Predigt an Karfreitag (3. April 2015) von Weihbischof Anton Losinger im Hohen Dom zu Augsburg
An diesem Karfreitag des Jahres 2015 stehen wir vor einem zweifelhaften Jubiläum. 20 Jahre ist es nun her, seit das Bundesverfassungsgericht das hochumstrittene „Kruzifix-Urteil“ verkündete. Am 16. Mai 1995 hatte das höchste Gericht der Republik verfügt, dass es im Namen des hohen Gutes der Religionsfreiheit einem Schüler nicht zumutbar sei, unter dem Kreuz zu lernen, und deshalb das Kreuz - unter Umständen auch gegen den Willen der Mehrheit der Mitschüler - aus seinem Klassenzimmer zu entfernen sei.
Wir erlebten daraufhin eine tiefe Entrüstung bei vielen Christen, empörte Leserbriefserien in allen großen Zeitungen, Eltern, die sich zu Wort meldeten und ihren Elternwillen zu einer christlichen Erziehung ihrer Kinder „unter dem Kreuz“ dokumentierten, und klare Gegenpositionen aus allen kirchlichen Ebenen und die größte kirchliche Demonstration der Republik. Wollen wir wirklich eine Bildung ohne das Kreuz? Ohne religiösen Bezugspunkt? Ohne Sinnfragen? Ohne die grundlegende Wertedimensionen eines christlichen Abendlandes, für die das Kreuz steht? Und erfüllt es nicht viele von uns mit staunenden Fragen, wenn dasselbe höchste Gericht soeben unter Berufung auf dasselbe hohe Prinzip der Religionsfreiheit das Kopftuch für Lehrerinnen im Klasszimmer billigt, während vor dem gleichen Grundrecht das Kreuz abgehängt werden soll?
Über die rechtliche Debatte hinaus ist aber dies der entscheidende Punkt, der uns als Christen zutiefst beunruhigen und herausfordern muss. Es ist die zentrale Frage: Welche Bedeutung hat das Kreuz für uns? Warum brauchen wir das Kreuz? Und wo?
Ein erster wichtiger Platz für das Kreuz ist und bleibt die Schule!
1. Wir brauchen das Kreuz in den Schulen
Denn vor allem junge Menschen suchen heute Orientierung und Halt! Wo sie keine Antworten bekommen, entsteht geistige Not. Da gerät unsere Gesellschaft in dramatische Schieflagen! Gerade in diesen Tagen, da uns Amoktaten an unseren Schulen aufschrecken, wird uns so deutlich wie selten bewusst, wie wichtig tragende geistige Maßstäbe für das Leben junger Menschen sind.
Es wäre ein bitterer Fehler unserer Erwachsenenwelt, zu meinen, Kinder lebten in einer heilen Welt und hätten keine Probleme, oder die Probleme von Kindern wären klein, nur weil die Kinder klein sind! Im Gegenteil: Gerade Kinder und junge Menschen von heute brauchen dringender denn je Antworten auf die Sinnfragen, die Leidfragen ihres Lebens sind. Sie brauchen religiöse Zuwendung, sie brauchen Religionsunterricht und sie brauchen ein Gesicht, in das sie blicken können in ihren Zweifeln und auch Ängsten, die eben nicht pädagogisch und psychologisch geglättet werden können. Dafür steht das Kreuz in unseren Klasszimmern, dafür steht das Gesicht des liebenden, mitleidenden Christus! Dafür steht das Kreuz in unseren Schulen!
Geradezu ein Leuchtturm ist für mich die sympathische junge Studentin Sophie Scholl, Mitglied des Widerstandskreises „Weiße Rose“ gegen Adolf Hitler und die Nationalsozialisten, die nach einer missglückten Flugblattaktion im Lichthof der Münchener Universität verhaftet und am 24. Februar 1943 durch das Fallbeil in München Stadelheim hingerichtet wurde. Von ihr gibt es Aufzeichnungen und Briefe aus der Haft. Da legt sie den Finger in die Wunde, wenn sie schreibt: „Das mache ich Dir zum Vorwurf, du denkender Mensch in dieser Schicksalsstunde unserer Geschichte. Du verwendest alle Kraft und Energie auf die letzte Perfektionierung des Maschinengewehrs, aber die wesentlichsten aller Fragen lässt du außer Acht: Die Frage Wohin? Und die Frage Warum?“
Dafür steht das Kreuz in unseren Schulen! Es ist eine Antwort auf all die bohrenden und bleibenden Sinnfragen junger Menschen aller Zeiten.
Ein zweiter wesentlicher Platz für das Kreuz sind die Orte von Leid und Krankheit in unserem Leben.
