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Wichtiges
Predigt von Bischof Dr. Bertram Meier im Gottesdienst zum Abschluss der Missionarischen Woche in Horgau

Den Durst nach Spiritualität stillen

12.03.2023

Vor fast 30 Jahren meinte die Dudenredaktion eine Lücke im deutschen Wortschatz füllen zu müssen und suchte über einem Wettbewerb nach einem Wort, das den Zustand des Nicht –mehr-Durstigseins bezeichnet. Vielleicht kommt das „Siegerwort“ den Älteren unter Ihnen noch bekannt vor: Das Pendant zu „satt“ sollte „sitt“ heißen. - Aber es hat sich nicht durchgesetzt! Warum nicht, könnte man fragen, wo wir doch sonst oft genug mit neuen Wörtern zu tun haben – denken wir nur an die Pandemiezeit - und viele davon zumindest in unseren passiven Wortschatz aufnehmen?

Vielleicht, weil wir Menschen intuitiv spüren, dass unser spiritueller Durst nur selten gestillt wird? Dies legen jedenfalls die Schrifttexte, die wir gerade gehört haben, nahe. Zuerst einmal geht es im Buch Exodus und später im Johannesevangelium um den in der ausgetrockneten Kehle spürbaren leiblichen Durst: Nur allzu verständlich, denn das Volk Israel befindet sich auf der Wüstenwanderung, da sind Wasser und Nahrung Mangelware und auf ihr Fehlen reagiert der Mensch je nach Temperament mit Depression oder Aggression. Meist sucht man einen Schuldigen, einen Sündenbock, den man für die schwierige Situation verantwortlich machen kann - und wer sollte das anderes sein als der Anführer, als Mose, auf dessen Geheiß hin das Volk aus Ägypten herausgezogen ist? Die Stimmung unterm Volk ist komplett umgeschlagen, nichts mehr da vom Jubel der Befreiten, vom Wunder am Roten Meer und dem Sieg Gottes über das Heer des Pharaos. Nach dem Motto: Die Vergangenheit ist vorbei, jetzt bin ich durstig und jetzt wollen meine Bedürfnisse befriedigt werden!

In seiner Not bestürmt Mose Gott im Gebet und erhält genaue Anweisung, wo er Wasser aus dem Felsen schlagen kann. Und siehe da: ein neues Wunder geschieht, das Blatt dreht sich wieder, das Volk gibt sich zufrieden und Mose wird nicht gesteinigt. Doch seine Namensgebung für den Ort – Probe und Streit – weist darauf hin: der Leidgeprüfte kennt seine Pappenheimer und weiß, dass ihm nur eine Verschnaufpause gegönnt ist!

Wo sind wir, wo bin ich in dieser Geschichte? Wie sieht es mit meiner Frustrationstoleranz, mit meiner Selbstdisziplin und meinem Gottvertrauen aus? Wie gut verkrafte ich es, wenn ich mich in Geduld üben muss, wenn etwas nicht nach Wunsch läuft? - What would Jesus do? W.W.J.D. – so stand es bis vor einigen Jahren auf vielen Armbändchen nicht nur von Mitgliedern evangelikaler Kirchen – im heutigen Evangelium gibt uns Jesus ein sprechendes Beispiel, das nicht nur Sie, liebe Missionarinnen und Missionare, zur Nachahmung einlädt:

Jesus ist, wie es ausdrücklich heißt, „müde von der Reise“ und gerade steht die Sonne im Zenit. Sie brennt erbarmungslos herunter, kein Schatten weit und breit – und kein Schöpfgefäß. Da kommt – auch dies ist kein geringes Wunder - eine Frau zu ungewohnter Zeit zum Brunnen. Seit Jahrtausenden haben sich Interpreten darüber ausgelassen, warum sie wohl allein am Brunnen sein wollte, und die Gründe, die man fand, sagten oft mehr über die blinden Flecken der Deuter selbst aus als über die Gepflogenheiten von Samariterinnen…

