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Portraitreihe: "Unsere Dekane"

Dr. Ralf Gührer: „Künste sind die Sprache der Seele“

04.01.2024

(Wasserburg) Der Lindauer Dekan lebt dort, wo andere Urlaub machen. Er selbst bezeichnet seinen Wirkungsort gerne als Paradies, das sich aber durch die Naturgewalt des Sees von einer Sekunde auf die andere zum Inferno wandeln kann. Gleichzeitig macht er sich, der vom Wohnzimmer aus auf den Bodensee blickt, viele tiefgehende Gedanken über Kirche und Welt, Kunst und Kultur sowie das Menschsein und den Glauben an Gott.

Beinahe zwei Stunden dauert die Fahrt von Augsburg nach Wasserburg. Dort angekommen sieht man sich einem ungewöhnlichen Ensemble gegenüber: Das Pfarrhaus steht auf einer Halbinsel, die zugehörige Pfarrkirche auf Fundamenten aus dem 8. Jahrhundert. Hier arbeitet seit 2015 Dr. Ralf Gührer, der 1975 im nahegelegenen Lindenberg zur Welt kam. Zuvor war er in Marktoberdorf, Ursberg und Elchingen tätig, und hat während seines Aufbaustudiums der Pastoraltheologie (Schwerpunkt Kunst) an der Jesuitenhochschule in Frankfurt die Wallfahrt in Oberelchingen wiederbelebt.

Mitten in der Coronapandemie wurde er 2020 von Bischof Bertram zum Dekan von Lindau ernannt, sieht sich seitdem als „Klassensprecher der Seelsorgerinnen und Seelsorger und als Sprachrohr des Bischofs“. Als Dekan bemüht er sich, alle Facetten kirchlichen Lebens der Bodenseeregion wahrzunehmen. So hält er beispielsweise zum Priesterseminar der Petrusbruderschaft in Wigratzbad genauso Kontakt wie zu den evangelischen Mitchristen im Landkreis.
Nicht umsonst sieht sich der Dekan selbst als einen „Wanderer zwischen den Welten“.

Wie Kunst und Religion das Leben stützen

Wie ein Philosophieprofessor führt er zu Beginn auch aus, wie er das Leben wahrnimmt, und wofür seine Passion, das Miteinander von Kunst und Religion, überhaupt gut ist: „Wir sind hineingeworfen in eine fragile und schmerzhafte Existenz; das Leben ist nicht einfach nur nett.“ Das Christentum erzählt daher auch „die beste aller Storys, die man sich vorstellen kann“. Für ihn gebe es nichts Wunderbareres, als zu wissen, dass Gott von den höchsten Höhen in die tiefsten Niederungen der Welt gekommen, selbst gescheitert und auferstanden sei.

Die Kunst hilft ihm, dieses Geheimnis tiefer zu erfassen, denn immer dann, wenn Emotionen sich nicht in Worten ausdrücken lassen, wird „die Kunst zur Sprache der Seele“. Auch sein Pfarrhaus spiegelt dies wider. Es wirkt trotz seiner Größe und seines Alters filigran und ordentlich. In einem Schrank liegen Stoffe für seine selbstdesignten Messgewänder. Die Regale sind voll mit Bildbänden von Museen und Künstlern aus aller Welt. Und immer wieder tauchen weißgehaltene Flächen und Bilder auf.  

Gührers Bild von der Kirche und der Wunsch nach einem Neubeginn

Die Halbinsel von Wasserburg fotografiert vom Zeppelin aus.

Wasserburg aus der Luft. (Foto: Holger Uwe Schmitt / wikimedia)

Dass seine Kirche keine „weiße Weste“ mehr hat, bewegt den Dekan sichtlich. Grund genug also, ein neues Bild von der Kirche zu beginnen. „Mein Lieblingsbild ist eine weiße Leinwand, weil darauf am meisten Platz hat, und weil sie viel freien Raum bietet.“ sagt er.

