Der Säkularisierung entgegenwirken
Lieber Pfarrer Stanislaw Gregorczyk, liebe Schwestern und Brüder in Christus! Wolf und Lamm, Kalb und Löwe, ja sogar Säugling und Natter sind in Eintracht beisammen. Das Buch Jesaja beschreibt paradiesische Zustände. Zwischen verfeindeten Parteien wird der Lebensraum friedlich geteilt.
Bei den genannten biblischen Beispielen müsste der Eine den Anderen eigentlich jagen, da gibt es naturgemäß einen Schwächeren und einen Stärkeren. Hier wird uns eine Friedensvision vorgestellt, die uns gewaltig unrealistisch anmutet. Interessant ist, aus welcher Zeit diese Zeilen stammen. Die heutigen Verse werden einer Redaktion des Jesaja-Buches zugeordnet, die nach dem Babylonischen Exil am Werk war. Führende Schichten des Volkes waren verschleppt und der Tempel zerstört worden; dem Volk Israel wurden nicht nur wertvolle Schätze genommen; es wurde auch seiner kulturellen Identität beraubt. Die Situation war alles andere als paradiesisch. Das Volk Israel hatte eine neue Freiheit gewonnen, doch es war konfrontiert mit der mühevollen Aufgabe des Wiederaufbaus – und all das unter ärmlichen Verhältnissen. Ein Bild fasst die Wirklichkeit treffend zusammen: Es ist die Rede vom Baumstumpf. So fühlt sich das Volk Israel nach dem Trauma des Exils. Ein Baumstumpf ist tot, da ist kein Leben mehr drin.
Abgehackt und abgehakt – bis heute lassen Kriege ganze Völker so zurück. Wir wissen es aus unserer eigenen Geschichte und erfahren – und das erfüllt uns mit neuem Schmerz -, dass es wieder und wieder geschieht. Und vielleicht kennen Sie dieses Lebensgefühl auch aus ihrem ganz persönlichen Bereich, wenn berufliche, familiäre oder freundschaftliche Beziehungen in die Brüche gehen und das Leben wie ein Scherbenhaufen vor einem liegt.
In diese Erfahrung hinein spricht der Prophet eine Hoffnungsvision. Der Baumstumpf wird neues Leben hervorbringen. Es beginnt unscheinbar, ein kleiner Trieb tut sich hervor. Aber dieser neue Trieb wird wachsen, stark werden, Frucht bringen und zum Zeichen der Gerechtigkeit für alle Völker werden. Es ist der Geist Gottes, der solche Wunder vollbringt. Es ist der Geist, der heilt und tröstet, der Versöhnung bringt und Frieden schafft.
Liebe Schwestern und Brüder, wir alle haben diesen Geist in der Taufe empfangen. Wir sind aufgefordert, daran mitzuwirken, dass der Geist Gottes seine Wirkung entfalten kann. Sicher hat die Vision des Jesajabuches eine eschatologische Note. Lamm und Löwe werden in dieser Welt nie zu Freunden werden. Selbst dann, wenn Völker Frieden schließen, ist es ein langer Weg, bis Verletzungen und Wunden heilen, die einmal gerissen wurden. Die vollkommen heile Welt können wir hier nicht machen. Aber die Vision von Frieden und Einheit ist wichtig, weil sie unserem Handeln eine klare Richtung vorgibt. Und diese Richtung ist nicht beliebig, wenn wir als Kinder Gottes leben wollen. Wir müssen unsere Haltungen und unsere Entscheidungen daran messen lassen. Viele sprechen sich für Versöhnung und Frieden aus, aber in der konkreten Umsetzung wird es für den einzelnen Menschen wie auch für ganze Nationen zur großen Herausforderung. Die Lesungstexte geben uns mehrere Hilfestellungen, um auf dem Weg eines friedvollen Miteinanders voranzuschreiten:
Der Römerbrief fordert die Stärkeren auf, auf die Schwächeren Rücksicht zu nehmen. Ich möchte in Konflikten niemanden die Rolle des Schwächeren oder Stärkeren zuweisen. Wichtig scheint mir, dass wir uns als Christen der Logik einer Welt, die nur die Macht des Stärkeren anerkennt, entziehen. Das heutige Evangelium enthält den Ruf zur Umkehr. Wer sich an einem hohen Ideal ausrichtet – und das sind Frieden und Versöhnung allemal –, braucht immer wieder eine Kurskorrektur. Wo einmal Wunden geschlagen wurden, müssen nicht selten mehrere Anläufe genommen werden, um einen gemeinsamen Weg gehen zu können. Ein weiterer Punkt ist bereits angeklungen: Der Spross, der aus dem Baumstumpf Isais, aus dem Geschlecht Davids hervorging, ist Jesus Christus. Der menschgewordene Gott ist das Friedenszeichen, das den Völkern gegeben ist. Er ist der Kristallisationspunkt unserer Einheit; suchen wir enge Verbindung mit ihm, damit wir aus seinem Geist handeln können.