Dieser Frau gegenüber offenbart Jesus seinen Durst und bricht damit, wie die prompte Reaktion zeigt, ein ungeschriebenes Gesetz. Jesus setzt sich über menschengemachte Tabus hinweg, er begegnet seinem Gegenüber offen von Mensch zu Mensch, ja, er „vergisst“ im Gespräch, in der Hinwendung zum persönlichen Schicksal dieser Frau, deren Namen man(n) für nicht überlieferungswürdig gehalten hat, buchstäblich seinen leiblichen Durst. Denn er merkt: Diese Frau hat viel Leid erlebt, sie war Spielball einer familiären Heiratspolitik, die nur auf Prestige und Versorgung abgestellt war. Hier ist ein Mensch, der spirituell dürstet, sich nach Wertschätzung und Respekt sehnt. Jesu Art zu evangelisieren geschieht aus echtem persönlichen Interesse, ist völlig selbstlos und ohne Hintergedanken: Jesus hat das Glück der Frau im Sinn, nicht sein eigenes Renommee! Ihm geht es vor allem darum, die Samariterin für die unendliche Liebe Gottes zu sensibilisieren, jenseits von Stammesgrenzen, von moralischen und nationalistischen Vorgaben. Welch wunderbares Vorbild für jede und jeden von uns, die wir alle aufgefordert sind, von der Hoffnung zu erzählen, die uns erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15) oder nach der einprägsamen Übersetzung Luthers von Lk 6, 45 leben sollten: Wes das Herz voll ist, des fließt der Mund über!

Wenn Sie, liebe Schwestern und Brüder, in diesem Sendungsgottesdienst den Segen Gottes erbitten, um ihrem inneren Ruf zu folgen und als Zeugen für Christus unterwegs zu sein, so beginnen Sie damit zweifellos ein kleines Abenteuer. Doch treten Sie gleichzeitig in die Fußstapfen jener, die als „Anhänger des Weges“ (vgl. Apg 9) die Botschaft von Tod und Auferstehung Jesu Christi weitersagten, weil sie, wie das Petrus stellvertretend in der Apostelgeschichte bekennt, „unmöglich schweigen (können) über das, was (sie) gesehen und gehört haben“ (Apg 4,20). - Zweitausend Jahre später sprechen wir nicht mehr, wie die Apostel oder die Samariterin und ihre Nachbarn aus eigener Anschauung, und dennoch aus unserer je individuellen Gotteserfahrung heraus!

„Erlöster müssten sie aussehen, die Christen“ soll der Religionskritiker Friedrich Nietzsche gesagt haben - und er hat ja Recht: Wer seinen Glauben nur im Herzen trägt, ohne dass er in der Tat Gestalt annimmt, der hat noch nicht verstanden, was Jesus meint, wenn er sagt: „Wer die Wahrheit tut, kommt zum Licht“ (Joh 3,21) oder mit einem kurzen Wort des hl. Vinzenz von Paul: „Liebe sei Tat“. Mission im christlichen Sinn erschöpft sich nicht im Reden, und ist schon gar nicht Belehrung, sondern lebt von der Empathie, dem raschen Erkennen, wo Hilfe Not wendend wirkt. Denken Sie daran, liebe Missionierende, Sie werden viele Lebensgeschichten hören, wenn die Menschen zu Ihnen Vertrauen haben. Und dieses Vertrauen verpflichtet: Denn wir sind nach Antoine de Saint-Exupéry „verantwortlich“ für das, was wir uns „vertraut gemacht“ haben[1].

Der Durst nach Spiritualität ist heute riesengroß, und vielleicht gerade da am größten, wo das Durstgefühl schon verloren gegangen ist. Da braucht es viel Fingerspitzengefühl und Intuition, um, ohne aufdringlich zu sein, den richtigen Ton zu finden. Nochmals: Nehmen wir uns ein Beispiel an unserem erschöpften Herrn Jesus Christus. Er äußert eine Bitte aus einem ganz menschlichen Bedürfnis heraus und lässt sich dann auf ein Gespräch ein, das eine existenzielle, ja transzendente Dimension besitzt. Plötzlich wird die konkrete Situation, ja Raum und Zeit aufgebrochen und eine Tiefendimension erreicht, die den Grundwasserspiegel der Seele berührt.