Um die Zukunft neu gestalten zu können, müssten in der Kirche viele Prägungen aus der Vergangenheit ausradiert werden. Erst wenn auch das Thema Missbrauch richtig angegangen werde, könne dieses schlimme Bild, das die Kirche abgibt, seinen Platz finden. Dann entstehe vielleicht auch Raum für einen neuen und freien Anfang. Und tatsächlich dreht sich bei ihm, der neben seinem Esstisch ein aus drei leeren Flächen bestehendes Gemälde hängen hat, viel um die Freiheit.

 

 

Dekan Gührers prägendste seelsorgerliche Erfahrung

Emotionaler wird Dekan Gührer, als es um seine Zeit beim Dominikus-Ringeisen-Werk (2007-2009) geht. Trotz aller seelischer Herausforderungen erinnert er sich gerne an die Menschen mit Behinderung zurück. „Das war das Dichteste und Schönste, was ich bisher als Priester erlebt habe.“, bilanziert er. Dort hat er gespürt, wie sich Seelen auch ohne viel Sprache verbinden können.

Das Dekanat Lindau in Kürze:
  • Fläche: deckungsgleich mit dem Landkreis Lindau
  • Größe:  8 Pfarreiengemeinschaften mit 31 Pfarreien und das Geistliche Zentrum Wigratzbad
  • Prodekan: Dr. Joachim Gaida (Lindau)
  • Bevölkerung: 36.100 Katholiken
  • Nachbarschaft: (Erz-)Bistümer Freiburg, Rottenburg-Stuttgart, St. Gallen, Feldkirch

Kategorisierungen und Widersprüche

Auch der Friedhof der Pfarrkirche grenzt direkt an den Bodensee. (Foto: Leander Stork / pba)

Auch der Friedhof der Pfarrkirche grenzt direkt an den Bodensee. (Foto: Leander Stork / pba)

Freisein bedeutet für ihn auch, sich auf das Wesentliche zu beschränken. Das kann er am besten durch das Alleinsein umsetzen. „Unzeitgemäßes Leben“ nennt er das. So braucht er auch keinen Fernseher, fährt alleine in den Urlaub, und ist froh in seiner knapp bemessenen Freizeit im Pfarrhaus auch einmal für sich zu sein. Am Ufer des Sees ist nämlich immer etwas los, und der Dekan ein gern gesehener Gast.

Eigen- und Fremdwahrnehmung zu seiner Person stimmen nicht immer überein, meint er. Die Entscheidung, ob er eher ein Traditionalist oder ein „Liberaler“ sei überlässt er gerne anderen. „Ich bin ein sehr geschichtlich denkender Mensch.“, betont er selbst. Dekan Gührer in eine Schublade zu stecken ist beinahe unmöglich. Genauso wenig kann er selbst sein Denken zusammenfassen: „Jeder Mensch ist ein unvergleichliches Individuum Gottes, daher ist kein Mensch ,einfach‘.“

Sich durch ein geschriebenes Portrait komprimiert darstellen zu lassen, ist für Dr. Ralf Gührer gar nicht so leicht: „Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, sich zu Schweigeexerzitien zu verabreden, dann hätten wir uns näher kennengelernt, als jetzt im Gespräch – aber vielleicht auch wenig Material für ein Portrait gehabt.“, gibt er schmunzelnd zu. Dann muss er weiter zum nächsten Termin: einem Traugespräch. Ob er das Paar wohl fragen wird, wie sie ihre weiße Leinwand bemalen wollen?

 

 

Text und Foto 3: Leander Stork
Dezember 2023

Videoportrait:

Die Pressestelle des Bistums hat Ralf Gührer im Jahr 2015 besucht und zu seinem künstlerischen Wirken und Denken befragt. Anzusehen ist das Video auf dem YouTube-Kanal des Bistums

Hintergrund:

Nach der coronabedingten Unterbrechung des Formates erscheinen wieder regelmäßig neue Portraits unserer Dekane. Die anderen Texte aus dieser Reihe finden Sie ebenfalls auf unserer Homepage.