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Wichtiges
Predigt von Bischof Bertram im Alpgottesdienst zum Fest Maria Schnee in Schwarzsee/Zermatt

Nehmen wir uns die Muttergottes zum Vorbild

05.08.2022

Lieber Herr Pfarrer Noti, liebe Gemeinde von Schwarzsee und liebe Gäste aus nah und fern, liebe Schwestern und Brüder, es ist für mich ein ganz besonderes Erlebnis hier mit Ihnen das Fest Maria Schnee zu begehen, in dieser wunderbaren und beeindruckenden Bergwelt!

Jedes Jahr - habe ich mir sagen lassen - wird die Mutter Gottes hier oben gefeiert, und wenn ich mich so umschaue, verstehe ich auch warum: Maria ist der Mensch, die Frau, die durch ihr vorbehaltloses Ja die Erlösung erst möglich gemacht hat. Ihr haben wir Christus, unseren Retter, zu verdanken. Sie hat dem Willen Gottes Raum gegeben unter ihrem Herzen, hat sich ihm zur Verfügung gestellt und wurde so zur Mutter für uns alle. Das Wunder von Maria Schnee - hier in dieser Umgebung, lässt sich nachempfinden, dass mitten im August Schnee fällt. Wie es eine bekannte römische Legende erzählt: Um den Bau einer Kirche zu initiieren, geschah es, dass im heißesten Monat Italiens, mitten in den Hundstagen des Jahres 358 über Nacht zarter Schnee auf dem Esquilin, einem der Hügel Roms, niederging und den Grundriss einer Kirche anzeigte...

Insgesamt über 17 Jahre durfte ich selbst in der Ewigen Stadt leben und habe häufig die Gelegenheit genutzt, das Patrozinium der Basilika Santa Maria Maggiore mitzuerleben und mich zu freuen an dem Jauchzen der Kinder, die sich im Blütenregen, der den Schnee symbolisiert, tummelten! Gott wirkt Wunder, nicht um dem Menschen Angst und Schrecken einzujagen, sondern ihn zu ermutigen, vertrauensvoll zu bleiben, auch in der scheinbaren Aussichtslosigkeit.

Doch Wunder sind keine Zufälle oder Selbstläufer – die Heilige Schrift macht deutlich, dass sie nur unter der Mitwirkung der Menschen geschehen. Schon eine alte rabbinische Geschichte erzählt von den 36 Gerechten, um deretwillen die Welt noch nicht untergegangen ist. Als Christen sind wir überzeugt: ohne die Zustimmung Marias gäbe es keine Erlösung. Die Mutter Gottes hat sich ganz in den Dienst des Heilswillens Gottes nehmen lassen, ohne Rückversicherung und ohne zu wissen, was im Einzelnen auf sie zukommen sollte.

In der starken Bildsprache des letzten Buches der Bibel, der Offenbarung, die in visionären Szenen die kosmische Dimension der Heilsgeschichte beschwört, haben wir soeben gehört, welche dramatischen Folgen der Seher Johannes dem Jawort Mariens zur Schwangerschaft beimisst: Mit ihrem Sohn, der den Namen Jehoschua trägt, „Jahwe rettet“, wird die Macht des Bösen gebrochen. Er bäumt sich in der Gestalt eines Drachen ein letztes Mal auf und will nicht kampflos das Feld räumen.

Uns heutigen sind solche Bilder oft fremd. Sie scheinen der Ratio/der Vernunft zu widersprechen und - Gott sei Dank - hat unsere Generation in der Mitte Europas auch kaum die böse Fratze des Krieges erlebt. Gleichzeitig leben unter uns nicht erst seit mehreren Monaten Menschen, die vor Krieg, Gewalt und Hunger, vor Dürre und Hitze geflohen sind, und sich hier ein Leben in Sicherheit erhoffen. Würden wir mit ihnen über diesen Kampf des Drachen mit der Frau, deren Schutz einzig und allein im Beistand Gottes liegt, sprechen - ich glaube, sie wüssten zu erzählen von Momenten lähmender Angst und abgrundtiefer Verzweiflung, von Hoffnung wider alle Hoffnung und einem Vertrauen, das einem selbst nur aberwitzig erscheinen kann!

Auch wenn die Evangelien hauptsächlich in den Kindheitsgeschichten Jesu von Situationen berichten, in denen Maria um das eigene und das Leben ihres Sohnes bangen musste, die Weissagung des greisen Simeon: „Deine Seele wird ein Schwert durchdringen“ (Lk 2,35) lässt uns erahnen, dass es auch

vor

Verhaftung und Kreuzestod Jesu Stunden herber Angst und bitterer Enttäuschung gegeben haben muss. Maria wird daher seit den ältesten Zeiten der Christenheit auch als die erste Jüngerin ihres Sohnes bezeichnet. Auf die Frage, warum er seiner Pietá, der Mutter mit dem Gekreuzigten im Schoß, ein so jugendliches Gesicht gegeben habe, soll Michelangelo geantwortet haben, weil sie ja die Tochter und Jüngerin ihres Sohnes sei. Daher können wir uns bei dem, was Jesus im heutigen Evangelium über Nachfolge und Selbstverleugnung sagt, getrost auch die Muttergottes vorstellen: in ihrer Demut, ihrem unverwüstlichen Gottvertrauen, ihrer Hoffnung und ihrer Bereitschaft, bis zum Ende den Leidensweg ihres Sohnes mitzugehen, in dem Glauben, dass der Tod nur die Schwelle, der Durchgang zum ewigen Leben ist.

