„Artificial life“
Artificial life – ein ethischer Co-Impuls von Weihbischof Anton Losinger beim Senatsausschuss für Forschungsplanung "Visions of Science" der Max-Planck-Gesellschaft am 12. Oktober 2022 in Berlin.
Artificial life ist ein Thema, das nicht in einem kurzen Statement zu umreißen ist. Schließlich ist die Reichweite der damit verbundenen Technologien grenzenlos, deren Dynamik kaum zu fassen. Sie durchdringt nahezu all unsere Lebensbereiche und wird auch unser zukünftiges Leben maßgeblich prägen. Es stellt sich nur die Frage, wie? Wie weit wollen wir gehen? Was wollen wir ermöglichen? Wo setzen wir Grenzen? Wo sind ethische Grenzen? Bereits diese Fragen deuten an, dass die Möglichkeiten von artificial life mit einem Gestaltungsauftrag einhergehen, den wir nicht nur bestimmen, sondern ebenso verantworten müssen. Lassen Sie mich diese Überlegungen an drei Beispielen konkretisieren:
Genome Editing: Insbesondere die CRISPR-Cas9-Methode zeigt uns, dass gentechnische Interventionen auf dem Wege der somatischen Gentherapie oder des Keimbahneingriffs darauf zielen könnten, bestimmte Gendefekte zu korrigieren und so Krankheiten entweder zu heilen oder zu verhindern. Doch welche Risiken bergen solche Eingriffe in die menschliche DNA, insbesondere Eingriffe in die Keimbahn des Menschen? Angesichts der Irreversibilität solcher Eingriffe muss sich mit gewissen Fragestellungen auseinandergesetzt werden. Denn welche Genotypen sind erwünscht, welche sind dies nicht? Und haben solche Entscheidungen nicht einen selektiven Charakter, der vielleicht Einfluss auf unsere Vorstellungen von Lebensqualität oder sogar Lebenswert hat? Muss zudem mit Blick auf mögliche Eingriffe in die Keimbahn die Frage, wessen Würde durch Eingriffe in die menschliche Keimbahn bedroht ist, nicht noch einmal neu und anders gestellt werden? Schließlich haben solche Interventionen nicht bloß Auswirkungen auf eine einzelne Person, sondern auch auf all deren Nachkommen. Sozialpolitisch stellt sich die Frage, wer ein Recht auf den Zugang zu solch medizinischen Behandlungen hat. Hat jeder die Möglichkeit solch einer Gentherapie?
Neben der Prävention oder Behandlung menschlicher Erkrankungen könnten gentechnische Methoden beim Menschen auch für ein genetisches Enhancement eingesetzt werden. Bei einem solchen fixing up ginge es dann nicht mehr um eine Korrektur von Erbinformationen, die Krankheiten zur Folge haben können, sondern um eine gezielte Verbesserung menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten. Grundsätzlich geht es bei dem Thema des Human Enhancement um die künstliche Verbesserung des Menschen durch Pharmaka, Implantate, Prothesen oder Bio- und Nanotechnologien. Sicherlich kann in diesem Kontext beispielsweise auf Cyborgs eingegangen werden, dem Hybriden aus Mensch und Maschine. Mit dem Human Enhancement können aber auch transhumanistische Zukunftsideen verknüpft werden. Die wohl radikalste Transformationsvision beinhaltet einen sprunghaften Übergang vom Menschen zum Neuen Menschen durch die vollständige Digitalisierung des menschlichen Bewusstseins, das sogenannte „Uploading“ oder "Whole Brain Emulation“. Die zumindest digitale Unsterblichkeit scheint mit dieser Methode greifbar. Doch auch hier stellen sich grundlegende ethische Fragen, nicht nur nach den „natürlichen“ Grenzen des Lebens. Denn was ist Natur? Was ist Technik? Und inwiefern ändert sich das menschliche Selbstverständnis angesichts solch eines wissenschaftlich-technischen Fortschritts?
