Ein Exerzitienhaus als „Porta Coeli“ (Himmelspforte)
Liebe Mitbrüder im bischöflichen, priesterlichen und diakonalen Dienst, lieber Herr Direktor Dr. Hartl, lieber Christian, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier im Haus, liebe Schwestern und Brüder, ich bin immer noch ganz benommen: jedes Jahr ergreift mich diese kraftvolle und spannend erzählte Bekehrungsgeschichte des heiligen Paulus aufs Neue. Hier wird ein Mann, der absolut überzeugt war, das Richtige zu tun, komplett aus der Bahn geworfen. Gott greift ein, nicht wie beim jungen Samuel, der dreimal des Nachts seinen Namen hört, oder bei Mose, der sich neugierig dem brennenden Dornbusch nähert, sondern mit einer Wucht, die umhaut.
Der selbstbewusste Israelit Saulus wird von dem Licht, das ihn plötzlich umstrahlt, so abrupt in den Staub geworfen, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Dort unten, buchstäblich am Boden, wird er zur Rede gestellt und zur Rechenschaft aufgefordert: Saul, Saul, warum verfolgst Du mich? Da hilft keine Ausflucht, sondern nur die erschütternde Erkenntnis: Ich bin einem Wahn erlegen, mein Hochmut hat mich zum Mörder und zum Verfolger dessen gemacht, dem ich dienen wollte!
Wir müssen uns Paulus als stolzen, von sich überzeugten Mann vorstellen: hochgebildet und mindestens dreisprachig, ein Angehöriger des Volkes Israel und gleichzeitig römischer Bürger, Handwerker - er war ja Zeltmacher - und zugleich Theologe ersten Ranges, einer, der mit Führungsqualitäten gesegnet war - mit natürlicher Autorität, die er ganz selbstverständlich einsetzte, wenn es galt, für Recht und Ordnung zu sorgen. Wir wissen alle: Das erste Mal taucht sein Name in der Apostelgeschichte auf, bei der Steinigung des Stephanus, des sog. Protomärtyrers. Dort steht lapidar: „Saulus aber war mit seiner Ermordung einverstanden“ (Apg 8,1). Wie selbstgewiss und verblendet muss jemand sein, dass er empathielos einer solch grausamen Hinrichtung zuschauen und sie gar gutheißen kann? Wir würden heute fragen: Welches Gottes- und Menschenbild hat dieser Mann?
Doch die Apostelgeschichte psychologisiert nicht – sie hält fest, was war, auch wenn es sich um einen so verehrten Lehrer und Missionar wie Paulus handelt. Ja, Saulus-Paulus selbst ist ganz und gar nicht an einer Beschönigung seines „ersten Lebens“, an der Übermalung der furchtbaren Ausreißer, der Brüche in seinem Leben interessiert. Im Gegenteil: Er bekennt sich zu seiner Schuld, schonungslos und ohne Selbstmitleid, mündlich (vgl. Apg 22,3-21) und in seinen Gemeindebriefen. Denn nach seiner 360 Grad-Wende geht es ihm nicht mehr um sich, sondern einzig und allein darum, wortgewaltiger Zeuge für die unfassbare Gnade zu sein, die ihm, der „Missgeburt“ (1 Kor 15,8) zuteilwurde. Für die Frohe Botschaft des gekreuzigten Messias setzt er fortan sein Leben ein und im 2. Korintherbrief lesen wir eine schier unglaubliche Zahl von Leiderfahrungen und Todesängsten, die er für Christus erlitten hat (2 Kor 11,21ff). Wahrhaftig, er hat sich bekehrt und er hat gebüßt – bis zum Tod durch Enthauptung nach einer langen und zermürbenden Haftzeit!
Und wir? Wie sieht es mit unserem Einsatz für den Gott unseres Lebens aus? Können wir auch nur annähernd von einer solch existentiellen Gotteserfahrung erzählen? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Wir brauchen uns nicht mit Paulus vergleichen, auch wenn er in seinen Briefen immer wieder mahnt: Haltet Euch an mein Vorbild! (1 Kor 4,16). Jede und jeder von uns ist gottunmittelbar, an jede und jeden ergeht die Einladung Gottes ganz persönlich - und ich bin, ehrlich gesagt, sogar dankbar, dass meine Berufung, meine Sehnsucht, Christus mein Leben zu weihen, - bis jetzt - nicht so spektakuläre Formen annahm wie beim Völkerapostel! Doch unser Glaube will gelebt werden, gerade auch heute, im Alltag, in einer kirchlichen Gemeinschaft, in der viele Verantwortliche schuldig geworden sind und innerhalb einer Gesellschaft, von der weniger als die Hälfte sich zu Christus bekennt. Es klingt vielleicht seltsam, aber wir nähern uns wieder den Zeiten des Paulus an…
2000 Jahre Kirchengeschichte: Wird sie nicht linear fortgeschrieben? Schließt sich etwa ein Kreis? Ist das Christentum ein Auslaufmodell der Weltgeschichte?
