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Wichtiges
Predigt von Bischof Bertram zur Anbringung der päpstlichen Krone am 25. Mai 2022 in St. Peter am Perlach

Maria Knotenlöserin - Ein Gnadenbild spricht ins 21. Jahrhundert

25.05.2022

„Allein den Betern kann es noch gelingen, das Schwert ob unsern Häuptern fernzuhalten und diese Welt den richtenden Gewalten durch ein geheiligt Leben abzuringen!“

1. Es war in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs, als unter Studenten in München diese Zeilen des Dichters Reinhold Schneider verteilt und immer wieder nachgeschrieben wurden. In der Ohnmacht der heraufziehenden Katastrophe entdeckten sogar Intellektuelle die Macht des Gebetes. Auf die Macht des Gebetes zu setzen – wer kann das heute von uns mündigen Christen? Da schlagen wir uns eher auf die Gegenseite: nicht Macht, sondern Ohnmacht des Gebetes müsste es heißen!

Darum bitte ich von vornherein: Nehmen wir redlich und wahrhaftig auch die scheinbare Ohnmacht des Gebetes in unser Nachdenken hinein. Auf diese Weise nehmen wir das Leben ernst, wie es ist, und können besser erahnen, dass beides zusammengehört: Macht und Ohnmacht des Gebetes müssen sich nicht widersprechen, sie sind geradezu ineinander verwoben. Da durfte einer erfahren, dass sein Gebet Erhörung fand. Andere unter uns – verbittert und gedrückt – müssen vom Gegenteil erzählen: „Wie haben wir um das Leben eines Kindes, um die Heilung eines Krebskranken gebetet – und die Menschen sind doch gestorben.“ Und dann finden wir uns nochmals wieder im Grübeln und Hadern eines Rechtschaffenen, der über einen Schicksalsschlag einfach nicht hinwegkommt und neidisch aufblickt zu denen, die in Saus und Braus leben und scheinbar unverwundbar über alle möglichen Dämpfer erhaben sind. Schließlich kennen wir auch die kleinlaute Klage: „Ich habe gebetet, aber meine Gebete waren wie Telefongespräche mit einem unverbundenen Apparat. Ich hatte das Gefühl, dass die Leitung tot war.“ Macht und Ohnmacht des Gebetes gehören zusammen.

 

2. Es ist wahr: Nie erscheint ein Mensch ohnmächtiger, als wenn er betet. Die gefalteten und ineinandergelegten Hände sind die Hände eines Gebundenen, der sich gleichsam selbst entmachtet, indem er die Kraft seiner eigenen Hände hineinlegt in die Macht des ganz anderen. Es gibt Menschen, die das Falten der Hände nicht fertigbringen, weil sie darin ein Zeichen menschlicher Ohnmacht sehen. Damit haben sie Recht: Nie erscheint ein Mensch ohnmächtiger, als wenn er betet.

Doch damit nicht genug; denn es gilt auch die Umkehrung: In seiner Machtlosigkeit erscheint der Mensch nirgendwo mächtiger, als wenn er betet. Dann freilich hat sich der Mensch auf einen sonderbaren Tausch eingelassen: Er hat sie eingetauscht – seine eigene Kraft gegen die Kraft eines Gottes, der sich in der Ohnmacht des Kreuzes als mächtig erweist – nirgends sonst.

 

3. Ich versuche mir vorzustellen, wie eine Kirchengeschichte sich gestaltet, wenn sie einmal ganz anders geschrieben würde: nicht als Papstgeschichte, nicht als Geschichte der Triumphe und Skandale, sondern als Geschichte des Gebetes. Es wäre ein schwieriges Unterfangen. Aber man würde darin erkennen, wie oft gerade die Kleinen und Geringen durch ihr Gebet die Entscheidungen der Kirche vorbereitet und mitgestaltet haben. In den Hauptrollen fänden wir die Stillen und Schwachen, die gleichzeitig stark sind im Gebet. Es ist Papst Johannes Paul II. zu verdanken, dass er durch die zahlreichen Selig- und Heiligsprechungen Frauen und Männer zur Ehre der Altäre erhoben hat, die im Kleinen groß und im Gebet treu waren. So hat auch unsere Diözese in Crescentia von Kaufbeuren eine Heilige bekommen, der in einer Gebetsgeschichte ein wichtiges Kapitel gebührt.   

