„Maria lebt, mit ihr auch ich!“
Liebe Mitbrüder im priesterlichen und diakonalen Dienst, liebe Schwestern und Brüder in Christus, Mariä Himmelfahrt - Die Mutter Jesu wird in den Himmel erhoben, sie wird von Gott mit Leib und Seele aufgenommen. Was stellt uns dieses Fest vor Augen? Die Jungfrau Maria, herrlich, erhaben, glorifiziert, auf und über den Wolken, eine Königin am Gottesthron, makellos von Anfang an…
Ein schöner Rahmen für ein Pontifikalamt, an dem musikalisch und mit allerlei Brauchtum prächtig aufgefahren werden kann - aber haben diese Bilder etwas mit unserem eigenen Leben zu tun? Ist diese Vorstellungswelt alltagstauglich? Oder rückt Maria mit dem heutigen Fest für Normalsterbliche gar in eine unerreichbare Ferne?
Als Christen stehen wir in einer Spannung: wir dürfen und sollen unseren Blick auf die Herrlichkeit des Himmels ausrichten; doch wir bekommen das oft nur schwer mit unseren Alltagskämpfen zusammen. Eine viel bewanderte Brücke zwischen Himmel und Erde finden wir im Gnadenbild dieses Heiligtums: Maria Vesperbild - die Mutter hält den toten Sohn im Arm. Die Krone, die ihr Haupt ziert, kann nicht verbergen, was ihr Gesicht zeichnet: Tränen rinnen der Gottesmutter über die Wangen. In ihrem Blick liegt Trauer. Den Tod des eigenen Kindes erleben müssen – für Eltern gehört das zu den schmerzhaftesten Erfahrungen, die sie sich vorstellen können. Die Himmelskönigin kennt unser Leid. Unzählige Menschen durften hier schon Kraft schöpfen. Schmerz und Vertrautheit sind in der Pieta vereint. Es ist ein häufiges Motiv - die wohl bekannteste Darstellung ist die marmorne Statue des italienischen Bildhauers Michelangelo. Wer den Petersdom in Rom besucht, muss oft Schlange stehen, um einen Blick darauf werfen zu können.
Ein weitaus unbekannteres Gnadenbild Mariens befindet sich ebenfalls in Rom. Im Kloster Trinità dei Monti, das oberhalb der Spanischen Treppe liegt, befindet sich ein Fresko, das den Titel Mater Admirabilis trägt: die wunderbare Mutter. Es zeigt Maria sitzend und in sich ruhend, mit einem interessanten Detail. Sie hält eine Spindel in der Hand. Im Hintergrund steht ein Rocken, an dem die noch unbearbeiteten Fasern befestigt sind. Maria bei der Hausarbeit - ein ungewohntes Bild. Aber hätte Maria einen Instagram-Kanal gehabt oder wäre Maria von einem Filmteam begleitet worden, was würden wir da sehen? Maria beim Wickeln des Jesuskindes, Maria, wie sie die wenigen Habseligkeiten zusammenpackt, weil die junge Familie nach Ägypten fliehen muss; eine Frau, die sich darum kümmert, dass Hochzeitsgäste nicht auf dem Trockenen sitzen; eine Mutter, die unter dem Kreuz an der Seite ihres Sohnes ausharrt und sich seiner besten Freunde annimmt. Ein Bildband aus ihrem Leben würde die Gottesmutter in weiten Strecken beim Verrichten ganz alltäglicher Arbeiten und Aufgaben zeigen; durchaus getragen vom Gebet. Die Stunden, in denen sich Marias Ja bewährt, sind die vielen Stunden des Alltags. Hinzu kommen Stunden extremer Leiderfahrungen, aber auch tiefer Freude.
In der Offenbarung des Johannes ist heute von einem Zeichen die Rede. In der Sprache des Neuen Testaments bedeutet das: Gott macht sein Heilshandeln sichtbar, das uns sonst verborgen bliebe. In der Tradition der Kirche wird in der mit der Sonne bekleideten Frau, die den Kampf mit dem Drachen auf sich nimmt, Maria gesehen. An diesem Abend schaut die Kirche auf Maria als Bild des vollendeten Menschen, der diesen Kampf schon gewonnen hat. In der Präfation zum Hochfest heißt es: „Dem pilgernden Volk ist sie ein untrügliches Zeichen der Hoffnung und eine Quelle des Trostes.“ Trost und Hoffnung finden wir im Blick auf Maria vor allem dann, wenn wir heute nicht nur auf die himmlische, sondern auch auf die irdische Maria schauen. Maria als Typus des vollendeten Menschen, aber auch Maria bei der Hausarbeit und Maria, die Schmerzensmutter: Das alles schwingt mit.