Es nützt nichts, solche Fragen als Tabubruch zu benennen und beiseite zu schieben, im Gegenteil: Wir müssen uns ihnen stellen, wenn sie hochkommen, sei es im eigenen Herzen, sei es im Gespräch mit Mitchristen oder Menschen, die dem christlichen Glauben fernstehen. In meinem letzten Hirtenbrief vom Herbst wollte ich dazu ermutigen, Zweifel nicht zu unterdrücken oder gar zu leugnen, sondern buchstäblich vor Gott auszubreiten, denn „Zweifel sind geistliche Wachstumsschmerzen, damit der Glaube gefestigt wird.“ Und: „Glaube ist kein Fürwahrhalten ohne Beweis, sondern Vertrauen ohne Vorbehalt: Vertrauen auf einen Gott, der sich für andere bereits als vertrauenswürdig erwiesen hat und auch mich durchs Leben begleiten will.“[1]
Das haben die Jünger Jesu, die Apostel, Paulus und auch der umsichtige Hananias erfahren. Im Gebet äußert er berechtigte Zweifel am Sinneswandel des Paulus; er weist auf das Risiko hin, wenn man diesen einschlägig bekannten Mann in die Mitte der Gemeinde nimmt. Doch Gottes Antwort ist eindeutig: „Geh nur! Denn dieser Mann ist mir ein auserwähltes Werkzeug: Er soll meinen Namen vor Völker und Könige und die Söhne Israels tragen. Denn ich werde ihm zeigen, wie viel er für meinen Namen leiden muss“ (Apg 9,15f.). Man kann die Zivilcourage des Hananias nur bewundern: Er traut sich in die Höhle des Löwen, weil er dem Gott seines Lebens vertraut. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass Christsein zwei Seiten hat: die innere, helle, beglückende des Geliebtseins und die dunkle, leidvolle Außenseite der Verfolgung. Das Bekenntnis zu Jesus, dem Messias, ist eben nicht vergleichbar mit einer Vereinszugehörigkeit, sondern geht unter die Haut, bis auf die Knochen…
Sein Leben lang weiß sich Paulus, der Unermüdliche, der Werbende und Mahnende, der Kämpfer und Leidende, denen verpflichtet, die ihn wie Hananias und später Barnabas an der Hand genommen haben, die ein gutes Wort für ihn einlegten und seine Missionsarbeit treu fortsetzten. Aus dem Verfolgungswütigen wurde ein dankbarer, ja liebevoller Mentor – denken wir nur an den Philipperbrief oder den Brief an Philemon, den er aus dem Gefängnis geschrieben hat, weil er sich mit einem Insassen anfreundete. Trauen wir unseren Mitmenschen, die uns einmal enttäuschten, noch eine positive Entwicklung zu, auch und gerade denen, die straffällig geworden sind? Wie steht es z.B. mit unserer Haltung zur Todesstrafe?
Als Papst Franziskus nach mehrfacher Ankündigung 2018 den entsprechenden Katechismusartikel (2267) änderte und die Todesstrafe für „unzulässig“ erklärte, regte sich auch innerhalb der Christenheit Widerstand. Noch ist die gewaltfreie Botschaft des Evangeliums, so müssen wir feststellen, nicht in den Herzen, selbst der gläubigen Menschen, angekommen. Dies sollte uns, die wir heute das Fest der Bekehrung des hl. Paulus in Verbindung mit 60 Jahre Exerzitienhaus in Leitershofen feiern, anspornen, den spirituellen Auftrag, der das Fundament dieses Hauses ist, neu zu begreifen. Ich lade Sie ein, das häusliche Jubiläumsjahr auch zu einer Reflexion zu nutzen und sich zu fragen: Was brauchen die Menschen heute? Worin liegt unsere Daseinsberechtigung als Seelsorgende, als Gastgeber/innen in diesem lichtdurchfluteten Haus, das in der Vergangenheit für manche Gäste schon zur Porta Coeli, zur Pforte des Himmels, geworden ist? Welche neuen Akzente können wir setzen? Welche Menschen in den Blick nehmen, die wir bisher übersehen haben, für die wir uns nicht zuständig fühlten? Die Stadt Augsburg hat im November das Projekt „Wärmeinseln im Stadtgebiet“[2] ins Leben gerufen. Einige unserer kirchlichen Häuser öffnen seither bereitwillig die Türen für Menschen, die sich aufwärmen wollen oder einfach nur in Ruhe sitzen möchten. Vermutlich hätte auch der Zeltmacher Paulus kurzerhand für sie ein Zelt aufgestellt…
Ein Haus, zumal ein Exerzitienhaus, will belebt sein, es braucht buchstäblich eine Seele. Hauchen Sie, liebe Mitarbeiter/innen in der Verwaltung, in der Küche, im Garten und in der Pastoral zusammen mit Ihrem Direktor, Pfarrer Dr. Hartl, diesem Haus Leben ein, Leben, das fördert und befreit, das wächst und gedeiht!
Auch Sie sind wie Paulus „auserwählte Werkzeuge“ (Apg 9,15) und das meine ich nicht im Sinne eines toten Gegenstandes, sondern ganz so, wie es der Titel des jüngsten Buches von Martin Schleske, des Geigenbauers aus Landsberg, aussagt. Er trennt die beiden Wörter durch einen Bindestrich und legt damit ihr tiefes Aufeinanderbezogensein frei: ‚Werk – Zeuge‘ dürfen wir sein, Zeugen des Schöpfungswerkes „in Resonanz mit Gott“, wie der Untertitel lautet. Erinnern wir uns heute, an diesem Tag der Dankbarkeit und Freude zu Beginn eines neuen Jahres, wieder neu daran, dass Gott alles in allem ist (1 Kor 15,28), dass wir Mitarbeitende an seiner creatio continua sein dürfen, an seiner Schöpfung – nicht ohne Leiderfahrung, aber in dem Vertrauen, in Gottes Liebe auf ewig aufgehoben zu sein. Amen.
[1] Zit. n. Krisen, Zweifel – und unerschütterliches Gottvertrauen. Gegenseitige Ermutigung in dunklen Zeiten. Hirtenwort von Bischof Dr. Bertram Meier zum 25.09.2022.
[2] Alle Orte und Öffnungszeiten unter https://www.augsburg.de/energiesparen/waermeinseln