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Wichtiges
Predigt am 26.03.2023 (5. Fastensonntag) im Dom im Rahmen der Internationalen Wochen gegen Rassismus

„Sich nicht raushalten, sondern sich einmischen!“

26.03.2023

„Misch dich ein!“ – Das fordern die Schwestern Maria und Marta von Jesus. Als ihr Bruder Lazarus schwer krank wird, versuchen sie alles, um ihm zu helfen. In dieser ausweglosen Situation wenden sie sich an Jesus, dem sie eine Nachricht schicken: „Herr, sieh: Der, den du liebst, er ist krank.“ Maria und Marta setzen ihre letzte Hoffnung in Jesus, der schon so viele geheilt hat.

Die beiden Schwestern fordern: Misch dich ein, hilf uns, schau nicht weg. Doch Lazarus stirbt. Jesus, nach dem sie gerufen hatten, auf dessen Hilfe sie gehofft hatten, er kommt zu spät. Ganze vier Tage kommt er zu spät. Vier Tage des Schmerzes, der Trauer und der endgültigen Ohnmacht angesichts des Todes. Für Maria und Marta wird sich das Blatt am Ende wundersam wenden, sie werden ihren geliebten Bruder zurückbekommen. Aber als Jesus bei ihnen ankommt, wissen sie das noch nicht.

In die Trauer mischt sich auch Enttäuschung, vielleicht sogar Wut. Marta sagt zu Jesus, als er endlich in Betanien ankommt: „Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.“ In diesen anklagenden Worten hören wir den Schmerz der Schwester: Jesus hat sie in ihrer Sorge scheinbar allein gelassen. Und wie reagiert Jesus? Spricht er den beiden Schwestern einfach sein Beileid aus und zieht weiter? Jesus weiß, dass Worte allein in diesem schmerzvollen Moment nicht genügen. Er tritt ans Grab – und dann weint er.

Jesus macht genau das, was die beiden Schwestern jetzt brauchen. Er ist einfach aufmerksam da. Jesus leidet mit Marta und Maria. Er weint um Lazarus wie um einen geliebten Bruder. Er leidet mit den beiden Schwestern, als wäre Lazarus auch sein Bruder. Jesus lässt sich bewegen vom Schicksal der Familie. Aus der reinen Außenperspektive, die manchmal nur zu oberflächlicher Betroffenheit imstande ist, wird echtes Mitleiden. Jesus hat Anteil am Leid und an den Schmerzen der Schwestern.

In diesem Moment des Mitleidens macht Jesus sich zum Geschwisterkind, zum Bruder von Maria, Marta und Lazarus. Er zeigt, wie es gelingen kann, glaubhaft am Schicksal anderer teilzuhaben. Empathie und Mitleiden sind Ausdruck wahrer Geschwisterlichkeit. Näher kann Jesus den beiden trauernden Schwestern nicht kommen. Im Mitleiden zeigt er sich solidarisch. Es ist ihm nicht gleichgültig, was mit Lazarus geschehen ist, er mischt sich also doch noch ein.

„Misch dich ein!“ – So lautet das Motto der diesjährigen Wochen gegen Rassismus. Sich einmischen, dem jeweils anderen Bruder und Schwester sein – das ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit. Auch Papst Franziskus fordert uns eindringlich dazu auf: Überwindet die „bequeme, kalte ... Gleichgültigkeit“![1] -  Nicht sich raushalten hilft, sondern sich einmischen! Wir müssen klar Position beziehen: gegen Diskriminierung, Hass und Gewalt, die unsere Mitmenschen aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe oder Religion, ihrer sozialen Schicht, ihres Geschlechts, ihres Alters, ihres Gesundheitszustands oder ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse erfahren.[2] Wenn wir dies beherzigen, kann eine Kultur des Friedens, der Geschwisterlichkeit und Solidarität entstehen.[3] Nach solch einem respektvollen Miteinander, nach solch einem Frieden sehnen wir uns schmerzlich. Es ist eine Sehnsucht, die sich nicht zuletzt aus den großen Krisen unserer Zeit speist. Mehr denn je spüren wir unsere Verwundbarkeit. Und gleichzeitig dürfen wir immer wieder erfahren: Solidarität macht uns stark.

