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Wichtiges
Predigt von Bischof Bertram zum 475-jährigen Bestehen des Johann-Michael-Sailer-Gymnasiums und 75 Jahre Studienvereinigung Dilingana

Das Gleichgewicht zwischen Otium und Neg-otium

27.07.2025

Liebe Mitbrüder im priesterlichen und diakonalen Dienst, liebe Schulfamilie des Sailer-Gymnasiums, liebe Schwestern und Brüder, das verbindende Moment unter den drei Texten aus dem Buch Genesis, dem Kolosserbrief und dem Lukasevangelium, die wir soeben gehört haben, ist der Einsatz, die Fürsprache eines Menschen für den anderen bei Gott. Immer haben wir es mit Dialogsituationen zu tun, in denen erklärt und ausgehandelt wird, was für ein friedliches Miteinander notwendig ist. Darum, so meine ich, passen diese Texte auch für den heutigen Anlass: Wir feiern das bald 500jährige Bestehen des Johann-Michael-Sailer-Gymnasiums und 75 Jahre Studienver­einigung Dilingana.

Immer wieder neu obliegt jeder Generation die Aufgabe, sich der noch heranwachsenden anzunehmen, sie mit der „Welt“ und ihren Gepflogenheiten, den Entfaltungsmöglichkeiten, aber auch den zahlreichen Gefahren bekannt zu machen. Was den Kindern und Jugendlichen dabei als Wissens- und Bildungshintergrund vermittelt wird, das ist in der jeweiligen Gegenwart gut zu überlegen. Denn davon hängt nicht zuletzt der Fortbestand unserer Kultur ab.

Naturgemäß haben sich die „Unterrichtsgegenstände“ im Laufe von Jahr­tausenden erheblich gewandelt. Je nachdem, wo die kulturellen Schwerpunkte liegen, oder noch elementarer: ob es sich um eine Gesellschaft von Nomaden oder Sesshaften, um einen Agrar- oder Industriestaat handelt, um einen Lebensraum, der reichlich Nahrung spendet, oder eine karge, ja lebensfeindliche Umwelt, der die Menschen mühsam abringen müssen, was sie zum Leben brauchen, sind spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten vonnöten.

Während in anderen Breitengraden das nackte Überleben im Vordergrund steht, sind wir in Europa seit Generationen in der Lage, unseren Kindern ein sog. Allgemeinwissen zu vermitteln, das sie befähigen soll, ihren Platz in einer hochkomplexen und differenzierten Lebenswelt zu finden. Sicher stehen dabei die Kulturtechniken Lesen und Schreiben – am besten in mindestens zwei verschiedenen Sprachen - ganz oben auf der Prioritätenliste. Mir fällt dazu immer der Ausspruch einer Ordensfrau ein, die Germanistin und gelernte Hauswirtschafterin zugleich war. Sie behauptete ganz lapidar: „Wer lesen kann, kann auch kochen.“ – Für mich persönlich muss ich das klar verneinen!

Unser mehrgliedriges Schulsystem bringt es mit sich, dass wir als Kinder bereits mit rund zehn Jahren klassifiziert werden und bei denen, die ein Gymnasium besuchen, vor allem die kognitiven Fähigkeiten im Fokus stehen. Emotionale und soziale Reife werden zwar auch berücksichtigt, jedoch meist dem nachgeordnet, was an Wissbegierde und Gedächtnisleistung beim Kind wahrgenommen wird. „Der Mensch wird des Weges geführt, den er wählt“, lautete der Titel eines spirituellen Buches der 80er Jahre (Johannes Bours). Dass dies in ähnlicher Weise auch für die Fähigkeiten gilt, die in Kindheit und Jugend vorrangig trainiert werden, kann jeder Erwachsene unter uns bestätigen. Manche andere Vorliebe, die wir als Kind vielleicht auch an uns entdeckten und gerne ausgebaut hätten, ist dagegen im Laufe der Jahre und Jahrzehnte verkümmert – bis dahin, dass gerade Geisteswissenschaftlern immer noch mit einer gewissen Berechtigung nachgesagt wird, sie hätten zwei linke Hände.

Hängt es damit zusammen, dass wir heute in der Hauptsache von Leistung, Flexibilität, (Schlüssel-)Kompetenzen und Effizienzsteigerung sprechen, aber erheblich weniger als früher von Lebenstüchtigkeit oder Arbeitszufriedenheit?

Zwar existiert ein jährlich aktualisierter Work Happiness Report[1], der auch einen Vergleich zwischen Deutschland und Großbritannien enthält, doch seit Jahren ist die sehr missverständliche Formulierung der „Work-Life-Balance“ im Schwang, der zufolge Leben und Arbeit eindeutige Gegensätze bilden. Mir persönlich scheint es jedoch sinnvoller, stattdessen auf die alten Bezeich­nungen der Römer zurückzugreifen, die von Otium sprachen und damit jene Tätigkeiten meinten, denen sie selbstbestimmt in der freien Zeit nachgingen, und von Neg-otium, wenn sie geschäftliche bzw. berufliche Verpflichtungen erfüllten. Durch die Wortbildung wird von vorneherein klar, dass Otium das Wünschenswerte, ja der Grund-Zustand ist, während Neg-otium als eine Abweichung davon zwar unvermeidbar, aber weder als Dauerzustand gedacht noch, wie wir heute sagen würden, gesundheitsförderlich ist. Mit Arbeit – lat. Labor – hat das alles nur bedingt zu tun, kann sie doch in der einen wie in der anderen Seinsweise vorkommen.

