Predigt zum 6. Sonntag der Osterzeit
Predigt zum 6. Ostersonntag, Lesjahr A, 2020, Joh 14,15-21, Ohnmacht, P. Regino
Predigt zum 6. Ostersonntag, Lesjahr A, 2020, Joh 14,15-21, Ohnmacht, P. Regino
Ich hoffe, Sie erwarten von mir jetzt nicht eine umfassende Deutung der Corona-Krise oder eine Beurteilung der Vorsichtsmaßnahmen: Mundschutz, Abstand usw. Jede dieser Maßnahmen bewirkt sicher etwas, doch welche Maßnahme wie viel bewirkt, das werden wir, wenn überhaupt, erst hinterher wissen. Zurzeit wird über die Öffnung der Außengrenzen Deutschlands diskutiert. Doch wenn ich sehe, wie unterschiedlich die einzelnen Bundesländer betroffen sind, dann hätte man auch auf die Idee kommen können, die Grenze nach Hessen zu schließen und die Grenze nach Tirol früher zu öffnen.
Auf der Suche nach geeigneten Maßnahmen zur Eindämmung der Ansteckung zeigt sich uns unsere Ohnmacht. Und das finde ich gar nicht mal so schlecht in einer Zeit, wo der Mensch dazu neigt, sich zu überschätzen. Wir wissen eben doch nicht alles und wir können nicht alles. Ein neues Virus - und schon stehen unsere Wissenschaftler vor vielen neuen Fragen. So erleben wir uns in unserer Abhängigkeit. Abhängigkeit ist das Gegenteil von Selbständigkeit. Kinder und Jugendliche sind dabei, ihre Selbständigkeit zu entwickeln, sich auch eine gewisse Selbständigkeit gegenüber den Eltern zu erarbeiten, und wir Erwachsene müssen oft wieder lernen, unsere Abhängigkeit zu akzeptieren und Gott wirklich Gott sein zu lassen. Das Erleben von Ohnmacht kann uns helfen, Selbstüberschätzung zu erkennen und zu korrigieren.
Abhängigkeit gehört zum grundsätzlichen Empfinden eines religiösen Menschen. Das Wort „Religion“ heißt übersetzt „Rückbindung“ und meint die Rückbindung an Gott. Ein grenzenloses Streben nach Selbständigkeit und Autonomie endet in der Isolation und macht den Menschen nicht glücklich. Ich halte die Machtmenschen, die sich in ihrer Selbständigkeit gefallen, für ziemlich unglückliche Menschen, auch wenn sie auf den ersten Blick erfolgreich scheinen. In der Ohnmacht aber liegt der Schlüssel, Hilfe annehmen zu können, sich beschenken zu lassen und dadurch reich zu werden.
Die Jünger Jesu hatten ihre Familie verlassen und waren ihrem Meister nachgefolgt. Sie waren von ihm abhängig. Was hätten sie tun sollen ohne ihn? Auf die Frage Jesu: „Wollt auch ihr gehen?“, antwortet Petrus einmal: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“ (Joh 6,68). Doch als sich beim letzten Abendmahl Jesu sein Abschied abzeichnet, als er seine Abschiedsrede hält, aus der wir vorhin im Evangelium gehört haben, da erleben die Jünger schmerzhaft ihre Abhängigkeit, ihre Ohnmacht. Jesus war durch die „Worte ewigen Lebens“, die er für sie hatte, ihr Beistand geworden, ihr geistiger Halt. Darum sagt Jesus zu seinem Abschied das Trostwort: „Ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen
anderen
Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll“ (V.16).
