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Wichtiges
Predigt von Bischof Bertram beim Festgottesdienst zu 400 Jahre Barmherzige Brüder in Neuburg (Donau) am 29. Juni 2022

Johannes von Gott: Bei Gott ist jedes Leben liebens- und lebenswert

29.06.2022

Heute ist ein historischer Tag: Vor genau 400 Jahren kamen Barmherzige Brüder von Wien nach Neuburg. Sie hatten den Auftrag, die erste Gründung in Deutschland vorzubereiten. Zum Generalvikariat Wien zahlten Hospitäler in Österreich, Tschechien, Polen und eben hier in Neuburg. Ich freue mich, als Bischof von Augsburg 400 Jahre danach diesen Gottesdienst mit Ihnen feiern zu können. Schon als Kaplan durfte bzw. musste ich oft frühmorgens ins Altenheim St. Augustin zur hl. Messe kommen. Wer mich kennt, weiß, dass ich mehr Nachteule als Frühaufsteher bin. Aber die Gastfreundschaft der Brüder, das deftige Frühstück, glich manches Morgenopfer aus, ehe ich dann direkt in die Nachbarschaft ging, um in der Paul-Winter-Realschule Religion zu unterrichten.

Damit sind wir mitten im Thema. Ich rede zu Ihnen nicht als Historiker, sondern als Geistlicher. Und so lade ich Sie ein, mit mir zusammen auf den Gründer, den ersten Barmherzigen Bruder zu schauen. Einen Spätberufenen feiern wir heute. Um die Persönlichkeit und das Wirken des heiligen Johannes von Gott verstehen zu können, müssen wir vieles vergessen, was wir so selbstverständlich an Leistungen des modernen Sozialstaates und medizi­nischer Versorgung in Krankenhäusern, Behinderteneinrichtungen und Pflegeheimen beanspruchen. Das alles gab es im 16. Jahrhundert nicht.

Johannes gab die Losung aus: „Jedem Kranken sein eigenes Bett!“. So hielt man ihn für einen Verrückten. Oder war er ein Revolutionär? Jedenfalls setzte er ein kühnes Zeichen für die Armen, für die körperlich und geistig Behinderten, für Epileptiker und Tobsüchtige, die oft in Ketten gelegt versteckt und in Gefängnissen fast täglich ausgepeitscht wurden, weil man glaubte, die bösen Geister und Dämonen damit vertreiben zu müssen. Noch im 20. Jahrhundert hat man von Idioten und Deppen gesprochen, die nicht zum Vorzeigen waren und derer man sich schämte. Johannes von Gott war einer der Ersten, der auch in äußerlich gebrochenen Menschen erkannte, dass ihnen die Würde der Gottebenbildlichkeit zukommt und sie der Augapfel der liebenden Sorge Jesu Christi sind. Er gewährte ihnen Gastfreundschaft: Hospitalität.

 

1. Doch es brauchte Zeit, bis in Johannes von Gott diese tiefe Erkenntnis gereift war. So feiern wir heute tatsächlich einen „Spätberufenen“. Denn seine Biographie liest sich wie ein Bilderbuch voller Eskapaden und Abenteuer. Als Portugiese hatte er ein weiches Gemüt. Zwar war er offen für fremde Not, doch gleichzeitig auch anfällig für Entscheidungen, die in Sackgassen führten.

Mit acht Jahren läuft er von zu Hause weg – ohne Gruß und ohne Dank. Sind ihm seine Eltern gleichgültig? Oder sind sie ihm zu arm? Wir wissen es nicht. Doch sein Verschwinden ist kein harmloser Bubenstreich, denn er sollte fatale Folgen haben. Seine Mutter grämt sich über sein Verschwinden so sehr, dass sie aus Kummer wenige Wochen später stirbt. Vergeblich wartet der Vater zu Hause auf die Rückkehr seines Sohnes. Innerlich gebrochen und der Verzweiflung nahe, tritt dieser schließlich als Bruder bei den Franziskanern ein.