Doch kehren wir zu unseren liturgischen Texten zurück. Unter welche Rubrik würden Sie die Situation aus dem Buch Genesis, „Abrahams Fürsprache für Sodom“, einordnen? Auf den ersten Blick enthält der Text gleichermaßen Anhaltspunkte für Otium und Negotium. Unwillkürlich fühlen wir uns an eine politische Debatte oder an das Feilschen um den Preis auf einem orientalischen Bazar erinnert. Tatsächlich aber ist bei Abraham kein Eigeninteresse am positiven Ausgang der Geschichte erkennbar. Sein Einsatz für die Menschen von Sodom entspringt vielmehr seinem Gerechtigkeitssinn und der Empathie mit den Unschuldigen in der Stadt. Dass er zwischendrin sogar ‚Angst vor seiner eigenen Courage‘ hat, signalisiert Vers 27: „Siehe, ich habe es unternommen, mit meinem Herrn zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin.“ Dennoch bleibt er, salopp gesprochen, am Ball, bis er sein Ziel, die in seinen Augen niedrigste Zahl an Gerechten für die Rettung der Stadt, erreicht hat.

Das Beeindruckende an dieser Szene ist die Zielstrebigkeit, mit der Abraham dieses, doch auch riskante Gespräch mit seinem Schöpfer, dem Herrn über Leben und Tod, führt. Der Ausgang ist keineswegs vorhersehbar und einen Lohn hat er auch nicht zu erwarten, da ja auch kein einziger der Menschen, um die es hier geht, von diesem Fürsprache-Dialog weiß. All diese Aspekte legen es nahe, die alttestamentliche Stelle mit der Evangeliumsszene, in der die Jünger bitten: „Herr, lehre uns beten!“ (Lk 11,1), zu verknüpfen.

Es ist eine für unser Schuljubiläum, wie ich meine, besonders bedenkenswerte Situation: Da haben Menschen beobachtet, wie derjenige, der für sie zum „Meister“, also zu einer echten Autorität geworden ist, vom Gebet, dem Gespräch mit seinem Vater im Himmel, zurückkommt und sie spüren, dass sie von ihm etwas lernen können, was für ihr Leben existentiell wichtig ist. Sind das nicht geradezu ideale Voraussetzungen für eine Unterrichtssituation, wenn das Bedürfnis derart dem Lernprozess vorausgeht?

Im Folgenden spricht Jesus seinen Jüngern aber nicht einfach nur die Vater Unser-Bitten zum Auswendiglernen vor, sondern als guter Lehrer erklärt er mithilfe von konkreten Alltagserfahrungen, worauf es im menschlichen Miteinander ankommt: Die Not des anderen wahrzunehmen, auch zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt, „um Mitternacht“, und die eigene Bequemlichkeit hintanzustellen, um rasch und großzügig zu helfen. Die Komfortzone verlassen, den inneren Schweinehund überwinden – das bedeutet Lernen im eigentlichen Sinn. Denn Lernen heißt Veränderung! Oder mit dem heiligen John Henry Newman (1801-1890) zu sprechen, dessen Biografie ein Paradebeispiel für lebenslanges Lernen ist: „Hier auf Erden zu leben, heißt sich wandeln, und vollkommen sein heißt, sich oft gewandelt zu haben.“

Und noch eine weitere, zentrale „Lehre“ gibt Jesus an seine Jüngerinnen und Jünger, an uns weiter: Kein Gebet, und sei es noch so formlos, kein Aufblick oder Aufschrei bleibt unbeantwortet. Der „Vater im Himmel“ hat immer ein Ohr für uns. Er toppt sozusagen noch die allerbesten Eltern und Lehrer (vgl. Lk 11,13)! Deshalb dürfen wir Jesus beim Wort nehmen: Ganz ohne Wenn und Aber stellt er die unbedingte Resonanz Gottes auf unser Gebet in Aussicht: „Wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet“ (Lk 11,10).

Bei der Gründung des Dillinger Gymnasiums waren diese Worte schon 1.500 Jahre alt, doch bis heute haben sie nichts von ihrer Faszination verloren. Jede Generation ist wieder neu eingeladen, sie auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen, das Gespräch mit Gott wie das Gespräch mit den Gleichaltrigen und den Zeitgenossen aufzunehmen und selbst Spuren zu hinterlassen in den Herzen derer, die den eigenen Lebensweg säumen, und in dieser Welt, unserer leidenden Mutter Erde, die heute, so scheint es, sehnsüchtiger denn je auf das Offenbarwerden der Kinder Gottes wartet (vgl. Röm 8,19).

Deshalb, liebe Schülerinnen und Schüler, möchte ich abschließend Euch besonders ermutigen: Nehmt Eure Eltern, Eure Lehrerinnen und Lehrer ernst, indem Ihr ihnen sagt, was Ihr braucht, was sie Euch beibringen sollen, damit Ihr das rechte Gleichgewicht zwischen Otium und Negotium leben könnt; damit Ihr Eurer ganz persönlichen, einzigartigen Bestimmung folgen könnt als geliebte Töchter und Söhne Gottes. Lernt voneinander und miteinander, denn keine KI, keine tote Maschine, kein bloßes Bücherwissen kann jemals dem kostbaren und so zerbrechlichen Leben den Rang ablaufen!

 

Lesungen vom 17. Sonntag im Jahreskreis

[1] Siehe Der Work-Happiness-Report 2025 von awork