Bei alledem darf die Rede von Geschwisterlichkeit nicht einfach nur ein Slogan sein. Vielmehr hat das Bewusstsein, mit unseren Mitmenschen als Geschwister verbunden zu sein, einen tieferen Grund. Als Christinnen und Christen glauben wir, dass der Schöpfergott unser gemeinsamer Vater ist. Mehr noch: Jeder und jede ist nach dem Bild Gottes geschaffen, hat daher eine unauslöschbare Würde. Gotteskindschaft, Geschwisterlichkeit und Menschenwürde gehören zusammen. Oder wie es beim Zweiten Vatikanischen Konzil formuliert wurde: „Wir können aber Gott, den Vater aller, nicht anrufen, wenn wir irgendwelchen Menschen, die ja nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, die brüderliche Haltung verweigern.“[4] Genau deshalb verwirft die Kirche jede Form des Rassismus. Wer Menschen wegen ihrer Herkunft oder Hautfarbe erniedrigt, wendet sich zugleich gegen den Schöpfergott. Denn bei Gott gilt jeder Mensch als geliebtes Kind.

Als Brüder und Schwestern sind wir dazu berufen, „ohne Gewalt und ohne Hintergedanken zum Aufbau einer wahrhaft friedlichen Welt“ zusammenzuarbeiten; so sagt es das Konzilsdokument Gaudium et spes.[5] Gemeinsam tragen wir die Verantwortung für die Erde, unser gemeinsames Zuhause, das Gott, der Schöpfer, uns anvertraut hat. Dies ist auch die grundlegende Botschaft des Dokuments von Abu Dhabi, das Papst Franziskus und Großimam Ahmad al-Tayyib von der ägyptischen Azhar 2019 unterzeichnet haben. Sie haben damit ein wunderbares Beispiel gegeben für eine geschwisterliche Haltung zwischen den Gläubigen unterschiedlicher religiöser Traditionen. Es war für mich eine große Freude und Ehre, in diesem Jahr – also erst vor wenigen Wochen – am 4. Februar in Abu Dhabi zu sein, um an einem internationalen Kongress teilzunehmen und eine Rede über die Geschwisterlichkeit zu halten.

Geschwisterlichkeit ist nicht immer einfach. Wer selbst Geschwister hat, weiß das. Auch Maria und Marta wissen es. Das zeigt sich in einer anderen biblischen Erzählung (vgl. Lukas 10,38-42) an ihrer Auseinandersetzung: Welche von beiden dient Jesus mehr – die Zuhörende oder die Eifrige? Wer macht es besser?

Geschwisterlich leben bedeutet auch nicht, immer einer Meinung zu sein. Aber es bedeutet, Unterschiede auszuhalten – und dabei respektvoll miteinander umzugehen. Geschwisterlichkeit ist nicht Gleichförmigkeit, sondern gegenseitige Achtung und sie fordert das Respektieren der jeweiligen Kulturen und Traditionen.

Mischen wir uns also ein! – Denn es macht einen Unterschied, ob wir – aus Angst oder Bequemlichkeit – einfach nur wegschauen oder ob wir uns einmischen. Es macht einen Unterschied, ob wir wie Jesus bereit sind, ans Grab zu treten, um zu weinen, um mitzuleiden. Es macht einen Unterschied, ob wir anderen unsere Stimme leihen, die selbst nicht laut werden können. Jedes Einmischen setzt ein kleines Zeichen: gegen Hass und Ausgrenzung, gegen Rassismus.

Mischen wir uns gemeinsam ein – für unsere Brüder und Schwestern, mit unseren Brüdern und Schwestern.

[1] Vgl. Fratelli tutti, 30.

[2] Vgl. Nostra aetate, 5.

[3] Vgl. Videobotschaft von Papst Franziskus zum Welttag der Geschwisterlichkeit 2022 (www.vatican.va/content/francesco/de/messages/pont-messages/2022/documents/20220204-videomessaggio-fratellanzaumana.html).

[4] Nostra aetate, 5.

[5] Gaudium et spes, 92.