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Wichtiges
Predigt von Bischof Bertram zur Wiedereröffnung der Pfarrkirche St. Johann, Nersingen-Straß, am 11. September 2022

Johannes als Programm: „Zeitenwende des Glaubens“

11.09.2022

„Bist du es, der da kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?“ (Mt 11,3). Auch wir sind voll Erwartung. Die Kirche ist frisch renoviert. Ist das Werk gelungen? Folgt aus der äußeren Restauration auch eine innere geistliche Runderneuerung des Gotteshauses? Das Haus aus Stein stammt bereits aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Seitdem ist es die Mitte des Dorfes. Der nach oben ragende Kirchturm zeigt: Unsere Heimat ist im Himmel. Gott ist unser Wegweiser und Ziel. Ihre Pfarrkirche, liebe Strasser, ist dem hl. Johannes dem Täufer geweiht. Diese Gestalt will gar nicht so recht zum Stil des verspielten Rokoko passen, der das Gotteshaus prägt. Der Stil des Johannes war alles andere als verspielt, sein Reden und Tun war eckig und kantig.

Der weltbekannte Isenheimer Flügelaltar des Matthias Grünewald zeigt, wenn er verschlossen ist, in seiner Mitte ein Bild des Karfreitags. Riesig ragt vor einer dunklen, leeren Landschaft das Kreuz auf, an das der entstellte Leib Christi geschlagen ist. Zur Rechten des Kreuzes steht die mächtige Gestalt des Täufers Johannes. Mit ausgestrecktem Arm und einer Hand, deren Zeigefinger expressiv verlängert ist, weist er auf den Gekreuzigten hin. Auf den Hintergrund hat der Maler in lateinischer Sprache ein Wort des Täufers aus dem Johannes-Evangelium geschrieben: Illum oportet crescere – me autem minui. Er muss wachsen, ich aber muss kleiner werden (Joh 3,30).

Historisch gesehen, stand Johannes der Täufer sicher nicht mehr unter dem Kreuz. Denn am Karfreitag war Johannes schon tot. Doch hinter dem Bild des spätgotischen Künstlers verbirgt sich eine tiefe Wahrheit: Jesus ist ohne Johannes nicht denkbar. Beide stehen in enger Verbindung zueinander. Das weiß auch Johannes: Er muss wachsen, ich aber muss kleiner werden. Wie sieht diese Beziehung aus? Wie stehen Johannes und Jesus zueinander?

Lehrer und Schüler

Johannes war der Lehrer Jesu. Der erste Lehrer, der Jesus in die „Gerechtigkeit“, d.h. in die Gottesbeziehung einführte, war freilich Josef, der aus dem Hause Davids stammte. Beim Synagogenvorsteher von Nazaret hat Jesus die Grundschule des Glaubens besucht. Schriftgelehrte im Tempel gaben ihm eine höhere Ausbildung. Und Johannes der Täufer wurde der Lehrer, den der erwachsene Jesus sich selbst aussuchte – einen Lehrer, mit dem der Schüler mütterlicherseits auch verwandt war.

Was hat Jesus bei Johannes gelernt? Beim Täufer hört Jesus, dass die große Wende, das Reich Gottes bald kommt. Er erfährt aber auch, dass die Lage ernst ist. Für alle in Israel gibt es nur eine Rettung. Bekehrung und Reue, ein Leben nach den Weisungen des Herrn: „Bringt Früchte hervor, die eure Umkehr zeigen, und fangt nicht an zu sagen: Wir haben ja Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen Kinder Abrahams machen. Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt. Jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen“ (Lk 3,8f). Diese klare Predigt scheint Jesus überzeugt zu haben. Deshalb lässt er sich von Johannes taufen. Der Größere beugt sich unter die Hand des Großen, und Gott offenbart durch ein Zeichen, dass dieser Größere sein „geliebter Sohn“ ist (Lk 3,22).