Was tut unser kleiner Johannes? Er verdient recht und schlecht seinen Lebensunterhalt als Hirtenjunge. Weil er seinen Familiennamen nicht weiß oder vielleicht auch nicht preisgeben will, gibt man ihm kurzerhand den Namen „von Gott“, was bedeutet, dass er als Findelkind betrachtet wurde. Doch später sollte sich dieser Beiname hintergründig und prophetisch erweisen: Johannes von Gott wird für viele zu einem Menschen, von Gott gesandt.

 

2. Doch dazu braucht es noch viel Zeit. Um die große Welt zu erleben und zu zeigen, ein „echter Mann“ zu sein, lässt er sich als Soldat anwerben. Seine Dienstauffassung kann man mit Fug und Recht auf die kurze Formel bringen: Wein, Weib und Gesang. Johannes verlernt das Beten und wirft alle guten moralischen Sitten über Bord. So wundert es nicht, dass er wegen Exzessen aus der Truppe ausgewiesen wird. Er hat es wohl zu toll getrieben.

Aber die Abenteuerlust lässt Johannes nicht los. Nochmals meldet er sich zur Truppe, um im Dienst der Habsburger in Wien gegen die Türken zu kämpfen. Doch auch dieses Unternehmen scheitert kläglich. Zurückgekehrt nach Spanien, verdient er sich sein Geld als Viehhändler und Steinklopfer, ehe er Hausierer wird, um Heiligenbilder und fromme Bücher zu verkaufen. Und da geschieht es! Die Stadt Granada bringt für Johannes die Wende. Nach der Legende soll ihm ein Kind zugerufen haben: „Granada wird dein Kreuz sein!“

Was immer an dieser Legende historisch sei, ist zweitrangig. Was zählt, ist eine Predigt des berühmten Johannes von Avila, die Johannes von Gott am Sebastianstag 1539 ins Tiefste seines Herzens trifft. Johannes ist geschockt und führt sich auf wie ein Wahnsinniger, so dass er vorübergehend in die geschlossene Anstalt, in das Irrenhaus des Königlichen Hospitals von Granada eingeliefert werden muss. Johannes scheint total verrückt. Hat er nur einen psychischen Schock erlitten oder hat ihn Gott so tief getroffen, dass er sich neu zurechtfinden musste? Jedenfalls sollte sich das Wort der Legende bewahrheiten: „Granada wird dein Kreuz sein“.

Denn von jetzt an geschieht in Johannes eine innere Wandlung. Aus dem bezahlten Soldaten wird ein barmherziger Samariter. Johannes fängt an, nachts Holz zu sammeln, das er tagsüber verkauft, um mit dem Erlös Kranken zu helfen. Er mietet ein kleines Haus an, in dem er die ersten Kranken aufnimmt und pflegt. Oft wagt er sich nicht aus seinen eigenen vier Wänden, weil er für seine Kranken so viele Schulden gemacht hat, dass er fürchten muss, von den Gläubigern verprügelt oder gar verhaftet zu werden. In einem Brief schreibt er: „Mehr als einhundertzehn Leute wohnen im Haus: Amputierte, Krüppel, Aussätzige, Stumme, Irre, Gelähmte, Altersschwache, viele Kinder, ... Um Christi willen bin ich ein Gefangener. Oft drücken mich die Schulden so, dass ich nicht wage, auf die Strasse zu gehen“.

 

3. Die Arbeit unter den Kranken nimmt bald einen solchen Umfang an, dass Johannes sie nicht mehr allein bewältigen kann. Er sucht nach Helfern und findet auch einige Männer. Aus ihnen gehen später die Barmherzigen Brüder hervor, deren Gemeinschaft seit vier Jahrhunderten in Neuburg segensreich wirkt. Lieber Pater Provinzial, stellvertretend für unsere Diözese Augsburg danke ich Ihnen und Ihren Mitbrüdern für den treuen und aufopferungsvollen Dienst, den Sie in Sankt Augustin tun. Neuburg an der Donau wäre erheblich ärmer, wenn es die Barmherzigen Brüder nicht gäbe. Sie gehören zu den größten Schätzen, die diese Stadt den alten und kranken Menschen bieten kann. Mögen Sie Neuburg und der Diözese Augsburg noch lange erhalten bleiben!

