Die Schüler von Winnenden
„Die Schüler von Winnenden. Unser Leben nach dem Amoklauf“, so lautet der Titel eines unscheinbaren, aber doch ungemein ergreifenden kleinen Taschenbüchleins, das seit einigen Tagen auf meinem Schreibtisch liegt. Sechs betroffene Menschen, fünf Jugendliche und eine Lehrerin haben sich daran gemacht, aus eigener Perspektive noch einmal zu berichten, wie sie den 11. März 2009, den Tag des ungeheuren Amoklaufs in Winnenden erlebten. Fünf Jahre danach werden sie die Schule verlassen. Und es wird niemand mehr da sein, der selbst dabei war, die Todesängste und das Sterben von 15 Menschen gesehen hatte.
Da begegnen einem die Eltern des 17 Jahre jungen Tim, die sich in ihrer verzweifelten Situation in einem Brief an die Familien der Opfer wenden:
„Ihnen wurde das wertvollste und wichtigste, ein geliebter Mensch durch die entsetzliche und unbegreifliche Tat unseres Sohnes genommen. Immer und immer wieder fragen wir uns, wieso dies geschehen konnte. Warum wir seine Verzweiflung und seinen Hass nicht bemerkt haben. Bis zu dem furchtbaren Geschehen waren ja auch wir eine ganz normale Familie.“ Auch Bundespräsident Horst Köhler, der zur Trauerfeier an die Albert-Will-Realschule gekommen war, ist ratlos und zutiefst bewegt. Vor den tausenden von Menschen, die gekommen waren sagt er: „Wenn ein Kind stirbt, sterben auch Hoffnung und Zukunft mit ihm. Deshalb entsetzt uns diese Tat so sehr! Denn Kinder sind unschuldig. Was aber, wenn Kinder selbst zu Mördern werden?“ Bei all dem Abgründigen der Ereignisse von Winnenden die für 15 Menschen den Tod und für viele Familien einen bleibenden Karfreitag brachten, stelle ich mir immer wieder einmal die spekulative Frage: Was wäre gewesen, wenn noch um 08:00 Uhr morgens, vielleicht kurz vor Schulbeginn noch jemand mit Tim gesprochen hätte, ehe um 09:33 Uhr das Morden begann. Was wäre, wenn Tim noch einmal einen freundlichen Handschlag, eine Einladung, oder einfach ein paar gute Worte bekommen hätte. Wäre dann vielleicht der Tod ausgeblieben? Wir wissen es nicht.
Den heutigen Karfreitag, die Sendung Jesu in den Tod am Kreuz sehe ich genau in dieser Bedeutung. Es ist diese ungeheure und unbegreifliche Entäußerung Gottes, die für die Menschheit den Tod abwendet. Das Johannesevangelium interpretiert diese grenzenlose Zuwendung Gottes zu den Menschen in einem der schönsten Sätze, die uns im dritten Kapitel begegnen: „Denn sosehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.“ Im Alphabet des Evangeliums ist das Kreuz Liebe, die den Tod aufhält. Es ist – in den Bildern von Winnenden gesprochen – diese liebende Begegnung, die hingereichte Hand Gottes an die Menschen, die die Wendung bringen könnte, und das Morden aufhält.
Als getaufte Christen leben wir in der Nachfolge des Gekreuzigten. Auch unser Leben sollte in unserer Zeit und in unserem Lebensumfeld einer solchen Kultur des Todes Einhalt gebieten. Unsere Existenz sollte solche liebende Begegnung sein, die für andere Menschen Leben ermöglicht.
Da denke ich im Blick auf die großen Lebensrettungsaufgaben unserer Zeit an unser Nachbarland Belgien. Vor kurzem stimmte dort die Abgeordnetenkammer über die gesetzliche Freigabe von aktiver Sterbehilfe für Minderjährige ab. Belgien wäre damit weltweit das erste Land, das für aktive Sterbehilfe keine Altersgrenze mehr vorgibt. Welch eine Vorstellung, das Kinder im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, wenn sie den Sterbenswunsch freiwillig, überlegt und wiederholt geäußert haben und eine Hoffnung auf Linderung nicht besteht, für die aktive Tötung vorgesehen sind. Welch ein ungeheurer Einbruch in die Kultur des Lebens mitten auf europäischem Boden. Müsste nicht gerade bei Kindern und Minderjährigen die Fürsorgepflicht und die Verantwortung für das Lebensrecht und die Würde ins Unermessliche steigen? Und wer verhindert, dass die Bewegung weiter geht? Wann wird sich die belgische Euthanasiedebatte auch auf andere nicht einwilligungsfähige Personenkreise ausdehnen? Wann wird sie zu einer evidenten Bedrohung für Menschen mit Behinderung und psychisch kranke Menschen? Müsste man in der Analyse der Sterbehilfedebatte unserer Tage vielleicht sogar den eingefahrenen Begriff vom gesellschaftlichen Dammbruch verlassen. Der Damm ist doch längst gebrochen. Wir bewegen uns auf einer schiefen Ebene, in der sich eine lebensfeindliche Initiative stetig beschleunigt. Die Debatte um die Sterbehilfe markiert doch eine Kaskade nach unten!
Unsere christliche Verantwortung und Aufgabe muss darin bestehen, nicht Hilfe zum Suizid, sondern Hilfe zum Leben bereit zu stellen. Viele Bitten um aktive Sterbehilfe sind angstgetrieben! Angst vor Schmerzen. Angst vor dem Pflegefall.
