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Wichtiges
Zehn Jahre Sozialpapier der Kirchen ... und die geistige Verfallszeit kirchlicher Dokumente

“Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit”

08.02.2010

Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland steht zu Beginn des neuen Jahrtausends ohne Frage in einem dramatischen sozialen, politischen und ökonomischen Strukturwandelprozess, dessen Dimensionen in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands bislang unerreicht sind. Die Verunsicherung, die dadurch ausgelöst wird, bezieht sich auf sämtliche Lebensbereiche und erreicht alle Generationen. Vor allem das Kernproblem der Arbeitslosigkeit auf konstant hohem Niveau im forcierten Globalisierungsprozess der Wirtschaft, Fragen nach dem notwendigen Umbau des Sozialstaates, Sorgen um die Sicherheit und Finanzierbarkeit des sozialen Netzes, und nicht zuletzt die Beobachtung eines rapide voranschreitenden Wertewandels in der Gesellschaft sind die Stichworte dieser Verunsicherung. Sie bereiten den Menschen tiefgehende Sorgen und wecken Zukunftsängste. Die momentane konjunkturelle Aufhellung der Wirtschaft sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine ganze Reihe von Elementarfragen strukturell längst nicht gelöst sind.

Die katholische und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland haben im Jahr 1997 nach einem gründlichen Konsultationsprozess, der auf breiter gesellschaftlicher Basis die Anregungen, die Sachkompetenz und auch die Kritik von Politikern, Unternehmern, Arbeitnehmern, Experten und ganz “normalen” Menschen einzuholen versuchte, ein gemeinsames Wort “zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in der Bundesrepublik Deutschland” veröffentlicht. Es sollte wirtschafts- und sozialpolitische Generalamnesie und zukunftsweisendes Projekt sein. Der Titel des Papiers war und ist zugleich Programm: “Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit.” Heute, zehn Jahre später, stellt sich bereits die Frage: Ist inzwischen schon das geistige Haltbarkeitsdatum dieses Papiers überschritten? Und ist bereits das meiste in der geistigen Versenkung verschwunden? Hier einige Anstöße zur Erinnerung und Wiederbelebung der Ideen:

Solidarität und Gerechtigkeit - Grundwerte der Gesellschaft

Solidarität und Gerechtigkeit sind das Herzstück jeder biblischen und christlichen Ethik. Sie sind die Grundlage des christlichen Menschenbildes und Gesellschaftsverständnisses. Darum treten die beiden Kirchen, angestoßen durch die gegenwärtigen Herausforderungen, dafür ein, einer Neuorientierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik zum Durchbruch zu verhelfen, die sich an diesen beiden grundlegenden Werten ausrichtet.
Zwei zentrale Ziele sind dabei wegweisend: Einerseits muss der solidarische Zusammenhalt der Gesellschaft und die soziale Idee und Kultur der Sozialen Marktwirtschaft gegen Aushöhlung, individualistisches Anspruchsdenken und Egoismus gesichert und gestärkt werden. Andererseits darf aber die kreative Entfaltung der unternehmerischen Initiative, der individuelle Leistungswille und der persönliche Entfaltungsspielraum nicht ohne Grund behindert oder beschränkt werden, weil darauf der Erfolg, die Wettbewerbsfähigkeit und letztlich auch die Finanzierbarkeit des Systems der sozialen Sicherheit in unserem Land beruhen. Vor dieser doppelten Perspektive spielen die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen.

Herausforderungen und Aufgaben

Das nach wie vor aktuelle Kernproblem unserer Gesellschaft und die bleibende Anforderung an die Reform der sozialen Marktwirtschaft ist ohne Frage das Problem der hohen Arbeitslosigkeit. Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog spricht von "der Arbeitslosigkeit als einer brennenden Wunde in unserer Wohlstandsgesellschaft," die eine Hauptherausforderung für unsere Zukunft sei. Und wenn wir bei der Lösung dieser Frage versagten, ließen wir nicht nur einzelne im Stich, sondern stellten das ganze System der Sozialen Marktwirtschaft in Frage. Wir brauchen - plakativ gesprochen - Arbeit für alle! Wir brauchen eine effektive Arbeitsmarktpolitik, die zur Sicherung eines möglichst hohen Beschäftigungsgrades, im Idealfall zur Realisierung des Zieles der Vollbeschäftigung beiträgt. In diesem Sinne formuliert das gemeinsam Wort der Kirchen ganz plakativ: “Die vordringlichste Aufgabe der Wirtschafts- und So-zialpolitik ist in den nächsten Jahren der Abbau der Massenarbeitslosigkeit,”[1] will man eine Desolidarisierung der Gesellschaft im An-satz wirkungsvoll verhindern. Das erfordert allerdings die Realisierung und Umsetzung einer Reihe von möglicherweise unangenehmen Wahrheiten bei Unternehmern, Politikern und Arbeitnehmern:
Innovation, Kreativität und Motivation sind in einem marktwirtschaftlichen System mit hohem Lohnniveau wie in der Bundesrepublik Deutschland ohne Zweifel eine Überlebensfrage. Meine Frage: Sind die Unternehmen wirklich innovativ genug, und die Arbeitnehmer motiviert genug, um konkurrenzfähig zu sein und zu bleiben, oder geben wir uns allesamt einem trügerischen, bürokratischen Sicherheitsgefühl hin?