Maria Schnee: mitten im Sommer fallen die Temperaturen unter den Nullpunkt, es wird eiskalt. Ist das nicht auch ein Bild für manche unserer zwischenmenschlichen Beziehungen? Die Liebe oder die Freundschaft erkaltet, man hat sich nichts mehr zu sagen und schweigt sich an. Eisiges Schweigen und hitzige Streitgespräche wechseln sich ab - welch ungeheurer Energieaufwand! Und oft findet man keinen Weg mehr zueinander. Unser heutiges Fest will eine Einladung sein, zu erkennen, dass wir in solchen Situationen nicht allein sind, dass wir in Maria eine Fürsprecherin und Trösterin haben. Sie ist mehr als eine gute Freundin, mehr als ein ‚himmlischer Kummerkasten‘. Denn sie hat selbst Not und Trauer, Leid und Schmerz bis zur Neige gekostet und ist nicht daran zerbrochen. Daher kann sie uns helfen, wenn wir nicht mehr ein noch aus wissen. Vertrauen wir uns ihr an: Sie versteht unser Stammeln und unser hilfloses Schweigen.

Im Mittelalter liebte man es, aus den Buchstaben des Namens Maria Worte zu bilden, die ihr Wesen ausdrücken sollten. So hat der heilige Albertus Magnus, ein hochgelehrter Dominikaner aus der schwäbischen Kleinstadt Lauingen, folgende fünf Charakterisierungen gefunden: M wie Mediatrix/Mittlerin, A wie Alleviatrix/Aufrich-tende, R wie Reparatrix/Wiederherstellende, I wie Illuminatrix/Erleuchtende und A wie Auxiliatrix/Helferin. Auch wenn diese lateinischen Bezeichnungen uns nicht mehr vertraut sind - ich möchte Ihnen besonders Maria als Reparatrix ans Herz legen, als die Mutter, die re-parieren kann und damit wiederherstellt, was zerbrochen ist. Sie hat durch ihr Jawort gegenüber Gott gleichsam den Sündenfall, den Bruch zwischen den Geschöpfen und dem Schöpfer, wiedergutgemacht. Es gibt in Frankreich und den USA sogar eine Ordensgemeinschaft mit dem Namen Sisters of Mary Reparatrix. Wie schön, wenn Menschen das Wiedergutmachen, das Heilmachen, zu ihrem Lebensinhalt machen!

Der Psychologe und Umweltprophet der ersten Stunde Wolfgang Schmidbauer schreibt in seinem jüngsten Buch mit dem Titel „Die Kunst der Reparatur“ (2020): „Die beste Reparatur ist eine, die durch sorgfältigen, pfleglichen Umgang nicht anfällt. Wer von Anfang an über die Grenzen der Belastbarkeit der Dinge und Lebewesen in seiner Umgebung nachdenkt, sieht eine Störung nicht nur als Anlass zu einer Reparatur, sondern als Aufforderung, sich über vorbeugende Pflege und Rücksichtnahme kundig zu machen.“[1] Leider haben wir es heute oft verlernt, etwas zu reparieren. Wer von uns kann noch einen Fahrradschlauch selbst flicken? Reparaturen sind nicht nur aus der Mode gekommen, sie wurden sogar als unnötig hingestellt. Denn es gab und gibt ja immer wieder etwas Neues, warum dann das Alte aufheben und reparieren?

Selten bleibt die Missachtung auf die unbelebten Dinge beschränkt. Wir übertragen diese Haltung oft auch auf unsere Beziehungen zu Menschen, auf den Partner/die Partnerin, den Freund/die Freundin, die Schwester, den Bruder. Wir brechen den Kontakt ab, machen uns selbständig und fragen oft nicht, wie es dem Menschen geht, der buchstäblich vor einem Scherbenhaufen steht. Gott sei Dank wissen aber die Hochbetagten unter uns noch Rat, wenn etwas Altes kaputtgegangen ist, und sie können auch erzählen, wie man es schafft, 50 und mehr Jahre als Ehepaar durch Dick und Dünn zu gehen.

Es macht mich nachdenklich, wenn Schmidbauer schreibt: „Die Kunst der Reparatur bringt uns einer Eigenschaft näher, die wir in nicht ferner Zukunft brauchen werden, ob wir nun wollen oder nicht: der Demut.“[2] Für uns als Gläubige heißt das: Nehmen wir uns die Muttergottes zum Vorbild, Maria Reparatrix. Sie hat die Welt nicht ihrem Schicksal überlassen, sondern war bereit, ihren Beitrag zur Rettung zu leisten. - Das ist nicht Schnee von gestern, liebe Schwestern und Brüder, das ist die Weisheit, die uns überleben lässt und unseren Lebensstil enkeltauglich macht, damit auch spätere Generationen noch Gletscher sehen und hier stehen können, ohne unter herabstürzenden Felsen begraben zu werden. Amen.

[1] Wolfgang Schmidbauer, Die Kunst der Reparatur. Essay. oekom:München 2020, S. 143.

[2] Ebd., S. 147.