 

4. Das erste Kapitel einer solchen Gebetsgeschichte würde ich der Gottesmutter widmen. Einzig in ihrer Ohnmacht liegt ihre Vollmacht; in ihrer Feinheit und Unaufdringlichkeit liegt das Geheimnis ihrer Kraft. Solche Aussagen entziehen sich letztlich dem ausschließlich logischen Beleg, sie lassen sich nur in Vergleichen und Bildern erschließen. Ich möchte diese Feinheit der Gottesmutter mit einer Malerei beschreiben. Das Bild befindet sich in Augsburg in der uralten, im Kern noch romanischen Kirche St. Peter am Perlach. Dort hängt es rechts über einem Seitenaltar, soll um 1700 gemalt sein, barock, also groß wie ein Altarbild. Es spricht für sich, dass gleichsam als Pendant zum Bild der Knotenlöserin der linke Seitenaltar Reliquien von der schon erwähnten hl. Crescentia von Kaufbeuren birgt.  

Das Gemälde zeigt Maria als hübsche, junge Frau in rotem Gewand, einen fliegenden blauen Überwurf um Hüften und Schultern, in der Mondsichel stehend, mit einer dunklen Schlange unter den Füßen. Dann das Entscheidende: Sie löst gelassen einen Knoten auf an einem weißen Band, das ihr ein Engel von links ganz verschlungen zureicht; auf der anderen Seite fällt es entflochten und glatt in leichten Wellen in die Hände eines anderen Engels. Ein Gewimmel von kleinen Engelsköpfen schwirrt um Marias Kopf – darüber die Taube des Heiligen Geistes in hellem Licht. So steht Maria vor uns als Geisterfüllte. Unter der Madonna: Da entdecken wir uns selbst: einen einsamen, bedrückten Menschen, den ein Engel zu einer Kirche weist.

 

5. Ein Gemälde – fast zu lieblich ist es arrangiert; die Engel sind dem Geschmack zu viel; es sieht alles zu glatt aus. Aber gerade dieses Bild kann uns anrühren: Nie ist der Mensch mächtiger als wenn er betet. Feinheit und Geduld sind der lange Atem der Gottesmutter. Darin liegt die Botschaft des Bildes: Wer mit Maria das Leben Jesu mitgeht, wer mit ihr betet, vermag das Wirre zu glätten und die Verknotung aufzulösen. Denken wir doch einmal an unsere Kinderzeit, als wir uns als Dreikäsehoch mit den Knoten in den Schuhbändern herumschlagen mussten. Ich erinnere mich, wie ich manchmal fast weinte vor lauter Ungeduld und hilflosem Zorn, weil der Knoten durch Anziehen an den Enden sich nur noch fester zuzog. Besonders schlimm war es im Winter mit vereisten oder nassen, jedenfalls immer zu kurzen Bandenden und zusammengerutschten Schleifen – und dazu die klammen ungeschickten Finger.

Seither habe ich manch verknotetes Leben gesehen, das sich allein nicht zu helfen wusste. Da sind die verstrittenen Ehepaare, deren Knoten mit Händen zu greifen sind. Schlimmer noch sind die Schlingen, in denen ein Mensch mit sich allein ist: „Maria vom Knoten, der Knäuel bin ich.“ Dies klingt wie ein entsetzter Aufschrei.