In Zeiten der sozialen Distanz spüren wir, dass uns menschliche Begegnungen fehlen. Wir brauchen die direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, face-to-face. Und doch macht es viel aus, wenn wir über das Handy und den Computer einander beistehen können. So möchte ich an dieser Stelle allen danken, die sich in den vergangenen gottesdienstlosen Wochen bemüht haben, einander Beistand zu sein: dem Frauenbund, wo man sich melden konnte für die Dinge täglichen Bedarfs, dem PGR, der Gottesdienste wie Ölbergandacht und Maiandacht technisch zusammengebracht und ins Netz übertragen hat, dem Kirchenchor, der vorgemacht hat, wie man sich in einer WhatsApp-Gruppe gegenseitig Mut machen kann, und auch allen, die am Telefon einem Menschen direkt oder indirekt gesagt haben: „Ich vermisse dich.“ Allen möchte ich danken für die gegenseitige Sorge umeinander. Seelsorge ist nicht nur die Tätigkeit eines hauptamtlichen Seelsorgers. Gerade in Zeiten, wo die Hauptamtlichen weniger werden, ist es die Aufgabe aller Christen, Seelsorgerin und Seelsorger für die nächsten Mitmenschen zu sein.
Beistand – dafür verwendet der griechische Bibeltext das Wort „paráklaetos“, wörtlich: der herbeigerufene. Der Beistand lässt sich also herbeirufen. Jesus nennt diesen Beistand den „Geist der Wahrheit“. Den Geist der Wahrheit können wir demnach anrufen, vor allem, wenn wir nicht mehr wissen, was wir glauben sollen, wenn die Informationen so gegensätzlich sind, wenn Fake-news, Verschwörungstheorien und Halbwahrheiten verbreitet werden. Besonders tückisch sind diese Halbwahrheiten. Denn den Leuten, die Halbwahrheiten verbreiten, kann man nicht einmal vorwerfen, dass sie lügen würden. Das stimmt alles, was die sagen, aber es ist eben nur die halbe Wahrheit, es ist einseitig, es gibt ein verzerrtes Bild, und damit ein unwahres Bild. In St. Ottilien sagen sie z.B. immer wieder: „Der Regino spielt gut Orgel.“ Das mag stimmen, ist aber nur die zweite Hälfte der Wahrheit. Ich bin aber in erster Linie ein guter Sänger, Stimmbildner und Chorleiter. Doch diese erste Hälfte der Wahrheit wird bewusst verschwiegen, um ein bestimmtes Bild von mir zu verbreiten. Im Geist der Wahrheit leben heißt eben auch, den Aussagen der Menschen nicht allzu leichtfertig zu glauben und kritisch zu fragen: „Ist das die ganze Wahrheit?“
Um die Corona-Situation zu beschreiben, gibt es in den Medien viele Zahlen. Aber auch jede Zahl ist nur eine Halbwahrheit, wenn die Vergleichszahlen nicht dabei stehen. Wenn ich lese, dass in Deutschland 7900 Menschen mit Corona gestorben sind, dann frage ich mich, wie viele davon auch ohne Corona gestorben wären. Und wie viele an anderen Todesursachen gestorben sind. Und wie viele überhaupt in einem Jahr in Deutschland sterben (nämlich 900.000). Halbwahrheiten werden gern verbreitet, um Stimmung zu machen. Darauf sollten wir nicht hereinfallen. Wenn wir den Geist der Wahrheit, den Heiligen Geist, anrufen, dann erfahren wir, dass die Wahrheit immer größer ist, als das, was uns als Wahrheit verkauft wird.
Liebe Schwestern und Brüder, Jesus hat mit Vollmacht gepredigt und die Frohe Botschaft vom Reich Gottes verkündet. Er ist in Ohnmacht gestorben, aber seine Macht reichte weiter. Nutzen wir unsere Ohnmacht in der gegenwärtigen Krise, um offen zu bleiben für die Wahrheit, die es stets zu suchen gilt. Verdächtig sind mir diejenigen, die behaupten, die Wahrheit schon zu kennen, die immer schon wissen, wo es lang geht. Sind das nicht Menschen, die sich selbst erhöhen, die sich zu Gott machen? Geben wir Gott die Macht, denn er allein ist der Allmächtige.