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Wichtiges
Katchese von Bischof Bertram zum 1. Advent in der Reihe "Cantate Domino" im Augsburger Dom

Die Ankündigung der Geburt Jesu (Lk 1, 26-38)

26.11.2022

Wir alle sind Teil einer Familie, bleiben ein Leben lang Mutter, Vater, Tante, Onkel, Neffe und Nichte, Cousin und Cousine – selbst über unseren eigenen Tod hinaus. So spannt sich die Menschheitsfamilie über die ganze Welt: jede ist mit jedem verwandt. Heute können wir das sogar anhand der Gene nachweisen. Man hat z. B. durch DNA-Analyse von Knochenfunden bestätigt, dass Europa von Afrika aus besiedelt wurde. Und ich kann nur hoffen, dass sich diese wissenschaftlichen Erkenntnisse so in unseren Köpfen verankern, dass wir Europäer endlich aufhören, auf die Afrikaner, die die Wiege der Menschheit bewohnen, arrogant herunterzuschauen. Solcher Hochmut hat Unterdrückung und Versklavung erst möglich gemacht und bis heute findet der Rassismus täglich neue Nahrung!

Wenn wir uns daher in diesem Advent mit den Erzählungen aus der Kindheit Jesu beschäftigen, dann sollten wir uns neu bewusstmachen, dass wir einen Menschen als Sohn Gottes und Erlöser der Welt anbeten, der auf dem afrikanischen Kontinent geboren wurde und sein kurzes Leben bis zum Tod am Kreuz in einer Region verbrachte, die man als Vielvölkerregion bezeichnen könnte. Allein die hebräische Bibel ist voll von Schilderungen, wieviel Bewegung es in diesem fruchtbaren Streifen entlang der Mittelmeerküste gab. Auch die Sprachen, die zurzeit Jesu dort gesprochen worden, bilden diese Vielfalt ab: die Verkehrs- und Handelssprache war Griechisch, die Sprache der römischen Besatzerhierarchie Lateinisch, die Umgangssprache der Bevölkerung Aramäisch und die der Heiligen Schriften Hebräisch, ganz zu schweigen von den Legionären aus dem gesamten Imperium, die sich selbstverständlich in ihren Muttersprachen unterhielten. Sieht man die Evangelien einmal unter diesem Blickwinkel an, dann sind vor allem die Eigennamen ein Indiz dafür, aus welcher Kultur jemand kommt.

Im Mittelpunkt unserer heutigen Betrachtung steht das Evangelium von der Ankündigung der Geburt Jesu. Die hier genannten Orts- und Personennamen spannen einen Bogen auf, der uns mit der menschlichen Familie des Gottessohnes vertraut macht: Maria und Josef aus dem Hause David und im Zentrum der Name des Kindes, das „Sohn des Höchsten genannt werden“ (Lk 1,32) wird: „Jesus“.

Dinge und Mitmenschen mit Namen bezeichnen zu können, ist für unseren Umgang, für die Wahrnehmung der Wirklichkeit entscheidend. Ein Kind lernt zuerst seinen Namen und spricht von sich in der dritten Person, bevor es „ich“ sagen kann. Jede Schülerin, jeder Schüler kennt die Erfahrung, wie sehr es das Selbstwertgefühl stärkt, wenn ich weiß, wie der richtige Name einer Sache lautet. Daher überlegen werdende Eltern meist sehr gut, welchen Namen sie ihrem Kind, sei es ein Mädchen oder Junge, geben wollen. Schließlich soll es nicht nur in Kindergarten und Schule damit ohne Hänselei groß werden dürfen, sondern sich auch als erwachsene Person noch wohlfühlen.

Die Namen innerhalb der Heiligen Familie sind nichts Besonderes. Dabei bildet auch „Jesus“ keine Ausnahme. Das hebräische Original dieses ins Griechische bzw. Lateinische übertragenen Namens lautet „Jeh(o)schua“, „Gott rettet“ und ist verdichtete Glaubensüberzeugung. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn wir schon in den ersten Büchern der Heiligen Schrift auf Menschen stoßen, die diesen Namen tragen. Am bekanntesten ist wohl Josua, der junge Begleiter des Moses, der im Laufe der Wüstenwanderung zur Führungspersönlichkeit aufsteigt und vor allem bei der Belagerung Jerichos eine wichtige Rolle spielt.

