[2] Das hat unser Bistumshistoriker, Domkapitular Dr. Thomas Groll, in seinem Aufsatz eindrucksvoll entfaltet. Herzlichen Dank für die inspirierenden Impulse zu unserem heutigen Gedenken! Seit 1803 war Bayern ein Königreich von Napoleons Gnaden. Das Haus Wittelsbach sowie andere Adelsfamilien wurden für ihre Bündnistreue mit Grundbesitz, Immobilien und einem über Jahrhunderte sorgsam gehüteten Kirchenschatz entlohnt. Dass bei dieser Konfiszierung auch viele Kulturgüter, vor allem ganze Bibliotheken, verloren gingen, haben wir schon in der Schulzeit mit Erschrecken gehört. Obgleich nun das mühsam ausgehandelte Konkordat ab 1817 in den zentralen Punkten fixiert war, dauerte es noch weitere vier Jahre, bis es - nochmals modifiziert - im Herbst 1821 endlich in Kraft trat. Zwar gingen dem Bistum Augsburg im Zuge der Neuordnung einige Gebiete verloren, zugleich bekam es aber vier Dekanate (Legau, Lindau, Stiefenhofen, Weiler) des im August desselben Jahres aufgelösten Bistums Konstanz zugesprochen.[3]

Das jahrelange Tauziehen zwischen Kirche und Staat war, wie man sich denken kann, für die Seelsorge eine Katastrophe: „Wir haben jetzt in ganz Bayern einen einzigen Bischof, der noch imstande ist, altershalber zu funktionieren, und dieser ist der Weihbischof von Eichstätt (…). Bald wird also niemand mehr das Firmsakrament empfangen können, bald werden die Theologen um die Priesterweihe ins Ausland fahren müssen“[4], klagte im Dezember 1819 der spätere Passauer Bischof Karl Joseph von Riccabona seinem Bruder.

Doch in unserem Bistum verzögerten nicht nur Alter und Tod, sondern auch kirchenpolitisches Kalkül – man darf es wohl schlicht: Verantwortungslosigkeit nennen - die Wiederbesetzung des seit 1812 verwaisten Bischofsstuhls. Nach einigem Hin und Her zwischen Augsburg, München und Rom wurde schließlich Joseph Maria von Fraunberg (1768-1842) zum Bischof ernannt, ein, wie sich bald herausstellte, „tüchtiger und unerschrocken für die Rechte der Kirche eintretender Oberhirte.“[5]

Am 1. November 1821, noch vor seiner Bischofsweihe, die erst 10 Tage später durch den Münchner Nuntius Francesco Serra di Cassano erfolgen sollte, setzte Fraunberg das Domkapitel

neu

ein, und dies im Wortsinn - nur ein einziges Mitglied stellte noch die Kontinuität zum ehemaligen Gremium her. Die Augsburger Domkapitulare hatten nämlich nach 1803 kapituliert: Das Kapitel kapitulierte. Es setzte weder das gemeinsame Chorgebet fort noch traf es sich weiter zu regelmäßigen Sitzungen. Das äußere Chaos hatte also innere Gleichgültigkeit zur Folge – oder, so möchte ich fragen, war es vielleicht umgekehrt, dass die Lauheit des Klerus auch eine Steilvorlage war für die Aushöhlung der gesellschaftlichen Rolle der Kirche?

Der designierte Bischof jedenfalls sprach seinen Mitbrüdern kraftvoll ins Gewissen, beschwor sie, „die vollkommenste Eintracht unter sich zu erhalten und sorgfältig zu bewahren“, und wies auf das gemeinsame „erhabene Ziel“ hin, nämlich „die Ehre Gottes durch Verbreitung seines Reiches und dadurch das ewige Wohl der uns anvertrauten Herde zu befördern.“ Ausdrücklich nimmt Fraunberg in seiner „Rede zur kanonischen Einsetzung und feyerlichen Installation des hochwürdigen Domkapitels“ auf die beiden Bibelstellen Bezug, die wir soeben in Erinnerung an diesen denkwürdigen Akt als Lesungstexte gehört haben.