Auf diese Weise wird das Leben des hl. Johannes von Gott selbst zur Predigt. Für viele Kranke, von denen die meisten weder lesen noch schreiben konnten, war Johannes eine lebendige Bibel. Und diese Bibel haben gerade die einfachen, kranken und behinderten Menschen gut verstanden. Von der Last seiner Arbeit und von der Sorge um „seine“ Kranken völlig aufgezehrt, wollte Johannes am Ende seines Lebens auch als Kranker bei ihnen bleiben und in ihrer Mitte sterben. Ein Leben lang war er ein ruheloser und einsamer Mensch, einsam sollte er auch sterben. Am 8. März 1550, an seinem 55. Geburtstag, fand man ihn tot auf – kniend vor dem Bild des Gekreuzigten. Als sich die Nachricht von seinem Tod in Granada verbreitete, weinten nicht nur die Christen. Es trauerten auch viele Muslime. Denn in der aufmerksamen Sorge und Pflege der Kranken hatte Johannes alle Menschen mit derselben Liebe behandelt und nie einen Unterschied gemacht im Hinblick auf Herkunft oder Religion.

 

4. Johannes von Gott ist heute ein lebendiges Ausrufezeichen. Artikel 1 des Grundgesetzes hebt die unantastbare Würde eines jeden Menschen hervor: des Gesunden wie des Kranken, auch mit körperlich oder geistiger Behinderung. Wie sieht es in unserem Land wirklich aus? Unsere Ampel-Koalition hat sich auf die Fahnen geschrieben: Mehr Fortschritt wagen.

Doch die jüngsten Debatten im Bundestag (24.6.22) um Anfang und Ende des menschlichen Lebens – d.h. die ersatzlose Streichung des Werbeverbots für die Abtreibung und eine Lockerung der Bestimmungen zum assistierten Suizid: alles im Namen einer „neuen Freiheit“ (!) im Sinn der Selbstbestimmung des Menschen - das alles deute ich als Wetterleuchten dafür, dass der vermeintlich angezielte Fortschritt letztlich ein Rückschritt ist im Blick auf die Würde eines jeden Menschen. Das muss uns zu denken geben. Da müssen wir als Christen „nein“ sagen, auch wenn die parlamentarische Mehrheit anders tickt.

Zurück zu Menschen mit Behinderung: Sie werden nicht gleich versteckt oder gar gefoltert, aber sie werden isoliert und subtil auf die Folter gespannt, ob sie an bestimmten Urlaubsorten oder in Hotels willkommen oder nur geduldet oder gar geächtet sind. Die öffentlichen Diskussionen über das vermeintliche Recht auf ein unbehindertes Kind offenbaren eine gefährliche Tendenz, die sich in unserer Gesellschaft der Macher immer mehr festbeißt: Es gibt anscheinend Menschen erster und zweiter Güteklasse. Haben wir aus der Vergangenheit gerade unseres Volkes nichts gelernt?

Johannes von Gott war in seiner Zeit ein Anwalt der Kleinen und Schwachen. Solche Anwälte brauchen wir heute dringender denn je. Johannes lebte aus der Überzeugung heraus: Allen Kranken wird bei der „Auferstehung des Fleisches“ die volle Gesundheit an Leib und Seele geschenkt. Im Himmel gibt es keine Diskriminierten! Für uns sollte gelten: Wie im Himmel, so auf Erden. Diese Weisheit hat Johannes weniger gelehrt als gelebt. Deshalb verdient er zu Recht den Beinamen „von Gott“. Der „von Gott“ Getroffene und „von Gott“ in Dienst Genommene hat gelernt, „von Gott“ her zu denken und zu planen, um Gesunde und Kranke „zu Gott“ zu führen.

Danke, heiliger Johannes von Gott, dein Leben und dein Wirken sind bis heute kostbar. Denn sie sind „von Gott“. Amen.