Mein Gott warum hast du mich verlassen?
Mein Gott warum hast du mich verlassen. Es kommt selten vor, dass eine ganze Schule wie auf einen Schlag ihr inneres Gleichgewicht verliert. Das geschah, als frühmorgens im Sekretariat der Telefonanruf der Polizei einging: Carina hat sich das Leben genommen. Sofort legt sich eine bleierne Stille über das sonst so quirlige und laute Haus. Seelsorger, Religionslehrer und auch das Krisenintervensionsteam kümmern sich um die Schülerinnen, vor allem um die Klasse, in der Carina lebte. Sofort kommen auch all die Fragen auf: Wer war schuld? Was war schuld? Was hat sich mit solch bleiernem Gewicht auf das Leben dieser sympathischen jungen Frau gelegt, so dass es nicht mehr weiterging?
Beim Requiem für Carina und bei ihrer Verabschiedung aus der Schule wird dann mit ausdrücklicher Zustimmung der Eltern der Brief vorgelesen, den sie zuletzt schrieb:
„Ich mach es kurz: Ich sehe keine Zukunft für mich. Mir fehlen die sozialen Kompetenzen da draußen. Mir fehlt der Sinn darin arbeiten zu gehen und ein normales bürgerliches Leben zu führen, weil ich das nicht will und es nicht mal kann. Ich bin nicht unglücklich. Nicht in den Ferien. Aber es sind nicht immer Ferien. Ich bin nicht normal. Aber ich kann mich in diese Welt nicht integrieren. Ich wünschte auch die Dinge lägen anders, aber das tun sie nicht. Tut mir leid, dass ich euch so oft enttäuscht habe.
Ich weiß es ist albern, aber könntet ihr vielleicht das weiße Stoffnilpferd und mein IPad in meinen Sarg legen lassen? Ohne das Nilpferd kann ich nicht gut schlafen und Musik hat mir schon immer geholfen in allen Situationen… Wenn es nicht geht ist es auch nicht schlimm, aber bitte schmeißt es nicht weg.
Und kümmert euch gut um Wuschel, ok? Tut mir leid. Carina“
Ich gestehe offen, dass mir selten die Verlassenheitserfahrung eines Menschen so nahe gegangen ist wie die der jungen Schülerin Carina. Wie muss das sein, wenn nichts mehr Heimat gibt und trägt außer einem weißen Stoffnilpferd und der Musik auf dem IPad? Trotz aller psychologischen Erklärungen und Instrumente, die uns heute zur Verfügung stehen: welcher Abgrund des Alleinseins tut sich hier auf?
Vielleicht mag der Blick auf Carina an diesem heutigen Karfreitag die Verlassenheit Jesu am Kreuz neu verstehen lassen. Es ist der Herr, der menschgewordene Gottessohn, der in tiefer menschlicher Angst versinkt. Er schreit in seiner Verlassenheit mit dem Psalm des Alten Testaments: Mein Gott mein Gott, warum hast du mich verlassen? Der unbegreifliche Verlassenheitsruf Jesu ist immer der ergreifendste Augenblick jeder Passion. Und schon zuvor im Garten Gethsemane versinkt er in tiefe Verlassenheit und Todesangst. Während die Jünger schlafen, betet er: Vater wenn du willst, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen. Aber nicht mein, sondern dein Wille geschehe. Es ist der Hebräerbrief, der das drastisch beschreibt: Wir haben ja nicht einen Hohenpriester, der nicht mitfühlen könnte mit unserer Schwäche, sondern einen, der in allem wie wir in Versuchung geführt worden ist, aber nicht gesündigt hat. Als er auf Erden lebte, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden. Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt.
Neue Herausforderungen: Die Not der organisierten Sterbebeihilfe
Da begegnet uns in diesen Tagen - ganz aktuell nach der Entscheidung des Deutschen Bundestages über ein Verbot der organisierten Sterbebeihilfe - eine sehr drückende Frage und Not: Warum erbitten heute mehr und mehr ältere und pflegebedürftige Menschen in ihren Patientenverfügungen aktive Sterbebeihilfe? Warum wollen sie künstlich aus dem Leben befördert werden? Und warum fürchten sie ein Leben in den Notlagen der Alters und der Krankheit mehr als das Sterben? Lassen wir ruhig die falsche Illusion vom freiverantwortlichen Suizid beiseite. Der wahre Beweggrund solcher Entscheidungen ist nicht Freiheit. Es ist Angst! Oft sogar die Sorge, den eigenen Angehörigen zu Last zu fallen. In einer repräsentativen Umfrage im Deutschen Ethikrat fanden wir auf die Frage nach den Ursachen solcher Entscheidungen drei typische Antworten: Erstens die Angst vor Leid und großen Schmerzen. Zweitens die Angst vor dem Pflegefall und der Hinfälligkeit des Alters, und drittens die Angst vor dem Alleinsein im Sterben.
