Membra Jesu nostri: Ad caput
Verehrte Freundinnen und Freunde geistlicher Musik, liebe Schwestern und Brüder im Glauben, sicher haben Sie es beim Lesen des deutschen Textes schon gemerkt: Hier klingt durch die Worte des Zisterzienserabtes Arnulf von Löwen, der um die Mitte des 13. Jahrhunderts das Gebetsgedicht zu den geschundenen Gliedmaßen des gekreuzigten Herrn verfasste, für unsere Ohren ein anderer, sehr viel bekannterer Text durch, nämlich Paul Gerhardts Übersetzung (GL 289) dieser siebten und letzten Betrachtung, die sich dem Haupt und Gesicht Jesu widmet.
Am vergangenen Samstag schon haben wir mit dem Blick auf die Seitenwunde auch unseren eigenen Tod, ein in unserer Gesellschaft sehr Angst besetztes Thema, angesprochen. Für Christen in früheren Jahrhunderten galt das sicher ähnlich, aber ihnen war Leiden, Sterben und Tod als Alltagserfahrung viel mehr vertraut. Denken wir nur an die hohe Kindersterblichkeit, die in der zweiten Betrachtung zur Sprache kam, oder die Pest- und Epidemiezeiten, bei denen wir inzwischen auch mehr oder weniger mitreden können, oder, wie im Falle des protestantischen Pfarrers und begnadeten Lieddichters Paul Gerhardt (1607-1676), dessen halbes Leben in den 30-jährigen Krieg fiel. Weil Vater und Mutter nur wenige Jahre nacheinander starben, war er mit 14 bereits Vollwaise und trotz Studium und Pfarreranstellung erst mit knapp 50 Jahren in der Lage zu heiraten und eine Familie zu ernähren; drei von vier Kindern verstarben früh, ebenso seine Ehefrau, einzig der Sohn Paul Friedrich überlebte die Eltern. Wer solch ein Leben zu tragen hat, der sucht früh nach einem Halt. Paul Gerhardt fand ihn in einer tiefen Christusbeziehung, die fast mystische Züge annahm und ihn auch für seine Gemeindemitglieder zu einem Felsen in der Brandung werden ließen.
Sich aufs Engste mit dem leidenden Jesus Christus zu verbinden, gerade dann, wenn alles ins Wanken gerät und auf Menschen kaum mehr Verlass ist, das ist auch der „Weg zur Freiheit“, wie ihn 400 Jahre später der Pfarrer und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) erkannte. Zwei Strophen aus seinem Gedicht „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ seien hier zitiert:
[…]
Leiden.
Wunderbare Verwandlung. Die starken tätigen Hände
sind dir gebunden. Ohnmächtig einsam siehst du das Ende
deiner Tat. Doch atmest du auf und legst das Rechte
still und getrost in stärkere Hand und gibst dich zufrieden.
Nur einen Augenblick berührtest du selig die Freiheit,
dann übergabst du sie Gott, damit er sie herrlich vollende.
Tod.
Komm nun, höchstes Fest auf dem Wege zur ewigen Freiheit,
Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern
unsres vergänglichen Leibes und unsrer verblendeten Seele,
daß wir endlich erblicken, was hier uns zu sehen mißgönnt ist.
Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden.
Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.
Die Freiheit erkennen im Angesicht Gottes – im geschundenen, verunstalteten Antlitz Christi?
Wenn ich versuche, mich da einzufühlen, dann begreife ich aufs Neue, warum es sehr lange gedauert hat, bis das Kreuz, der Marterpfahl römischer Gewaltherrschaft, zum Siegeszeichen wurde. Die Christen der ersten Jahrhunderte, die immer wieder grausamen Verfolgungswellen ausgesetzt waren, und wie Petrus allzu oft ihrem Herrn unmittelbar ans Kreuz nachfolgten, bevorzugten als Symbole den Fisch – das kürzeste Glaubensbekenntnis der Christenheit –, den Anker, die brennende Lampe und das Bild vom Guten Hirten. Erst mit dem Sieg Konstantins an der Milvischen Brücke, den der Kaiser errang, weil er der Überlieferung nach einer im Traum erhaltenen Anweisung gefolgt war; erst als er auf seine Standarten das Kreuz setzen (in hoc signo vinces) ließ und das Christentum zur bevorzugten Religion geworden war, wurde das Kreuz zum Hauptkennzeichen eines christlichen Hauses. Sie kennen vermutlich alle auch die ähnliche Legende, der zufolge der hl. Ulrich, dessen 1.100sten Jahrestag seiner Bischofsweihe und 1.050sten Todestag wir heuer feiern, von einem Engel vor der Schlacht auf dem Lechfeld im August 955 ein Kreuz bekommen haben soll, zur Ermutigung und als Zeichen, dass das christliche Heer siegen wird!
Es ist noch gar nicht so lange her, da legten gläubige Menschen jeden Morgen beim Bettmachen, ein kleines Holzkreuz auf das Kopfkissen und abends kam es auf das Nachtkästchen – bis zu dem Tag, an dem es dem Sterbenden zum Trost in die Hand und dem Verstorbenen mit in den Sarg gegeben wurde. Welch eine aussagekräftige HAND-lung!
Abt Arnulf und Paul Gerhardt, obwohl durch vier Jahrhunderte und eine Kirchenspaltung getrennt, waren sich einig: der eigene Tod kann nur im Blick auf den Gekreuzigten bestanden werden. Und sicher haben beide mit ihren Glaubenstexten unzähligen Menschen geholfen, den Weg über die Schwelle anzutreten. Lassen auch wir uns einladen, vertrauen wir auf das Zeugnis derer, die uns vorausgegangen sind, „damit aufstrahlt die Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi“ (2 Kor 4,6) und wir wie der hl. Franziskus von Assisi von Bruder Tod, ital. sogar: Schwester Tod (sora morte) empfangen können, in der Glaubensgewissheit, dass Christus, der gekreuzigte und auferstandene Herr auf uns wartet!