Membra Jesu nostri: Ad latus
Verehrte Freundinnen und Freunde geistlicher Musik, liebe Schwestern und Brüder im Glauben, nach den Füßen und Händen, die wir an den vergangenen Samstagen betrachtet haben, wenden wir uns heute der Seitenwunde Jesu zu – jener Wunde, die dem Gekreuzigten erst nach seinem Tod zugefügt wurde, um einen sicheren Beweis zu haben, dass er sein Leben ausgehaucht hatte.
Der Evangelist Johannes schildert uns diese Szene sehr eindringlich: „Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon tot war, zerschlugen sie ihm die Beine nicht, sondern einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite und sogleich floss Blut und Wasser heraus. Und der es gesehen hat, hat es bezeugt und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiß, dass er Wahres sagt, damit auch ihr glaubt“ (Joh 19,33-35).
Wir alle haben es als Kinder schmerzhaft gespürt, wenn wir zu viel gerannt sind, Fußball oder Völkerball spielten und uns dabei im Eifer komplett verausgabten: Ich meine das Seitenstechen, einen Schmerz in der Lunge, der uns zwang, zu pausieren und erst einmal wieder ruhig zu atmen, wenn wir ganz aus der Puste gekommen waren. Jesu Seitenwunde hat, im Lichte des Glaubens betrachtet, eine ähnliche und zugleich tiefere Bedeutung: Sie offenbart sein mitfühlendes Herz, das Herz Gottes, das sich vor Liebe zu uns verzehrt: Gottes Herzschmerz hat mit uns zu tun!
Abt Arnulf von Löwen, dessen Text Dietrich Buxtehude vertont hat, wusste davon ebenso wie Meister Eckhart, der in seiner Predigt „Vom Leiden Gottes“ sagt: ER „nennt unsere Sünde seine Sünde und sein Werk unsere Werke, denn er hat unsere Sünden gutgemacht, als ob er sie selbst getan hätte, und wir besitzen den Lohn seiner Werke, gerade als ob wir sie gewirkt hätten. Und dies soll unsere Mühsal gering machen, denn der gute Ritter klagt nicht um seine Wunden, wenn er den König ansieht, der mit ihm verwundet ist. Er bietet uns einen Trank, den er zuvor getrunken hat. Er schickt uns nichts, was er nicht vorher getan oder gelitten hätte.“[1] Er schickt uns nichts, was er nicht vorher getan oder gelitten hätte – eine solche Aussage führt unmittelbar ins Zentrum unseres Glaubens: Gott wurde Mensch, um ganz uns gleich zu werden. „Er entäußerte sich“, wie es im Philipperbrief (Phil 2) heißt, „wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich“…
Wenn wir die Seitenwunde am Palmkreuz aus der Weilheimer Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt betrachten, dann scheint es, als hätte der Künstler sie absichtlich recht tief gemacht, so als wollte er uns auffordern: Mach es wie Thomas, leg Deine Hand in meine Seite, spüre mein vor Liebe pochendes Herz - und glaube!
Wenn aber wir davon sprechen, dass wir ‚den Finger in die Wunde legen wollen‘, dann schwingt da nicht selten schon ein aggressiver Ton mit, im Sinne von: Ich hab‘ Euch durchschaut, da ist noch längst nicht alles in Ordnung, meine Kritik müsst ihr Euch anhören! Wie weit haben sich solche Gedanken schon vom Ursprung entfernt, wie sehr ist das Original schon verdunkelt in unseren oft erbarmungslosen Ver-gegnungen, wie der Religionsphilosoph Martin Buber gescheiterte Begegnungen genannt hat.
In früheren Jahrhunderten gab es bisweilen den Brauch, die Seitenwunde eines Andachtskreuzes als Kummerkasten zu nutzen. Ja, Sie haben richtig gehört: Die Kunsthistoriker haben festgestellt, dass manche Kreuze wie eine Art spirituelle Briefkästen funktionierten. Die gläubige Person schrieb ihr Anliegen auf einen Zettel und steckte ihn dem Gekreuzigten buchstäblich ins Herz. Das innerliche Gebet des Hilfesuchenden findet so einen äußeren Ausdruck: Ich gebe meine Last, meine Not, den Menschen, um dessen Gesundheit ich bange, die Situation, die mich krankmacht, die Angst, die mir schlaflose Nächte bereitet – alles dies - gebe ich ab, lege es dem leidenden Sohn Gottes buchstäblich ans Herz, damit er sich darum annehme. ‚“Werft alle Eure Sorge auf ihn, denn er kümmert sich um Euch!“, ermuntert uns der 1. Petrusbrief (1Petr 5,7). Wissen wir das noch? Haben wir noch eine geistig-geistliche Anlaufstelle für solche Momente?
Der Zisterzienserabt Arnulf von Löwen geht in seinem Gebetsgedicht sogar noch weiter: Er bittet darum, dass sein letzter Atemzug (meus flatus/ hora mortis) in die Seitenwunde Jesu eintrete und sich dort verströme und er dann für immer ganz nah beim geliebten Herrn verbleiben kann.
Eine Seele, die Wohnung nimmt in der Seitenwunde Jesu – welch gewagte Vorstellung! Und doch, je mehr ich darüber nachdenke, was für eine innige Liebesbeziehung spricht daraus! Als wir vor zwei Jahren den 500. Geburtstag unseres früheren Dompredigers Petrus Canisius (1521-1597) mit einem Studientag feierten, da entdeckte ich in einem Brief, den der erfahrene Seelenführer einem jüngeren psychisch angeschlagenem Mitbruder schrieb, den Satz: „Baue dein Nest in den Wun-den Christi!“[2] Ich glaube der Bibel, wenn sie schreibt: Wer nicht liebt, bleibt im Tod. Denn die Liebe ist stärker als der Tod – die Seitenwunde Christi ist das Zeichen dafür. Es gibt Sie wirklich: die ewige Liebe. Sie weist über jedes Grab hinaus, auch über das, in welches man einen jeden von uns einmal betten wird.
Bis dahin wird jede Entfremdung, jeder Abschied, jeder Verlust, jedes Lassenmüssen und jeder Tod eine Wunde sein und bleiben. Aber die Wunden sind verklärt, sie haben einen österlichen Glanz. Gott liebt uns, seine Söhne und Töchter, und will mit uns Gemeinschaft. Und wie er seinen eigenen Sohn nicht im Tod gelassen hat, so wird er auch uns herausholen ins ewige Leben. Unsere Aufgabe ist es, einander zu helfen, uns einzuleben in den Tod und so hinein zu sterben in das Leben.
Denken wir jetzt, während wir der Kantate von Dietrich Buxtehude zuhören, voller Dankbarkeit besonders an die Menschen, die andere begleiten auf dieser Schwelle vom Tod ins Leben, und erbitten wir ihnen Gottes Kraft für ihren anspruchsvollen Dienst. Und bitten wir auch für uns, dass wir der Liebe Gottes trauen. Denn der Osterglaube besteht darin, Gottes Passion zu glauben als Liebe über den Tod hinaus: Christi Passion am Kreuz ist überwunden, die Leidenschaft Gottes für uns geht weiter. Bereiten wir Gott keinen Liebeskummer!
[1] Meister Eckhart, Predigten, Traktate, Sprüche: 12. Vom Leiden Gottes unter: www.zeno.org/Philosophie/M/Meister+Eckhart/Predigten...
[2] Eigene Paraphrase bzw. Übersetzung von Br II, 742.