Im Namen Jehoschua steckt die Selbstmitteilung Gottes, der Name, den er auf Moses‘ Bitte am brennenden Dornbusch preisgibt. Mit seiner Rückfrage hat der am Hof des Pharaos aufgewachsene und vor der Bestrafung Geflohene wohl zuallererst seine Glaubwürdigkeit im Blick und will auskunftsfähig sein, um nicht ausgelacht zu werden: „Gut, ich werde also zu den Israeliten kommen und ihnen sagen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt. Da werden sie mich fragen: Wie heißt er? Was soll ich ihnen sagen?“ (Ex 3,13). Die Antwort kommt ohne Umschweife und ist doch mehr als rätselhaft: „Ich bin, der ich bin“ (Ex 3,14). Ein Satz, der sich auch mit „Ich werde sein, der ich sein werde“ übersetzen ließe – alles in allem eine Aussage, die ebenso viel verhüllt wie offenbart. Theologisch deutet man dies als Hinweis auf die „Unverfügbarkeit Gottes“1, die erhalten bleibt, obwohl oder gerade weil der „Gott der Väter“ sein Wesen, nämlich die Nähe zu seiner Schöpfung und seine stete Zugewandtheit, bereitwillig in seinem Namen kundtut.

In Jesus schließlich erhält dieser unsichtbare Gott ein menschliches Gesicht und der Name wird zum Programm. Der Evangelist Matthäus stellt diesen Zusammenhang besonders heraus, indem er den Engel im Josefs Traum sagen lässt: „Sie (= Maria) wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen.“ (Mt 1,21). Gottes Sohn „entäußert“ sich, wie es im Philipperbrief heißt, wird greifbar und angreifbar – und stirbt einen gewaltsamen Tod. Jesus von Nazareth, Sohn der Jungfrau Maria und Ziehsohn Josefs, der „aus dem Hause David“, also aus königlichem Geschlecht, „stammte“ (Lk 1,27), ist, wie wir im großen Glaubensbekenntnis2 beten: „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater.“

Auch nach mehr als 1.500 Jahren ist dieser Aufzählung noch anzumerken, wie sehr man in der frühen Kirche gerungen hat, um das Geheimnis der Gottessohnschaft mit der Wesensgleichheit verbindlich zu umschreiben. Jesus ist – wir erinnern uns an die Ausgangsfrage – tatsächlich „ganz der Vater“, in einem umfassenden Sinn, er ist ihm also nicht nur „ähnlich“, sondern „gleich“; alle drei göttlichen Personen stehen, um es mit einem modernen Bild zu sagen, in einer Beziehung auf Augenhöhe zueinander, und der menschlichen Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria geht, theologisch gesprochen, eine göttliche voraus, die mit dem Glaubenssatz „gezeugt, nicht geschaffen“ benannt wird.

Kehren wir zum Evangelium von der Verkündigung zurück: Auch wenn der Besuch des Erzengels Gabriels in Nazaret – es heißt ganz unspektakulär: „Der Engel trat bei ihr ein“ (Lk 1,28) – und vor allem seine Anrede, „Du Begnadete“, bei Maria Erschrecken und Ratlosigkeit auslösen, so zeigt doch das anschließende Gespräch, dass sich Engel und Mensch wunderbar gleichberechtigt über den Willen Gottes austauschen können.

Tatsächlich haben wir es hier mit dem Vor- und Urbild eines Geistlichen Gespräches zu tun, an dem jede Seelsorgerin, jeder Seelsorger Maß nehmen sollte: Der Engel ist, wie sein lateinisch-griechischer Titel sagt, ganz Angelus – Bote, Überbringer der Botschaft seines Herrn. Da ist kein Eigeninteresse im Spiel. Er verstellt nicht den Weg zu Gott, sondern ist absolut durchscheinend, transparent hin auf den, der ihn gesandt hat. Dies erklärt auch den Mut und das Vertrauen der jungen Frau, die frei und konkret benennt, was in ihren Augen das Missing Link in seiner Nachricht ist: „Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“ (Lk 1,34) Maria erweist sich damit als aufgeklärte Frau. Sie ist kein naives Mädchen, das noch an den Klapperstorch glaubt – vielmehr gehört es zu den größten Sünden, deren sich Gläubige und vor allem kirchliche Verantwortliche jahrhundertelang schuldig gemacht haben und in zahlreichen Ländern der Erde bis heute schuldig machen, dass sie junge Frauen nicht in das Geheimnis ihrer Fruchtbarkeit einweihen, ihnen nichts oder zu wenig über den Zusammenhang von Zeugung und Empfängnis mitteilen und sie damit der Gefahr aussetzen, „leichte Beute“ für verantwortungslose Männer zu sein.

