„Gott kann existentiell packen“
Liebe Mitbrüder im priesterlichen Dienst, liebe Kandidatin, liebe Schwestern und Brüder in Christus, einem täglichen Spaziergang ist vieles abzugewinnen. Wir bringen den Bewegungsapparat in Schwung, können die Schöpfung Gottes wahrnehmen, Kopf und Herz können durchschnaufen. Tägliche Spaziergänge durchs Auerbergland dürfen auch fester Teil Ihres Alltags sein, liebe Frau Maier. Und vielleicht können Sie auch einmal Zeugin davon werden, wie ein Greifvogel erst hoch über Ihrem Kopf kreist und sich dann im Sturzflug auf die Beute stürzt.
Das Wappen des nahe gelegenen Schongau zeigt einen solchen Raubvogel, einen Adler. Wer einen dieser erhabenen Tiere beobachten kann, der darf sich glücklich schätzen, sind sie doch eher selten zu sehen. Selten ist auch die eremitische Lebensform, die Sie, Frau Maier, heute feierlich versprechen.
Die ersten Zeilen der Lesung, die zu diesem Anlass ausgewählt wurden, lesen sich wie das „innere Programm“ des eremitischen Lebensstils: Mit Paulus zusammen bekräftigen Sie am heutigen Tag: „Christus will ich erkennen“ (Phil 3,10), mich mit seinem Leben, Leiden und seiner Auferstehung ganz verbinden und ihm immer ähnlicher werden. Woher rührt dieser Wunsch, Christus ähnlich zu leben? Der Philipperbrief spricht davon, „von Christus Jesus ergriffen worden“ (Phil 3,12) zu sein. Von etwas ergriffen sein, heißt berührt sein, innerlich wie äußerlich bewegt werden. Ein Greifvogel packt seine Beute, es wird existentiell! Jedem, der einmal erfahren hat, dass er von Gott ergriffen werden kann, wird spätestens da bewusst: Gott ist keine Idee oder Theorie! Auch Gott kann einen existentiell packen und doch handelt er so ganz anders als die Könige der Lüfte, die wir auf Spaziergängen beobachten können. Gott ergreift uns nicht um seinetwillen, es geht ihm um uns: „Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen.“ Das bekennen wir im Glaubensbekenntnis. Jesus hat uns die Güte Gottes, des Vaters, offenbart. Gott ist gut; er meint es vollkommen gut mit uns. Das ist das wertvolle Fundament, auf dem wir stehen, und aus dem sich das Verhältnis zwischen Gott und Mensch aus unserem Glauben heraus definiert.
Wie reagiert Paulus auf seine Ergriffenheit? Er will das Gute, das er erkannt hat, seinerseits ergreifen. Der Mensch wird von Gott aufgefordert, ihm Antwort zu geben. Der feierliche Akt heute macht das deutlich: Wen Gott ergreift, der wird frei. Wir sind keine wehrlose Beute. Ganz im Gegenteil – Gott ruft uns heraus aus jeder Passivität, die uns an unserer Zielbestimmung vorbeileben lässt.
Was ist diese Zielbestimmung? Für die Alltagsgestaltung in der Klause greifen Sie, liebe Jutta Maier, auf die Regula Benedicti zurück. Dieses altbewährte Regelwerk für das monastische Leben möchte Leitplanke dafür sein, zum himmlischen Vaterland zu gelangen.[1] Danach zu streben, macht eine Eremitin aus. „Das Ziel vor Augen, jage ich nach dem Siegespreis: der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.“ (Phil 3,14) Der Philipperbrief beschreibt den Weg zum himmlischen Vaterland als Jagd. Wenn Greifvögel jagen, bewegen sie sich im Sturzflug auf die erspähte Beute zu. Eremitisches Leben sollte nun weder von Sturz- noch von Höhenflügen getragen sein, es ist aber von eben dieser Zielgerichtetheit gekennzeichnet.
Als Getaufte können wir alle viel von der eremitischen Lebensform lernen. Daher möchte ich in drei Punkten noch näher darauf eingehen:
1. Freiraum für Jesus Christus
Struktur und Gestaltung des Alltags der Eremiten folgt dem klaren Ziel, das himmlische Vaterland zu erreichen und es auf Erden schon „erschmecken“ zu können. Alles andere wird untergeordnet. Dabei geht es nicht um eine besonders asketische Leistung, sondern einzig und allein darum, im eigenen Leben Freiraum für Christus und sein Wirken zu schaffen.