2. Wir brauchen das Kreuz in den Krankenhäusern
Leid und Krankheit ist immer gegenwärtig in unserem Leben. Trotz all der Möglichkeiten modernster Wissenschaft und Technik, trotz höchster medizinischer Kunst werden wir die Hinfälligkeit des Leidens nie beseitigen. Leiden, Krankheit und Tod, das gehört unentrinnbar tief hinein in unsere menschliche Existenz. Besonders im medizinischen Bereich ist uns doch in jüngster Zeit, trotz der phantastischen Möglichkeiten und Aussichten, die uns die moderne Gentechnologie und Biomedizin verheißt, vieles fraglich geworden. All die Zweifel und Proteste um gentechnische Verfahren, die Grenzen der Embryonenforschung, Präimplantations-diagnostik, die Fragen nach dem Beginn und dem Ende des menschlichen Lebens, der Kampf um den Schutz des unantastbaren Lebensrechtes der Person – all das zeigt die Kehrseite einer wissenschaftlichen Entwicklung, die wachsende Ängste in den Menschen entstehen lässt.
Darum brauchen wir das Kreuz in unseren Krankenzimmern, in den Pflegeheimen und zuhause, wo Menschen von Angehörigen gepflegt werden, damit kranke und sterbende Menschen mit Hoffnung auf den leidenden Christus blicken können, und in liebender menschlicher Zuneigung leben und auch sterben dürfen, wenn es an der Zeit ist.
Deshalb treten wir in der Kirche mit Leidenschaft ein gegen kommerzielle Sterbehilfeorganisation wie DIGNITAS oder EXIT, und auch gegen die Praktiken, die allesamt ein Geschäft mit dem Tod machen.
Deshalb sind wir gegen ärztlich assistierten Suizid – Ärzte sind Heiler und Helfer - und wenden uns gegen ein Ärztebild, das sich vom Heiler zum Vollstrecker wandelt. Darum stemmen wir uns vehement gegen Tötung auf Verlangen. Weil um Jesu willen kein Mensch durch die Hand eines anderen aktiv exekutiert, oder auch nur durch sublimes Drängen seiner Umgebung in den Tod gedrängt werden soll.
Darum schließlich ein dritter Ort, an dem wir das Kreuz brauchen.
3. Wir brauchen das Kreuz in unserm Alltag
Wir brauchen heute Kreuze in den Herrgottswinkeln unserer Familien, wir brauchen Gipfelkreuze auf unseren Bergen, wir brauchen das Kreuz auch in den Gerichtssälen, in den Amtszimmern und in der politischen Öffentlichkeit. Das Kreuz ist wichtig, damit die Menschen das richtige menschenwürdige Maß bewahren und sich nicht überheben über die Würde des anderen. Das Kreuz ist wichtig, damit wir immer wieder die eigene Endlichkeit und Begrenztheit realisieren gegen die Kreuzigung und Erniedrigung des Nächsten! Das Kreuz in unseren Lebensräumen ist wichtig, damit uns an den Kreuzungspunkten unserer Existenz, auch in der Not und im Leid die Hoffnung bewahrt bleibt. Das macht den wahren Unterschied zu allen Billigangeboten der Sinnstiftungsindustrie unserer Tage!
Zum Schluss eine politische Frage: Die Grundlagen des Rechts
Was ist in Ihren Augen die bedeutendste politische Rede im Deutschen Bundestag – seit dem Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor 20 Jahren? Für mich ist es die Rede Papst Benedikts XVI. über die Grundlagen des Rechts anlässlich seines Deutschlandbesuchs am 22. September 2011.
Der Papst setzt mit der berühmten Frage des Kirchenvaters Augustinus an „Nimm das Recht weg, was ist dann ein Staat anderes als eine große Räuberbande?“ und er bestätigt „Wir Deutsche wissen es aus eigener Erfahrung, dass diese Wort nicht ein leeres Schreckgespenst sind. Wir haben erlebt, dass Macht von Recht getrennt wurde, dass Macht gegen Recht stand, das Recht zertreten hat und dass der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde.“
Der Papst bezieht sich auf Ernst-Wolfgang Böckenförde, den berühmten Verfassungsrechtler, der 1976 diesen bleibenden Satz geprägt hat: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht garantieren kann.“ Und beziffert drastisch die Konsequenzen „Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen.“ Und der Papst im Bundestag legt den Finger in die Wunde, wenn er auf das fundamentale und dramatische Dilemma des Politikers hinweist, wenn er die Aufgabe hat die Dinge dieser Welt zu gestalten und zu ordnen, aber der Maßstab und die Grundlage des Rechts abhanden-gekommen ist.
Bedenken wir an diesem denkwürdigen Karfreitag des Jahres 2015: Wo das Kreuz entfernt wird, fehlt mehr als nur ein Stück Kulturgut. Da geht es um die Fundamente unserer menschlichen Identität, um das menschenwürdige Antlitz eines Staates und die Grundlagen des Rechts und letztendlich um die Sinnfrage unserer Gesellschaft! Wie und warum wollen wir leben?