Ein Mensch kommt über sein Schicksal einfach nicht hinweg. Er verfängt sich mit sich und in sich selbst. Jemand ist in einem Trotz hängen geblieben, der vielleicht in der Kindheit wichtig war, jetzt aber nur behindert. Ein anderer hat sich in einer Angst verfangen, die einmal ganz „normal“ war, jetzt aber nur noch einengt und fesselt. Eigenschaften und Fähigkeiten, einst brauchbar zum Leben, passen nicht mehr, weil die Situation sich geändert hat.

Eine Schleife an unserem Lebensband hat sich zu einem kleinen, harten Knoten zusammengezogen, er schnürt das Leben ein, er sperrt das Blut ab, er verleitet zu verbissenen Anstrengungen. Aber unser eigenes Ziehen und Rucken macht den Knoten nur noch fester. Man könnte daran verzweifeln – wenn da niemand ist, der das verknotete Band in die Hand nimmt. Geduldige Finger, wie in der Kinderzeit die der Mutter, suchen und tasten, statt blindlings zu zerren; sie finden das Löchlein, wo sich mit behutsamen Gegenzügen etwas lockern lässt. Es ist die Kunst der Frauen, mit Knoten zärtlich und lösend umzugehen.

 

6. Das Bild von der Knotenlöserin passt gut in eine Gebetsschule. Bei Maria lief nicht alles glatt: Jesus war zunächst bestimmt kein Wunschkind. Ein Zwölfjähriger, der bei einer Wallfahrt seine eigenen Wege geht, ist sicher kein Vorzeigesohn. Einen Sohn, der als vermeintlicher Verbrecher zum Tod verurteilt wird, zur Hinrichtung zu begleiten – davon träumt keine Mutter. Dem Schicksal ihres Sohnes gegenüber sah sie ohnmächtig aus; doch mit welcher Vollmacht wird sie zum Mittelpunkt des Apostelkreises, der im Abendmahlssaal um seine Zukunft bangt, da ihm sein Herz, der Auferstandene, entzogen ist.

Gerne hätte ich Maria gefragt: Wie hast du es geschafft, die Verknotungen deines Lebens zu lösen? Ich kann sie direkt nicht fragen, doch ihr Leben gibt mir trotzdem Antwort: Sie bewahrte alles, was geschah, in ihrem Herzen. Sie bewegte alles in ihrem Innern. Sie war ganz erfüllt vom Heiligen Geist. Der Heilige Geist ist es auch, der in uns betet, wenn wir den Rosenkranz durch unsere Finger gleiten lassen.

Ich selber bete noch mit dem Rosenkranz, den meine Mutter und mein evangelischer Vater mir zur Erstkommunion geknüpft haben. Wenn ich den Rosenkranz in meinen Händen halte, dann spüre ich darin ein Sinnbild für mein Leben: Er ist ein Geflecht aus Kugeln und Knoten. Manches im Leben läuft rund wie eine Kugel, anderes ist verknotet und hart. Wenn wir Rosenkranz beten, dann spiegelt sich unser Leben in dem der Muttergottes, die vom Heiligen Geist erfüllt war. Wie Maria, so lassen auch wir uns - in der Kraft des Heiligen Geistes - ein auf den „Vollzug heiliger Sympathie“ (Romano Guardini). Mit den Augen einer geduldigen Mutter betrachten wir das Leben Jesu – mit all seinen Verknotungen, die auch die ihren sind – und nicht zuletzt die unseren. Auch Maria blieben Knoten und Verschlingungen nicht erspart. Mit welchem Recht erwarten wir eigentlich, dass es uns besser geht als der Gottesmutter? Auch unsere Verknotungen werden vorerst zwar bleiben, aber sie werden sich auflösen, vielleicht ganz anders, als wir es uns zusammentüfteln.

Maria vom Knoten, der Knäuel bin ich! Nimm du mein verknotetes Lebensband in deine Hände und hilf mir, es zu glätten – langsam, zärtlich, geduldig – wie du. Geisterfüllte heilige Knotenlöserin, bitte für uns.