Die Kirche als Monstranz des leidenden Gottesknechtes
Diesen Tag hatte ich mir schon lange gewünscht: die Wallfahrt zum Gegeißelten Heiland in der Wies. Lange mussten wir darauf warten: zwei Jahre lang. Doch jetzt ist es möglich: Corona macht wenigstens eine Pause, dafür dürfen wir danken. Doch die Wolken des völkerrechtswidrigen, völlig unbegründeten Angriffskrieges, den Russland gegen die Ukraine führt, überschatten unseren Alltag. Wie wird es enden?
Und bei uns in der Heimat schleicht die Angst vor der Inflation herum, vor einem Winter, der in vielerlei Hinsicht schwierig werden könnte. Keiner weiß, wie es ausgeht. Umso mehr freue ich mich, dass wir heute hier sind: zum Danken und Bitten, zum Feiern und zur Begegnung. Herzlich willkommen an alle!
Was ist das Besondere an dieser Kirche? Mir geht es weniger um das Weltkulturerbe, sondern mehr um den spirituellen Kraftort. Für mich war und ist die Wies eine geistliche Oase. Schon als Junge durfte ich jedes Jahr mit dem Bus bei einer Wallfahrtsgruppe meiner Heimatpfarrei Kaufering hierherfahren – mitten unter der Woche und bekam dafür schulfrei. Und es war für mich jedes Mal ein besonders Erlebnis, beim Gegeißelten Heiland ministrieren zu dürfen.
1. Die Wieskirche als Monstranz des Gegeißelten Heilandes
In einer überdimensionalen Tabernakelnische am Hochaltar steht eine ungewöhnliche Figur: kein mit Gold und Edelstein geschmücktes Schaustück, sondern eine armselige Gestalt, aus Holz geschnitzt, zerschunden, an die Geißelsäule gekettet. Das soll die Mitte der Wieskirche sein? Ja! In dieser Monstranz zeigt sich Gott von seiner menschlichen Seite. Die Pracht und den Glanz dieser Kirche begreifen wir erst, wenn wir das Geheimnis dieses Gnadenbildes erfassen.
Vor uns steht das Bild des Erlösers, mit der Schuld der ganzen Welt beladen. Obwohl gebunden, scheint es, als strecke er mir einladend seine Hand entgegen. Die Pilger aller Zeiten und aller Herren Länder verstehen die Botschaft dieser Kirche: Vor Jesus Christus kann ich meine Sorgen und mein Leid, meinen Kummer und meine Tränen tragen. Er versteht mich, denn er leidet selber, er ist einer von uns geworden. Vielleicht haben auch wir nach diesem Wallfahrtstag die Kraft und den Mut, die ausgestreckte Hand Jesu neu zu ergreifen.
2. Die Gemeinschaft der Gläubigen als Monstranz Jesu Christi
Nicht nur das Bauwerk aus Stein ist Kirche, auch das Gotteshaus aus lebendigen Steinen: „Wir alle sind Kirche“. Wie recht die Mitglieder des Kirchenvolksbegehrens schon vor einem Vierteljahrhundert mit dieser Aussage hatten, so wichtig ist es auch, die Bedeutung dieses Slogans klar auszuleuchten: Die Gemeinschaft der Gläubigen ist weder ein demokratischer Verein noch eine aristokratische Monarchie. Als „auserwähltes Geschlecht und königliches Priestertum“ nimmt sie Maß an Jesus Christus, dem ewigen König und Hohenpriester.
So wird gerade in dieser Kirche der Bogen geschlagen zur Eucharistie.
Das Gnadenbild sagt uns: Der Hohepriester ist der Gegeißelte Heiland. Der König der Welt trägt eine Dornenkrone. Im Zentrum des hellen Festsaales, der von der Vielfalt des Lebens strotzt, steht der Schmerzensmann. Darin liegt die Botschaft der Wies, die den Pilgern und Besuchern ins Stammbuch geschrieben ist: Wer sich zur Eucharistie um den Altar versammelt, feiert nicht nur ein Mahl, sondern ein Opfer. Wer zur Gemeinschaft Jesu Christi zählen will, darf nicht nur vom Himmel träumen, sondern muss die Niederungen dieser Erde ernst nehmen und durchstehen: Auf diese Weise wird die Kirche zu einer Art Monstranz Jesu Christi, der unser ganzes Menschsein geteilt hat: von der Krippe bis zum Kreuz, von Betlehem nach Golgota, von Tabor bis Getsemani. Wie tröstlich ist es, dass die Kirche keinen Super-Star zeigt, sondern einen Leidenden, keinen Schönheitskönig, sondern einen Schmerzensmann. So viele Leidende in dem Einen, der für uns gelitten hat! So viele Gefesselte in dem Einen, der für uns die Ketten getragen hat! So viele Gekreuzigte in dem Einen, der für uns am Kreuz gestorben ist! So viele Tote, die in Ihm auferstehen und leben!
3. Das „Weltkulturerbe“ der Wieskirche: den Menschen Christus zeigen
Viele Besucher sagen, dass sie anders die Wies verlassen als sie hineingegangen sind. Die Seitengänge an der Apsis mit den vielen Briefen, die in unterschiedlichen Sprachen an den Gegeißelten Heiland geschrieben wurden, zeigen, dass die Wies eine Art „Kummerkasten“ ist, ein Postkasten, wo man seine Sorgen und Ängste an Jesus Christus senden kann. Christen verschiedener Konfessionen, Gläubige, Zweifelnde und auch Ungläubige fühlen sich vom Gnadenbild angezogen. Sie finden Trost und Hoffnung in ihren Nöten.
Manche haben an diesem Gnadenbild auch ihre Berufung entdeckt. Sie spürten, worum es im Christsein letztlich geht: den Menschen Christus zeigen, selbst eine lebendige Monstranz Jesu werden. Diesem Anliegen entspricht ein pastorales Anliegen, das mein Wirken als Bischof begleiten wird. Es geht um die Berufungspastoral. Der eigentliche Schatz unserer Diözese sind Menschen, die den Spuren Jesu folgen wollen: als Diakone und Priester, in Ordensgemeinschaften und geistlichen Bewegungen, in unseren Familien, auch als Einzelne, im Hauptberuf oder ehrenamtlich. Sie wollen Gott ins Spiel bringen. Die Wieskirche zeigt uns eindringlich, was dies bedeutet: Noch ehe wir Gott ins Spiel bringen (können), hat Er sich selbst ins Spiel gebracht, mit seinem besten Stück, mit seinem Schatz, mit dem eigenen Sohn.
Hier liegt das eigentliche „Weltkulturerbe“ dieses Gotteshauses, ein Erbe, dessen Erhalt und Weitergabe wir Christen der Kultur des 21. Jahrhunderts schuldig sind: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für uns dahingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (vgl. Joh 3,16).