Scheinbar hat Johannes, der Lehrer, Jesus, den Schüler, als seinen „Nachfolger“ ausersehen: „Es kommt aber einer, der stärker ist als ...“ (Lk 3,16). Johannes war kein eifersüchtiger Lehrer, der es nicht haben kann, wenn ein Schüler den Meister übertrifft. Wir kennen das aus eigener Erfahrung im Großen und im Kleinen: Wie geht es manchen bedeutenden und hohen Persönlichkeiten, wenn die Kinder ihnen über den Kopf wachsen, wenn der Schüler auf einmal besser oder gar berühmter wird als sein Lehrer? Gute Lehrer können das ohne Neid anerkennen, vor allem dann, wenn es ihnen weniger um sich selbst als um die Schüler und um die Sache geht, die sie gemeinsam vermitteln wollen. Sie freuen sich am Wachstum des anderen: Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.

 

Zeitenwende – Wendezeit – Hinwendung zu Gott

Als die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn (vgl. Gal 4,4). Wende der Zeit, Zeitenwende. Der Augenblick, da Jesus von seinen Eltern in den Tempel gebracht wird, ist der Beginn der Endzeit. Auch bei uns ist gerade viel die Rede von einer Zeitenwende: Corona, der Krieg in der Ukraine, Krisen um Klima, Gas und Energie, Angst vor Inflation und Armut: Das sind nur einige Stichworte, die gerade die Runde machen und uns umtreiben. Doch lassen wir uns nicht durcheinanderbringen: Trotz allem, was uns gerade bewegt, wage ich die Behauptung: Das Reich Gottes ist da, es ist schon mitten unter uns – in Jesus von Nazareth, in diesem Kind, in dem sich Altes und Neues Testament gleichsam kreuzen, in dem die alten Visionen eines Simeon und einer Hanna sich erfüllen. Die „ewige Gerechtigkeit“, die Gabriel einst dem Daniel ankündigte, bricht an. Ein „Hochheiliges“ wird im Tempel gesalbt: Es ist Christus, der Herr. Gabriel, der Dolmetscher des Daniel, ist auch der Interpret für den Priester Zacharias und der Gottesmutter Maria. Das heutige Fest ist ein Impuls, umzudenken, eine „Zeitenwende“ des Glaubens einzuläuten. Es stimmt: Wir erleben, ja wir erleiden gerade eine Zeitenwende. Aber das heißt nicht, den Kopf in den Sand zu stecken. Die Zeitenwende kann zur Wendezeit werden, wenn wir uns neu Gott zuwenden und unseren Mitmenschen. Selbst wenn der Bundeskanzler eine Zeitenwende ausgerufen hat, stellen wir Christen fest: Die eigentliche Zeitenwende war schon vor 2000 Jahren: Gott ist Mensch geworden, damit die Welt menschlicher werde. Mit der Renovierung Ihrer Pfarrkirche setzen Sie, liebe BewohnerInnen von Strass, auf diese epochale Zeitenwende.

 

Gericht und Himmelreich

Damit rühren wir noch an einem dritten Bereich, der Johannes und Jesus verbindet, aber auch unterscheidet. Es ist die Botschaft, die sie verkündigen. Beide waren sich einig in einem Punkt: Sie wollten Israel sammeln und für den „Tag des Herrn“ vorbereiten. Ein neues Reich, das Himmelreich, wollten sie ankündigen, das Volk wiedervereinigen und stark machen. Doch die beiden taten es auf unterschiedliche Weise. Johannes predigte eine sehr praktische Frömmigkeit. Als die Leute ihn fragen, was sie tun sollen, legt er die Karten auf den Tisch, klipp und klar: „Wer zwei Gewänder hat, der gebe eines davon dem, der keines hat, und wer zu essen hat, der handle ebenso“ (Lk 3,11). Den Zöllnern, den damaligen „Melkern der Nation“, sagt er: „Verlangt nicht mehr, als festgesetzt ist (Lk 3,13). Und die Soldaten hören von ihm: „Misshandelt niemand, erpresst niemand, begnügt euch mit eurem Sold“ (Lk 3,14).