In der Antwort des Engels auf die unmissverständliche Frage Marias wird deutlich, dass der Gott der Bibel, der Gott Jesu Christi, gerade auch im Bereich der Sexualität nicht Unterwerfung der Frau fordert, sondern sie als selbstständigen Menschen anerkennt. Gabriel gibt, ohne zu zögern, Auskunft: „Der Heilige Geist wird über Dich kommen und Kraft des Höchsten wird Dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.“ (Lk 1,35) Dabei erscheint die deutsche Übersetzung recht zurückhaltend – gegenüber dem griechischen Wortlaut oder auch der lateinische Vulgata-Text, die beide keine Scheu haben, den Ort der Empfängnis klar zu benennen (en gastrì bzw. in utero).

Warum sollten Gott die Umstände der Weitergabe des Lebens auch peinlich sein, da er doch, wie es im Psalm 139,13 heißt, unser „Innerstes geschaffen, (uns) gewoben hat im Schoß (der) Mutter“? Und der alttestamentliche Beter fährt fort: „Ich danke Dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin. Ich weiß es genau: Wunderbar sind Deine Werke. / Dir waren meine Glieder nicht verborgen, / als ich gemacht wurde im Verborgenen, gewirkt in den Tiefen der Erde. Als ich noch gestaltlos war, sahen mich bereits Deine Augen“ (Ps. 139,14-16). Welche Ehrfurcht spricht aus diesen Zeilen – und wie weit sind wir im Sprechen und Tun manchmal von dieser dankbaren Haltung entfernt! Ich lade Sie ein in diesen Tagen des Advents, der Vorbereitung auf das Geburtsfest unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus: Beten Sie hin und wieder diesen Psalm, in meinen Augen eines der tiefsten Gebete, die Menschen jemals ins Wort gebracht haben.

Der Engel Gabriel, dessen Name man mit „Gott ist stark“ übersetzen kann, führt mit der Erwähnung Elisabets einen augenfälligen Beleg für die Wahrheit seiner Botschaft an. Und damit, so hat man den Eindruck, überzeugt er die wache, zutiefst in der Gegenwart Gottes lebende junge Frau: Denn die Schwangerschaft Elisabets widerspricht ebenfalls aller menschlichen Erfahrung, ist also ein Zeichen dafür, dass Maria nicht allein zur Mitwirkung am Heilsplan Gottes eingeladen ist. Sie bekommt in der Verwandten eine Vertraute ‚geschenkt‘, die ihr einiges an Lebens- und Leiderfahrung voraushat. Denn Kinderlosigkeit wurde nicht nur im Volk Israel (vgl. Gen 11,30; Ri 13,2), sondern allgemein in der Antike – und leider auch heute noch in vielen Kulturen der Welt – hauptsächlich der Frau zur Last gelegt3.

Jetzt kann Maria aus vollem Herzen Ja sagen zum Willen Gottes: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,38). Dies ist der Beginn der Menschwerdung des Gottessohnes. Deshalb trägt die römisch-katholische Verkündigungsbasilika in Nazaret, die 1969 über dem traditionell bezeugten Haus Marias erbaut wurde, einen Fries mit der Aufschrift: Hic verbum caro factum est – hier ist das Wort Fleisch geworden.

In der Haltung Mariens wird die Haltung Jesu, ihres Sohnes, vorweggenommen, der von sich gesagt hat: „Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe (…). Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es aus freiem Willen hin“ (Joh 10,17-18). Wir können also sagen: Mit Jesus Christus hat ein Mensch auf Erden gelebt, der „ganz der Vater“ und „ganz die Mutter“ war: Gottes- und Mariensohn.

1 vgl. die Fußnote in der Einheitsübersetzung von 2016 zu dieser Stelle.
2 Aufbauend auf den Konzilien von Nicäa (325) und Konstantinopel (381), im Wortlaut erstmals überliefert beim Konzil von Chalcedon (451).
3 Daher haben wir in der Bibel auch ausdrücklich Verheißungen für
diese ungerecht benachteiligte Gruppe (1 Sam 2,5; Jes 54,1; Ps. 113,9
u.a.)