Ein historisches Beispiel für die Fruchtbarkeit einer Geste, die im Geist Christi vollzogen wird, ist der Briefwechsel zwischen den Bischöfen unserer beiden Länder vor 60 Jahren. In einem Schreiben der polnischen Bischöfe, das an die deutschen Bischöfe erging, heißt es: „In diesem allerchristlichsten und zugleich sehr menschlichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen hin (…), gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“ Nach den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs und inmitten des Kalten Krieges nahmen die deutschen Bischöfe diese Einladung, einen Weg der Versöhnung zu beschreiten, dankbar an. Dieser Weg wurde nicht sofort von allen Gläubigen mitgetragen, Schuld und Traumata wogen schwer. Aber im Rückblick dürfen wir auf viele Früchte blicken, die aus diesem Trieb erwachsen sind. Es sind Projekte, die der Aufarbeitung, der Verständigung und Versöhnung unserer Völker dienen. Auch zwischen den Bischöfen beider Länder besteht bis heute eine einzigartige Beziehung und ein enger Austausch. Mitte der 90er Jahre wurde hierfür eigens eine Kontaktgruppe der Bischofskonferenzen ins Leben gerufen, die ich auf deutscher Seite leiten darf. Kurze Zeit vorher (1989) wurde auch die polnische Gemeinde Augsburg gegründet. Heute darf ich Ihnen meine herzlichen Glücks- und Segenswünsche zum 30. Weihetag Ihrer Pfarrkirche „Zur Göttlichen Barmherzigkeit“ überbringen, die Ihnen als Gläubige spirituelle Heimat ist. Als Gemeinde sind sie lebendiger Beweis dafür, dass Miteinanderleben gelingt und dass kulturelle Verständigung möglich ist. Ein weiteres Jubiläum dürfen wir an diesem Tag miteinschließen. Lieber Pfarrer Stanislaw Gregorczyk, danke, dass Sie seit 10 Jahren im Dienst dieser Gemeinde, dieser Gläubigen und damit auch im Dienst der deutsch-polnischen Versöhnung stehen.
Liebe Gläubige, die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Kulturen, der polnischen, deutschen und auch der europäischen gehört zu ihrem Alltag; Ihr Glaube und Ihre Identität werden durch die Zugehörigkeit zu mehr als einer Kultur geprägt. Mit der Samstagsschule des Christlichen Zentrums, das mit dieser Gemeinde verknüpft ist, ebnen Sie auch den Jüngsten unter Ihnen einen konkreten Weg, um diese Herausforderung anzunehmen: Ihnen ist es ein Anliegen, dass ihre Kinder um ihre Wurzeln wissen, dass sie Kultur und Sprache der Heimat kennen lernen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität geht einher mit der Förderung des kulturellen Austausches, damit Verständnis und Freundschaft zwischen Menschen unterschiedlicher Prägungen wachsen können. Einen besonderen Dank sage ich allen, die sich in diesem Kontext für die Weitergabe des katholischen Glaubens einsetzen, in dem ihre Identität und Kultur verankert ist. Danke für Ihr Engagement für die Evangelisierung. Das ist unser aller Kerngeschäft. Deutschland und Polen: beide haben mit einem gewaltigen Schub der Säkularisierung zu kämpfen. In unseren Gesellschaften Gott zu implantieren, ist eine Herkulesaufgabe.
Glaubenswachstum, Frieden und Versöhnung sind hehre Ziele für jede christliche Gemeinschaft. Die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zeigen, dass es notwendig ist, daran festzuhalten. Es sind keine Selbstläufer, aber im Vertrauen auf Gott dürfen wir es angehen. Er gießt seinen Geist durch die Geschichte hindurch aus; von unserer Seite braucht es die Bereitschaft, generationen- und kulturübergreifend zusammenzuwirken. Vergelts Gott und seinen Segen für alles, was Sie dazu beitragen.