Ein weiteres Bild aus der zweiten Lesung soll das noch vertiefen. Dort war von der Bundeslade die Rede (Offb 11,19a). Die Bundeslade hatte für das Volk Israel eine enorme Bedeutung. Darin wurden die Steintafeln mit den zehn Geboten aufbewahrt; aber es war noch mehr als das. Letztlich war die Bundeslade ein Zeichen für die Gegenwart Gottes inmitten seines Volkes. In der Lauretanischen Litanei wird Maria als Bundeslade angerufen – ein Ausdruck dafür, dass Gott in ihr Wohnung genommen hat. Wo Maria ist, ist Jesus. Mit Marias Hilfe kommt der Allerheiligste zu uns herab. Er verlässt das Reich seines Vaters und steigt herunter in diese Welt, die gezeichnet ist von Schwäche, Sünde, Armut, Krankheit, innerer Kälte, Zerrissenheit, Krieg und Tod. Das Fest Maria Himmelfahrt feiert die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel. Da ihr Leib Gott selbst beherbergt hat, sollte er die Verwesung nicht schauen.[1] Für uns heißt das: Was von Jesus berührt wird, ist nicht dem Tod überlassen! In dieser Welt erreichen wir nicht Perfektion auf allen Ebenen. Aber wenn wir uns in unseren Sorgen, in Leid, Sünde, Schmerz und Tod Gott öffnen, da überlässt er uns nicht unserem Schicksal! Was von Jesus berührt wird, landet nicht im Grab! Oft meinen wir, wer sich Gott öffnet, wird zu sagenhaften Taten berufen. Aber das imaginäre Fotoalbum einer Maria von Nazareth zeigt, wie gewöhnlich die meisten Aufgaben waren, mit denen der Alltag der Gottesmutter gefüllt war.
Gott beugt sich zu uns herunter, das ist die eine Bewegung. Aber es gibt auch die andere Richtung: Gott hebt uns zu sich empor. Maria (Himmelfahrt) als Bild des vollendeten Menschen rückt Gott und seine Heiligen nicht in weite Ferne. Im Gegenteil: Es rückt den Menschen näher in die Wirklichkeit Gottes. Es zeigt uns das Bild, das Gott vom Menschen hat. Und dieses Bild beschreibt etwas, was über unsere Lebenswirklichkeit hinausreicht. Ich möchte die Spannung, in die uns der heutige Abend stellt, noch einmal anders akzentuieren, denn ich sehe darin den Nährboden für viele gesellschaftliche und kirchliche Debatten. Es ist die Spannung zwischen den viel zitierten Lebenswirklichkeiten des Menschen und der Wahrheit Gottes über den Menschen. Diese Spannung lässt sich nicht einfach auflösen. Wir können sie weder glattbügeln, indem wir unsere geistlich fundierte Anthropologie aufgeben oder nur lang genug an der Ethik schrauben. Schon 2005 hat Kardinal Joseph Ratzinger vor einer „Diktatur des Relativismus“ gewarnt. Wir können die Spannung aber auch nicht aufheben, indem wir von anderen unbarmherzig schon jene Vollkommenheit erwarten, die die meisten Menschen erst durch Gottes letztes Zutun im Himmel erreichen werden.
Als Maria Gott ihr Ja gab, hat er schon längst sein Ja zur Menschheit gesprochen. Geben auch wir unser Ja zu diesem Menschenbild, das Gott gezeichnet hat. Wir dürfen das tun, auch wenn wir es selbst nicht immer einlösen können. Geben wir unser Ja zur unantastbaren Würde des Menschen: zum ungeborenen, zum schwachen, zum kranken, zum behinderten, zum fehlerhaften und schuldbeladenen, zum sterbenden Menschen. Das Ja zum Leben von der Zeugung bis zum natürlichen Tod duldet keine Kompromisse. Setzen wir dieses Ja als Vorzeichen, wo immer wir uns gesellschaftlich, politisch oder finanziell engagieren. Geben wir denen eine Stimme, deren Würde in unserer Gesellschaft relativiert wird. Da braucht es die Stimme der Kirche. Da dürfen wir uns nicht raushalten. Da müssen wir uns einmischen – in Gottes Namen! Es gibt Menschen, die berufen sind, die großen Debatten zu führen, aber es braucht auch alle, die gut marianisch im unmittelbaren Umfeld ein hörendes Herz haben und tätige Nächstenliebe üben. Denn hohe ethische Ansprüche verfechten heißt gerade nicht, sich über andere erheben. Keiner von uns handelt allein aus sich heraus vollkommen gerecht und gut. Stärken wir einander, wenn eine schwere oder weitreichende Entscheidung ansteht und bitten wir gerade für die jungen Leute, dass sie der Spur folgen, die Gott in ihr ganz persönliches Leben hineingelegt hat. Verurteilen wir die nicht, die neben der Spur laufen oder gar komplett auf die schiefe Bahn geraten sind. Nehmen wir sie immer wieder hinein ins Beziehungsgeflecht der Kinder Gottes! Denn Gott liebt nicht erst den perfekten Menschen, er liebt jeden Einzelnen schon jetzt, von Anfang an. Und lassen wir jene nicht allein, die mit dem Tempo und der Technik dieser Zeit nicht mehr mithalten können. Das Heilige Jahr ruft uns auf, dass wir es Gott gleichtun und auf vielfältige Weise Beziehung schenken: Beziehung kann Menschen zurück ins Leben holen.
Wer sich Gott überlässt, den wird er einmal nach seinem Bild vollkommen machen. Was mit Maria geschehen ist, das blüht auch uns: ewiges Leben bei Gott. Seit ihrer Aufnahme in den Himmel gilt: Maria lebt, mit ihr auch ich!
[1] Vgl. Präfation vom heutigen Hochfest.