Jeder soll tun, was ihm möglich ist und seinem Stand entspricht. Solche Klarheit wünscht das Volk – übrigens auch heute in kirchlichen Kreisen. Verständlich, dass „das Volk in Scharen zu ihm hinaus“ geht und sich taufen lässt (Lk 3,7). Eine Sühnenacht bei Johannes, und die Pflicht ist erfüllt! Hier wird nicht um den heißen Brei herumgeredet, stattdessen gibt es klare Ansagen, was zu tun ist. Doch damit hätte man Johannes nur oberflächlich verstanden: Nicht so sehr das Reich Gottes ist nahe, sondern das Gericht. Johannes macht den Menschen „die Hölle heiß“: „Schon hält er, der mit Feuer taufen wird, die Schaufel in der Hand, um die Spreu vom Weizen zu trennen“ (vgl. Lk 3,16-18). Johannes – das ist eine Mischung aus einer Höllenpredigt und der Einladung, die letzte Chance nicht zu verpassen. Denn anders als religiös radikale Kreise seiner Zeit lässt Johannes die Tür einen Spalt geöffnet. Insgesamt aber kreist seine Verkündigung vor allem um das Gericht, den Zorn Gottes, um Umkehr und Buße.

Auf diesem Hintergrund wird klar, wo der Unterschied liegt zwischen Johannes und Jesus. Als dieser, erfüllt von der Kraft des Heiligen Geistes, wie gewohnt am Sabbat in die Synagoge geht, reicht man ihm das Buch des Propheten Jesaja. Er schlägt das Buch auf und liest die Stelle, wo es heißt. „Der Geist des Herrn ruht auf mir. Denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht, damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Lk 4,17-19).

 

Drohbotschaft und Trostbotschaft

Ohne dem Lehrer zu widersprechen und doch in Abgrenzung zu ihm, meldet sich Jesus zu Wort: keine Drohbotschaft, sondern eine Trostbotschaft. Johannes hat den Tag des Zornes Gottes angekündigt, und stattdessen kommt der Geistgesalbte, der das Gnadenjahr des Herrn ausruft. Was mag Johannes über eine solche Botschaft gedacht haben? Wird hier nicht das Reich Gottes zu billig angeboten? Erst kommt die Arbeit der Umkehr, dann das Fest der Vergebung. Ist Erlösung wirklich „gratis“, so billig zu haben, ohne jegliche Vorbedingung?

Diese Fragen beschäftigten nicht nur die Menschen damals, sie berühren uns heute ebenso. Die Fragen des Johannes stellt sich auch die Kirche. Die Antwort Jesu darauf ist eindeutig. Er verweist auf das, was geschieht, und sagt den Boten unserer Zeit: „Geht und berichtet, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen, und Aussätzige werden rein. Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet. Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt“ (Lk 7,22f). Mehr und mehr wird für Jesus der Lehrer zum Vorläufer: „Er ist der, von dem es in der Schrift heißt: Ich sende meinen Boten vor dir her, er soll den Weg für dich bahnen“ (Lk 7,27; vgl. Mal 3,1).

Schauen wir noch einmal auf den Isenheimer Altar: Ich muss abnehmen, damit er wachsen kann. Der große Theologe und (ernannte) Kardinal Hans Urs von Balthasar hat von sich gesagt, sein Werk wolle nichts anderes sein als ein Johannesfinger, der auf Christus zeigt. Auf Christus zeigen, wie der Täufer auf dem Isenheimer Altar, das ist die Berufung eines jeden Christen. Es ist die Berufung einer Gemeinde, einer Kirche, die Johannes dem Täufer geweiht ist. Auch sie ist nur vorläufig, bis das Reich Gottes in Fülle anbricht. Die Kirche ist Vorläuferin ihres Herrn, der größer und strahlender erscheint als sie selbst trotz aller Schleppen und Quasten, die sie im Lauf der Jahrhunderte angesammelt hat und trägt. Ihre Mission ist das Motto, unter das Johannes sein Wirken stellte: Ich muss abnehmen, damit er wachsen kann (vgl. Joh 3,30).