Zuletzt möchte ich noch ein Thema nennen, welches nicht wie eine mögliche Zukunftsvision klingt, sondern uns in unserem alltäglichen Leben begegnet: das autonome Fahren. Stets ist hier die Frage präsent, wie damit umzugehen ist, wenn moralisch relevante Entscheidungen an Künstliche Intelligenzen abgegeben werden. Wie entscheidet sich ein autonom fahrendes Fahrzeug in einer Dilemmasituation? Tötet oder verletzt es die 80-jährige Oma oder das spielende Kind? Der bekannte Trolley case. Und wer trägt die Verantwortung für solch eine Entscheidung, die zugleich ein Werturteil über den Lebenswert beinhaltet? Kann eine Künstliche Intelligenz überhaupt Verantwortung übernehmen? In diesem Kontext warnt Capurro vor der Falle des Anthropomorphismus: Wir können Begriffe wie Handeln, Autonomie, Person, Ziele, Werte, Entscheidung oder Verantwortung, Begriffe aus dem menschlichen Bereich nicht einfach metaphorisch auf Roboter anwenden.
Übrigens: Alle diesen technologischen Innovationen ist gemein, dass sie eine kaum fassbare Menge an Daten sammeln. Doch wie ist mit dieser Menge an Daten und deren Auswertungsmöglichkeiten umzugehen – Stichwort: big data? So stellen sich hier Fragen der informationellen Selbstbestimmung und dem Recht auf Privatheit. Sicherlich gilt es hierbei auch auf das Verhältnis von Freiheit, Sicherheit und Überwachung einzugehen, woran sich die Diskussion anschließt, ob durch all diese Daten auch nicht eine Infrastruktur der Vorhersage entsteht. Und was macht es mit uns, wenn unser Handeln plötzlich vorhersehbar wird?
Bereits diese Beispiele zeigen auf, dass all die Technologien des artificial life mit ethischen Herausforderungen einhergehen. Ethische Grundbegriffe, Freiheit, Entscheidung oder Verantwortung müssen in diesem Kontext neu gedeutet werden. Und was bedeutet angesichts dieser technologischen Innovationen Mensch-Sein? Sind diese Vorstellungen vom Mensch-Sein und die damit verbundenen Vorstellungen eines gelingenden Lebens frei von Diskriminierungs-, Selektions- oder Instrumentalisierungsgedanken? Was bedeutet Natur, was Technik? Gibt es hierbei überhaupt noch klar definierbare Grenzen?
In dieser Diskussion sind solch ethische Überlegungen nicht nur grundlegend, sondern m.E. prioritär; darauf aufbauend bedarf es zudem bestimmter Rahmenbedingungen: Es braucht von Seiten der Politik klare, eindeutige und vor allem verpflichtende Richtlinien für Forschung und Wissenschaft. Ebenso müssen Grenzen formuliert werden, um einen ethisch nicht vertretbaren Machbarkeitswahn einzudämmen. Dies impliziert eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsethos. Darüber hinaus braucht es natürlich auch (self) controlling systems; dem Thema der Technikfolgenabschätzung muss mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Darüber hinaus gilt es angesichts von big data stets Fragen der Datengewinnung, Datenspeicherung und Datenverwertung zu berücksichtigen. Und vielleicht bedarf es auch neuer Wertvorstellungen, denn muss es immer ein Höher, Schneller und Weiter sein? Und eine Verständigung darauf, in welchem gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kontext wir operieren (Europa, Eurasien, westliche Länder, Welt)?
Doch die größte Herausforderung scheint hierbei das Aushalten der Ambivalenzen zu sein: Da jeder Fortschritt zugleich neue Risiken erzeugt, bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung mit der „Dialektik von Fortschritt und Risiko“. Für den hiesigen Kontext bedeutet dies, den technischen Fortschritt des artificial life nicht grundsätzlich abzulehnen, ihn auch als Entlastung und Bereicherung wahrzunehmen, jedoch konsequent nach seinem Beitrag für eine gerechtere und bessere Welt, sowohl für den Einzelnen, als auch für unser Miteinander, zu fragen. Die Grundfrage lautet demnach: Wie gelingt es uns, mit all diesen technologischen Innovationen menschlich zu bleiben?
Den Beitrag in englischer Sprache lesen sie hier:
Quellen:
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