Dringend nötig ist eine langfristige Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auch durch eine weitsichtige und nachhaltige Kostenentlastung der Wirtschaft. Die Abgabenquote und die Steuerbelastung sowohl der Unternehmungen wie auch der Arbeitnehmer muss deutlich zurückgeführt werden. Meine Frage: Fehlt den Politikern, wie die unselige Debatte um die Steuerreform zeigte, die Kraft zu einschneidenden Reformen? Fehlt den Bürgern der Bundesrepublik der Mut, auch Einschnitte in Kauf zu nehmen, wo es die Sicherheit der Arbeitsplätze insgesamt oder die Überlebensfähigkeit des eigenen Unternehmens erhöht? Wie steht es zum Beispiel mit der Bereitschaft zur Investition und Beteiligung am Produktivkapital des Unternehmens?

Ein Unternehmen ist mehr als ein “es”, als eine sachliche Kombina-tion der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital mit dem Ziel der Gewinnmaximierung. Ein Unternehmen ist auch und vor allem eine Versammlung von Menschen, die mit ihrer Arbeit ein Stück von sich selbst geben, die von Ihrer Hände Arbeit leben und ihr Leben investieren. Insofern ist Arbeit von hoher existentieller Bedeutung für jeden einzelnen Menschen. Meine Frage: Sind die Möglichkeiten der Unternehmen, der Arbeitsverwaltung und auch der Verbände wirklich bis zum Rand ausgeschöpft, zum Beispiel jungen Menschen eine Chance auf eine Arbeitsplatz zu eröffnen? Oder gäbe es nicht in diesem oder jenem Unternehmen noch Spielraum, einem jungen Menschen eine Lehrstelle und damit eine Perspektive anzubieten?
Die Sicherheit der Arbeitsplätze und die Sicherung der Finanzierbarkeit des sozialen Netzes hat für den solidarischen Zusammenhalt der Gesellschaft hohe Priorität. Dabei ist evident, wie unmittelbar das soziale Sicherungssystem und seine Leistungsfähigkeit von der Produktivität einer Volkswirtschaft abhängt. Dieser Zusammenhang wird vom gemeinsamen Wort der Kirchen offen bestätigt: “Die Qualität der sozialen Sicherung und das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft bedingen einander.”[2] Das Element der soziale Sicherung sollte deswegen keineswegs nur, wie das häufig in populistischer neoliberaler Absicht geschieht, als Kostenfaktor kritisiert, sondern umgekehrt in seiner positiven Wirkung für soziale Sicherheit und sozialen Frieden, und auch als strukturelle Voraussetzung hoher Arbeitsproduktivität realisiert werden.

Schließlich muss auch der Zielerahmen der Sozialen Marktwirtschaft erneut aus seinen anthropologischen und sozialen Prämissen begründet werden. Nicht nur für das gemeinsame Wort der Kirchen, sondern auch für das System der Sozialen Marktwirtschaft, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland aufgebaut wurde, sind diese beiden Grundwerte die entschei-denden Kriterien: Gerechtigkeit und Solidarität. Sie sind Ausdruck dafür, dass Wirtschaft und Gesellschaft nicht isoliert gesehen werden dürfen. Die kirchliche Soziallehre hat diese Einsicht immer betont: Wirtschaft ist nicht nur ein Güteraustausch, auch nicht nur ein Marktgeschehen, sondern ein gesellschaftlicher Lebensprozess. Der Wettbewerb ist, worauf schon Quadragesimo anno hinwies, innerhalb der Grenzen der Rechts- und Wirtschaftsordnung ein wesentliches, hilfreiches Instrument für die bestmögliche Versorgung der Menschen mit Gütern und Diensten; aber er ist nicht das Ordnungsprinzip der Gesellschaft schlechthin. Das Sinnziel allen Wirt-schaftens ist und bleibt der Mensch und seine personalen Entfaltungsmöglichkeiten. Der Mensch und nichts anderes ist, wie es das Zweite Vatikanische Konzil in Gaudium et spes, der Pastoralkonstitution “Über die Kirche in der Welt von heute” formuliert, “Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft.”[3]

Einmischung der Kirche in gesellschaftliche Fragen

Mit ihrem gemeinsamen Wort “Für eine Zukunft in Gerechtigkeit und Solidarität” haben die beiden Kirchen ein “altes” Prinzip des Zweiten Vatikanischen Konzils neu realisiert, nämlich sich in den gesell-schaftlichen Dialog einzumischen, wo die menschliche Würde oder soziale Gerechtigkeitsfragen das notwendig machen. Sagt doch die Pastoralkonstitution “Über die Kirche in der Welt von heute” in aller Deutlichkeit: “Immer und überall nimmt die Kirche das Recht in Anspruch, in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzumachen, ihren Auftrag unter den Menschen unbehindert zu erfüllen und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterziehen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen.”[4]

Der hochgeschätzte, leider allzu früh verstorbene Augsburger Pastoraltheologe Karl Forster weist geradezu prophetisch auf diese zentrale und niemals verzichtbare, ethische Herausforderung der Kirche hin: “Die Fragen von heute und morgen können nicht mehr sein, ob und wie die politischen Entscheidungsräume von ethischen, religiösen, weltanschaulichen Positionen freigehalten werden können. Die Fragen gehen vielmehr dahin, ob noch ein für das demokratische Abstimmen und für das politische Handeln tragfähiger Wertkonsens in unserer Gesellschaft vorhanden ist, ob Christen die Kraft finden, aus ihrem durch den Glauben und in der kirchlichen Gemeinschaft orientierten Gewissen für die politische Gemeinschaft einen ausreichenden Beitrag zur sachgerechten und ethisch verantwortbaren Entfaltung des Gemeinwohls und der menschlichen Würde zu leisten.”[5]

[1] Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, 11.

[2] Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, 8.
[3] Gaudium et spes 63.

[4] Gaudium et spes 76.
[5] Karl Forster, Glaube - Kirche - Politik, in: Glaube und Kirche im Dialog mit der Welt von heute II, S. 456.