Auf alle diese existentiellen Ängste hätten wir theoretisch gute Antworten: Da ist erstens die Forderung nach Ausbau der Palliativmedizin in der Ausbildung der Ärzte, in der Forschung und in der Versorgung der Patienten, um den Menschen die Angst vor unerträglichen Schmerzen zu nehmen. Und da ist zweitens die geniale Idee des Hospiz und das Versprechen guter Pflege. Menschen sollen in der letzten entscheidenden Phase ihres Lebens fürsorglich begleitet, in Frieden und in liebevoller Geborgenheit dem wichtigsten Ziel und Ereignis des Lebens entgegen gehen können: dem eigenen Sterben. Und schließlich ist doch wohl trotz allen Kostendrucks in unseren Krankenhäusern das berüchtigte „Sterben in der Besenkammer“ ein für alle Mal vorbei! In all diesen Situationen gewinnt unsere christliche Verantwortung für eine Kultur des Lebens eine neue Dimension. Unser Einsatz muss doch darin bestehen, nicht Beihilfe zum Sterben, sondern Hilfe zum Leben bereit zu stellen.
Aber alle die theoretischen Lösungen werden in solcher Situation zweitrangig, wenn Menschen keinen Halt, keine Hoffnung und keinen echten Trost finden. Vielleicht hat Alexander Solschenizyn, der russische Schriftsteller und Nobelpreisträger, das Empfinden vieler moderner Menschen angesichts der heutigen Fortschrittskrise präzise wie kaum ein anderer getroffen, als er bereits 1971 schrieb: „Wir sind in eine Sackgasse geraten. Wir müssen umkehren. Der ganze unendliche Fortschritt hat sich als sinnloser, krampfhafter, nicht zu Ende gedachter Vorstoß der Menschheit in eine Sackgasse erwiesen. Die gierige Zivilisation des ewigen Fortschritts ist zusammengebrochen und geht ihrem Ende zu.“
Das Leid der Welt und der Trost im Kreuz
„Hier rühren wir an das schwerste Geheimnis des Christseins“ - sagt Romano Guardini der große Theologe des 20. Jahrhunderts in seinem großen Buch: Der Herr. „Christentum und Kreuz sind voneinander nicht zu lösen. Seitdem Christus den Weg zum Kreuz hat gehen müssen, steht das Kreuz auf dem Wege eines jeden, der Christ sein will; für jeden als »sein« Kreuz. Die Natur lehnt sich dagegen auf. Sie will sich »behalten«. Sie will da nicht hin-durchgehen. Jesus aber sagt, und es ist das Grundgesetz des Christentums: Wer sich, sein Leben, seine Seele festhält, der wird sie verlieren. Wer sich hineingibt in das Kreuz, so wie es hier und jeweils für ihn aufgerichtet ist, der wird sie finden - und dann unverlierbar, als das ewige Selbst, das an Christus teil hat.“ Romano Guardini, Der Herr, S. 343.
Es ist der Trost des Kreuzes, dass nichts und niemand je aus der Hand Gottes herausfallen kann! Es ist das Geschenk des Glaubens, dass wir als erlöste Menschen mit einer ewigen Perspektive leben dürfen! Es ist die Zusage, dass Gott immer da ist, auch in den dunkelsten und depressivsten Phasen unseres Lebens. Im Blick auf das Kreuz können Menschen ihre Not einordnen, wenngleich nicht begreifen. Im Blick auf das Kreuz erfahren sie die Liebe des Gekreuzigten, sein Mitleiden und seine tröstliche Nähe, sein Heil – und eben nicht nur Therapie!
Ein Brief unbeirrter Hoffnung
Ein Brief voller Not stand am Anfang dieser Gedanken. Ein Brief unbeirrter Hoffnung soll am Ende stehen. Wir verdanken diese Zeilen dem Jesuitenpater Alfred Delp. Er war bekanntlich Mitglied des Kreisauer Kreises, dem Widerstandskreis gegen Adolf Hitler und das Dritten Reiches um Graf James von Moltke. Er wurde verhaftet als dieser Kreis aufflog und von den Nazis zum Tod verurteilt. Aus der bedrückenden Einsamkeit im Gefängnis Berlin Plötzensee, im Warten auf seine Hinrichtung noch am Lichtmesstag des Jahres 1945 gibt es diese Zeilen, die er an sein neugeborenes Patenkind Alfred Sebastian in München schreibt:
„Ich lebe hier auf einem sehr hohen Berg, lieber Alfred Sebastian. Was man so Leben nennt, das ist weit unten, in verschwommener und verworrener Schwärze. Hier oben treffen sich die menschliche und göttliche Einsamkeit zu ernster Zwiesprache. Man muss helle Augen haben, sonst hält man das Licht hier nicht aus. Man muss gute Lungen haben, sonst bekommt man keinen Atem mehr. Man muss schwindelfrei sein, der einsamen, schmalen Höhe fähig, sonst stürzt man ab und wird ein Opfer der Kleinheit und Tücke. Das sind meine Wünsche für Dein Leben, Alfred Sebastian: helle Augen, gute Lungen und die Fähigkeit, die freie Höhe zu gewinnen und auszuhalten…
Dein Patenonkel Alfred Delp
Übrigens: Das habe ich mit gefesselten Händen geschrieben. Diese gefesselten Hände vermach' ich Dir nicht, aber die Freiheit, die die Fesseln trägt und in ihnen sich selbst treu bleibt, ... die sei Dir geschenkt. Und denk daran. Nur der Anbetende, der Liebende, der nach Gottes Ordnung Lebende ist Mensch und ist frei und lebensfähig.“