Die Weitergabe des Glaubens lebt vom Erinnern und Erzählen. Das Jesuswort, „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22,19), sprechen wir Priester in jeder Eucharistiefeier; es ist uns allen Mahnung zu Umkehr und Neuanfang. Spürt man etwas davon? Nehmen wir und vor allem nehmen andere wahr, dass die Wandlung am Altar eine Wandlung im Leben auslöst? Lassen wir zu, dass das Heilsgeheimnis auch in unseren Alltag hineinwirkt? Überprüfen wir unsere Gedanken, Worte und Werke im Lichte des Evangeliums? Wie ernst ist es mir als Bischof, Weihbischof, Domkapitular, als Priester und Seelsorger mit der Verantwortung, die mir in die Hände gelegt ist? Zugespitzt: Wie oft mache ich mir bewusst, dass ich nicht nur Menschen gegenüber rechenschaftspflichtig, sondern DEM Rede und Antwort schuldig bin, der Herr der Geschichte ist?

Macht und Einfluss sind vom Evangelium her nicht Errungenschaften, die wir in erster Linie dem eigenen Können oder der eigenen Durchsetzungskraft zuschreiben können; sie beinhalten einen Auftrag zur Fürsorge, zum Dienst. Wir - hier um den Altar versammelt - sind nicht um unserer selbst willen hier, sondern als Menschen, die einmal in die Hand ihres Vorgesetzten versprochen haben, FÜR ANDERE da zu sein! Den heutigen Anlass sehe ich als Chance, im Blick auf die Geschichte innezuhalten mit der Frage, was uns motiviert und antreibt. Im alten Rom sprach der Sklave, wenn er den Lorbeerkranz über das Haupt des triumphierenden Feldherrn hielt, ihm gleichzeitig ins Ohr: „Gedenke, dass Du ein sterblicher Mensch bist!“ Im 16. Jahrhundert gab es aus dem gleichen Grund die Sitte, einen neuen Papst beim Krönungszeremoniell durch den Zuruf, „Sancte pater, sic transit gloria mundi!“, an die Vergänglichkeit allen Irdischen zu erinnern. Wer erfüllt diesen Dienst bei mir und Euch, liebe Mitbrüder, wenn die Versuchung zur Überheblichkeit steigt?

Wir alle haben es nötig, unseren befehlsgewohnten Alltag regelmäßig zu unterbrechen, im Gebet und im Gewissen zu reflektieren, spätestens aber dann, wenn es zu Konfrontationen und Parteiungen kommt, wie sie Paulus in der Gemeinde von Korinth erlebt. - "Wir sagen der Mannschaft immer: Wer zusammenhält, der ist nicht kaputt zu kriegen," so wurde Ende Oktober der scheidende Geschäftsführer vom SSV Jahn Regensburg in der Presse zitiert. Was Christian Keller mit dem Völkerapostel und Bischof Fraunberg verbindet, ist die Einsicht, dass Zusammengehörigkeit und Standfestigkeit einander bedingen. Beides kann weder verordnet werden noch stellt es sich auf Wunsch einfach ein: Es erwächst aus dem Inneren.

Das habe ich selbst erfahren und spüre es noch immer: Ich komme aus dem Domkapitel und freue mich, ins Domkapitel hinein- und mit dem Domkapitel zusammenzuwirken. Bischof und Domkapitel bilden ein Gegenüber, aber nie ein Gegeneinander. Wir sind füreinander gemeinsam unterwegs – zwar in verschiedenen Rollen, aber mit demselben Ziel. Es geht um „unsere“ Diözese!

Tatsächlich herrschte allerdings im Augsburger Domkapitel nach 1821 trotz der eindringlichen Worte des ernannten Bischofs, der bereits zwei Jahre später ins Erzbistum Bamberg abberufen wurde, selten Einigkeit. Ja, es galt „bei der bayerischen Staatsregierung“ sogar „als das schwierigste (Domkapitel) in Bayern“ und noch 1928 beklagte „der Münchener Nuntius“ die mangelnde „Harmonie“ unter den Geistlichen.[6]