Im heutigen Versprechen nimmt Gott die freie Zustimmung entgegen, noch mehr an Ihnen handeln zu dürfen: zu Ihrem Heil und zum Heil anderer. Und doch ist die Lebensform noch nicht das Ziel selbst. Sie ist ein Weg, der einmal zur Vollendung führen soll - mit der Hilfe Christi. Die Kraft zur Nachfolge und der innere Friede speist sich aus der Verbundenheit mit Christus, so wie die Traube ihren Lebenssaft vom Weinstock gewinnt. Die Betrachtung der Heiligen Schrift und die Pflege des Stundengebets sind tägliche Nahrung, um in der Verbundenheit mit Christus zu wachsen.
2. Aus der gütigen Hand des Vaters leben lernen
Für diesen Weg braucht es eine ganze Portion Demut und Realismus. So haben Sie sich, liebe Frau Maier, in den vier Jahren der Prüfung und Vorbereitung auch Gedanken gemacht, die das wirtschaftliche Auskommen betreffen. Das ist gut so. Dennoch bleibt ein Stück Ungewissheit und Unsicherheit. Keiner von uns weiß, durch welches Ereignis unser Leben im nächsten Moment noch einmal herausgefordert werden könnte. Jünger Jesu sind bleibend Lernende. Wir dürfen von Jesus lernen in allem ganz auf den himmlischen Vater zu vertrauen.
Als Gemeindereferentin haben Sie viele aktive Jahre im kirchlichen Dienst gewirkt. In jungen Jahren arbeiteten Sie in der Pfarrei, in der auch ich Kaplan und Pfarrer war: in St. Johann Baptist in Neu-Ulm. Für alle kirchlichen Berufe ist es immer wieder herausfordernd, nicht zu viel auf die eigene Machbarkeit zu setzen. Wesentliches von Gott erwarten zu können, muss eingeübt werden. Auf diese Schule lassen Sie sich mit der eremitischen Lebensweise noch einmal in besonderer Weise ein. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Jesus Christus darin ähnlich werden - in allem, was kommt, den guten Willen des Vaters erkennen zu können.
3. Gemeinschaft und Dienst an der Welt
Der letzte Gedanke streift ein Vorurteil, das diesen Lebensstand sicher oft ereilt. Ein Leben in der Klause: Menschenscheu, Abschottung, Weltflucht? Der erwähnte Freiraum für Christus und der Vorrang, den Sie der himmlischen Perspektive einräumen wollen, fordert Kapazitäten. Das ist für die Außenwelt spürbar; es stößt vielleicht auch auf Unverständnis. Aber Ihr Lebensrhythmus beinhaltet Zeiten, in denen Sie für andere ein offenes Ohr haben, Besuch empfangen, Kirchenführungen anbieten und am Gemeindegottesdienst teilnehmen. Mehr noch: Ich habe in Ihren Gedanken deutlich gespürt, dass Sie Ihre neue Lebensform und Ihr Gebet als Dienst an der Welt und der Kirche auffassen. Sie leisten heute Ihr Versprechen in der Gemeinschaft der Kirche. Beim Vortragen der Fürbitten werden wir sehen, dass Sie auf dieser irdischen Pilgerreise nicht allein, sondern gut vernetzt unterwegs sind. Sie bleiben eingebettet in diese Gemeinschaft, auch als Eremitin!
Ich bin sicher: Wie Sie selbst Ihre Vorgängerin in der Klause kennengelernt und vielleicht auch dadurch Gefallen an der eremitischen Lebensweise gefunden haben, so wird auch Ihr Lebenszeugnis für andere fruchtbar sein - ganz ohne Konzeptpapiere und ausgetüftelte pastorale Jahresplanungen. Ein Adler weiß nichts von der Faszination, die er auf den ein oder anderen Spaziergänger ausübt. Er folgt einfach seinem Instinkt. So wünsche ich Ihnen, dass auch Sie weiterhin Ihrem „Instinkt“ als Kind Gottes folgen. Lassen Sie sich vom Heiligen Geist führen! Nicht immer werden Sie davon erfahren, aber ich bin überzeugt: Durch Ihre Lebensform werden viele Menschen neugierig und ermutigt, sich auch selbst noch mehr auf Gott einzulassen. Das ist Fruchtbarkeit im Sinne des Evangeliums. Gott möge Sie und alle, die Sie in Ihrer Klause empfangen, mit seinem reichen Segen begleiten!
[1] Vgl. RB 73,8-9: „Wenn du also zum himmlischen Vaterland eilst, wer immer du bist, nimm diese kurze Regel als Grundlegung (als Anfang) und verwirkliche sie mit der Hilfe Christi, dann wirst du unter dem Schutz Gottes auf den oben erwähnten Höhen der Weisheit und der Tugend ankommen.“