Auch wir sind aufgerufen, „lebendiges Wasser“ (Joh 4,11) weiterzugeben – rein und unvermischt, ohne Beimischung von Eitelkeit und Selbstdarstellung, auch nicht vermengt mit einem latenten Erfolgsdruck, der sich ganz schnell einschleicht, wenn man sich mit anderen vergleicht. Jeder Priester, jede und jeder Ordensangehörige, jeder gläubige Mensch ist „Wasserträger Gottes“ (Manès Sperber), doch nicht aus eigenem Vermögen heraus, sondern aus Gnade, wie Paulus nie zu betonen müde wird. Hören wir vor diesem Hintergrund nochmals die Worte der 2. Lesung aus dem Römerbrief im Zusammenhang: „Gerecht gemacht … aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn. Durch ihn haben wir auch im Glauben den Zugang zu der Gnade erhalten, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes. (…) Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“

Merken Sie es? Hier geht es nicht um Erfolge, um Kommunikationsmethoden oder gar Tricks, wie man andere beeindruckt. Hier wird der eigene Durst, die eigene Sehnsucht in den Blick genommen und die Dankbarkeit ausgedrückt für all das, was nicht menschengemacht ist, für die göttlichen Gaben Glaube, Hoffnung und Liebe. Wir selbst, Sie und ich, sind die Bedürftigen vor Gott!

Das dürfen wir nie vergessen, sonst betrügen wir Gott, uns selbst und erst recht die anderen, zu denen wir gesandt sind. Wir sind aufgefordert, mit unseren leeren Händen, mit unserem ausgetrockneten Herzen vor DEN hinzutreten, der unser Glück ist, der allein unsere Sehnsucht, unserem Durst stillen kann, vor den menschgewordenen Gott. Und wenn wir unsere Sehnsucht nach Liebe ehrlich eingestehen, wenn wir uns IHM zuwenden, dann, ja dann werden wir buchstäblich geflutet mit dem Wasser der Liebe Gottes, wie Paulus es selbst erlebt hat: „Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ (Röm 5,1-5). Nicht wir sind es, die missionieren, sondern Gott bedient sich unserer Hände, unserer Worte, unserer Bereitschaft, sich ihm ganz zur Verfügung zu stellen, und der Hl. Geist weht, wo er will (vgl. Joh 3,8) – machen wir uns das wirklich klar – das kann auch unsere Vorurteile und Scheuklappen zu Tage fördern!

Ein Beispiel zum Abschluss soll dies illustrieren: Die französische Kommunistin und Philosophin jüdischer Herkunft, Simone Weil, kam über die Bibel und das Gebet zu einer tiefen Christusbeziehung, die - ganz ohne die Taufe! – eine mystische Dimension annahm. Sie starb 1943 in London an Auszehrung, weil sie ihre Lebensmittelkarten an andere Bedürftige verschenkt hatte. In ihren Betrachtungen zur Vaterunserbitte „Dein Reich komme“ heißt es: „Hier handelt es sich nun um etwas, das kommen soll, das noch nicht da ist. Dieses Reich Gottes ist die völlige Erfüllung der ganzen Seele (…) durch den Heiligen Geist. Der Geist weht, wo er will. Man kann ihn nur rufen. (…) Der Gedanke an ihn sei ein Ruf oder ein Schrei. So wie man sich, (…) krank vor Durst, den Akt des Trinkens nicht mehr (…) vorstellt. Nur noch das Wasser stellt man sich vor, (…) aber dieses Bild des Wassers ist wie ein Schrei des ganzen Wesens.“[2] - Hören wir nicht auf, mit unserer ganzen Existenz den Geist Gottes auf unsere geschundene Welt herabzurufen! Amen.

 

[1] Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz, Kap. XXI.

[2] Simone Weil, Das Unglück und die Gottesliebe. München 1953, 236f.