Vor 200 Jahren haben die deutschen Katholiken den Kollaps ihrer scheinbar festgefügten Welt erlebt. Vieles Vertraute und Kostbare ging unwiederbringlich verloren. Doch wir wissen, was folgte: Aus dem totgesagten Baumstumpf wuchs ein Reis hervor, das reiche Frucht brachte (vgl. Jes 11,1). Apostolisch tätige Orden erlebten eine neue Blüte[7], christliche Caritas linderte die Not des Massenproletariats, zahlreiche Heilige stellten ihr Leben in den Dienst der Armen und Kranken oder auch der Mädchenbildung. Diese Erfolgsgeschichte verdankt die Kirche in Deutschland ihrem Zusammenhalt, und wenn man so will, ihrem Teamgeist! - Doch nach zwei verheerenden Weltkriegen in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts brauchte es wiederum eine Erneuerung, auch wenn das wohl die wenigsten Verantwortungsträger in der Kirche so klar erkannten wie Papst Johannes XXIII. Er das Überraschungsmoment auf seiner Seite, als er im Januar 1959 die Idee verkündete, das II. Vatikanische Konzil einzuberufen. Heute, bald 60 Jahre danach, ist nicht nur die damalige Aufbruchsstimmung verflogen, sondern vieles, was in den 70er und 80er Jahren selbstverständlich war, ist eingeschlafen, auf Sparflamme gesetzt oder ganz weggebrochen.

Unterdessen hat innerhalb der Kirche in Europa eine Lagerbildung eingesetzt, Fronten haben sich verhärtet und der Ton ist rau geworden. Sexueller und spiritueller Missbrauch, Finanzskandale und anderes mehr drohen den Blick zu verstellen auf den Kern - den Schatz, den besonders wir Kleriker hüten, um ihn hochherzig auszuteilen: Gottes Wort und die Sakramente des Heils.

Wie vor 200 Jahren bedingen sich auch heute die innere und die äußere Krise. Erneut sind wir als einzelne und als Gemeinschaft vor die Entscheidung für Christus gestellt: „Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr, außer weggeworfen und von den Leuten zertreten zu werden“ (Mt 5,13).

Der Rückblick macht klar: Die Kirche um 1800 war von sich aus nicht in der Lage, die dringend nötigen Reformen anzustoßen. Sie musste durch die napoleonischen Kriege und deren Folgen buchstäblich dazu gezwungen werden. Durch dieses Fegefeuer wurde sie geläutert. Auch heute nehmen viele Menschen innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche einen Reformstau wahr: Schaffen wir es aus eigener Kraft, uns zu erneuern, auf die Zeichen der Zeit zu antworten? Ich hoffe es!

Angefragt, nicht ‚angezählt‘ wollen wir freimütig, vertrauensvoll und aufrichtig die Frohe Botschaft verkünden, die Möglichkeiten, die uns Theologie und Kirchenrecht geben, erkunden und ausschöpfen – in Einheit mit dem Heiligen Vater, der Mitte Oktober einen weltweiten Synodalen Prozess angestoßen hat, unter den Leitbegriffen „Gemeinschaft, Teilhabe und Sendung“.

Unsere Daseinsberechtigung, liebe Mitbrüder im geistlichen Dienst, liegt heute darin, wie sehr wir uns in Treue zu den in der Weihe und bei der Aufschwörung ins Domkapitel gegebenen Versprechen darum mühen, die Kirche von Augsburg geistlich zu erneuern. Es gibt viel zu tun, packen wir’s gemeinsam an! Amen.

[1] Vgl. Thomas Groll, Aus dem Zusammenbruch in den Aufbruch. Die Neuorganisation des Bistums Augsburg aufgrund des Bayerischen Konkordats von 1817/1821, 1-37, hier: 14.

[2] Ebd., 2.

[3] Ebd., 10.

[4] Ebd., 11. Die Auflösung des ehemals überaus einflussreichen Bistums Konstanz war übrigens auch im Sinne des Päpstlichen Hofes.

[5] Ebd., 17.

[6] Ebd., 25.

[7] Vgl. ebd., 29: „In dringenden Fällen gab der König (Ludwig I.) wiederholt auch großzügige Beiträge aus seiner Privatkasse und trug so zu einem monastischen Frühling bei, wie es ihn seit dem Hochmittelalter nicht mehr gegeben hatte. So sollte es im Laufe der Zeit auch durch die Entstehung neuer Orden und Ordensgemeinschaf-ten mehr Klöster und Ordenshäuser geben als vor der Säkularisation.“