Da sollten doch all die guten Möglichkeiten der Palliativmedizin in der Schmerzlinderung, und der Gedanke der Hospizbewegung noch deutlicher bekannt gemacht werden. Menschen in ihrer letzten Lebensphase, die vielleicht die wichtigste Phase ihres Lebens sein kann, sollten sie in einer humanen Gesellschaft, in freiheitlicher und liebevoll begleiteter Umgebung verbringen können. Nicht die schiefe Ebene der aktiven Sterbehilfe, sondern die liebevolle Begleitung und Stützung in der letzten Lebensphase, ohne ökonomischen und sozialem Druck von außen sollte die Maxime unseres Handelns sein. Da denke ich immer wieder einmal an Prof. Armin Schmidtke, dem Leiter des Suizidpräventionsprogrammes der Deutschen Bundesregierung. Er berichtete einmal in einer Anhörung des Deutschen Ethikrates über schwerverletzte Jugendliche, die er im Krankenhaus begleitete. Viele von Ihnen waren nach einem schweren Verkehrsunfall gerade noch einmal dem Tod von der Schippe gesprungen, zum Teil Arm- oder Beinamputiert und psychisch extrem angegriffen. Über seine Erfahrung im Umgang mit diesen Jugendlichen berichtet er: wenn diese jungen Menschen nach Ihrer schweren Verletzung aus dem Koma erwachen und ihren Zustand erfassen, die Amputation des Armes oder Beines registrieren, dann will innerhalb der ersten acht Tage die absolute Mehrheit sterben. Wenn allerdings nach einem halben Jahr die Therapie umgesetzt ist, eine Prothese angepasst wurde, viele Gespräche möglich waren, dann will die absolute Mehrheit dieser jungen Menschen leben!
Sollte uns diese Beobachtung nicht neu auch über die Frage der Freiheit der Entscheidung zu aktiver Sterbehilfe nachdenken lassen. Und ist es nicht gerade zu die Pflicht einer humanen Gesellschaft, Menschen in existentieller Angst und Verzweiflung zum Leben zu puschen statt zum Tod?
Im Deutschen Bundestag wird uns diese Frage der aktiven Sterbehilfe erneut begegnen, wenn die Gesetzesvorlage des Verbots der organisierten aktiven Sterbehilfe zur Debatte kommt. Hier geht es um nicht mehr und nicht weniger als um den Wasserstand einer Kultur des Lebens in unserer demokratischen Gesellschaft, die sich Lebensrecht und Würde in den ersten Artikel des Grundgesetzes gesetzt hat. Wenn es in dieser Debatte lebende Argumente bräuchte, dann ist es für mich der berühmte Tübinger Rethorikprofessor Walter Jens. Inge Jens, seine einfühlsame Ehefrau brachte die Überlebensfrage der Sterbehilfedebatte unlängst in einem Interview mit dem Zeit-Magazin auf den Punkt. Über ihren schwer demenzkranken Mann sagte sie: „Als gesunder hat er für Sterbehilfe plädiert, und als kranker hat er leben wollen. Mit dieser Erkenntnis bin ich noch lange nicht fertig. Doch wer hätte das recht gehabt, ihn umzubringen?“
Niemand von uns weiß, welche Richtung der eigene Lebensbogen nehmen wird, und welchem Tod wir selber einmal entgegen gehen werden. Zwei Geschenke, die in ihrer Größe unbezahlbar sind, möchte man sich in dieser Stunde für jeden Menschen wünschen: Erstens eine liebevolle Begleitung von Menschen, die einem die Hand reichen. Das lateinische Wort pallium, von dem sich die moderne Palliativmedizin ableitet bedeutet ja auf Deutsch: der Mantel. Solche Menschen und solche Begleiter benötigen wir, die Sterbenden in einen bergenden Mantel einhüllen wenn sie die wichtigste und entscheidende Lebensphase am Ende des Lebens in Freiheit und Würde tragen sollen. Der zweite Wunsch ist, ist der Trost, der im Kreuz liegt.
Romano Guardini: „Wie tröstet Gott?“
Romano Guardini, einer der Größten der Theologie des 20. Jahrhunderts, versucht in seinem unvergleichlichen Buch „Der Herr“ eine Interpretation des Lebens Jesu. Als er zu dem letzten dunklen Buch der Heiligen Schrift gelangt, zum Buch der geheimen Offenbarung des Johannes, und als er die beängstigenden Bilder der Untergangs und der Bedrängnis der Apokalypse betrachtet, da stellt er die Frage: Wie tröstet Gott? Seine Antwort lautet:
Gott tröstet nicht so, wie wir es gerne mit kleinen Kindern machen. Er tröstet „nicht so, dass er sagte, die Not sei im Grunde gar nicht so schlimm. Sie ist schlimm und wird auch schlimm gesehen.
Gott verheißt auch keine wundersamen Eingriffe. Die Geschichte hat ihre Zeit und ihre Macht, auch wo sie sich wider Gott richtet, und die Schwerkraft und die Not der Geschichte werden nicht aufgehoben.
Doch so tröstet Gott. Über der irdischen Wirklichkeit wird die himmlische gezeigt. Über den bedrängenden Mächten der Geschichte erscheint ... [der gekreuzigte] Christus.“
[Der Herr, S. 574]