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Wichtiges

„Was hilft gegen Amok? Was trägt unsere Gesellschaft?“

Foto: Beatrice Schubert
Foto: Beatrice Schubert, © Foto: Beatrice Schubert
09.05.2022

20 Jahre nach dem ersten Amoklauf an einer deutschen Schule, dem Gutenberg Gymnasium in Erfurt, hält Weihbischof Anton Losinger ein Plädoyer für Werte und Orientierungen in der Wissensgesellschaft. Und sucht Antworten auf die Fragen: Wohin geht unsere Gesellschaft? Und was bedeutet Bildung?

Ein Plädoyer für Werte und Orientierungen in der Wissensgesellschaft

  „Wir sind die Schüler von heute

 die in Schulen von gestern

 von Lehrern von vorgestern

 mit Methoden des Mittelalters

 auf die Probleme von übermorgen

 vorbereitet werden.“

 - so verabschiedete sich vor einiger Zeit die Abiturklasse eines Berliner Gymnasiums in ihrer Schülerzeitung von der Schule ins Leben. Welch herbe Kritik am System Bildung! Deutlich scheint die Sorge junger Menschen durch, für das Leben in der Gesellschaft von morgen, die ihrer Gestalt nach eine globale Wissensgesellschaft von ganz neuem Zuschnitt sein wird, nicht gut genug vorbereitet zu sein.

Hier entzündet sich für eine weitblickende Gesellschafts- und Bildungspolitik die Frage: Wohin geht unsere Gesellschaft? Und was bedeutet Bildung? Vor allem: Was muss ein Schüler lernen, damit er weiß, was zukünftig wichtig ist und was er für sein Leben braucht? Genügt es, wenn unsere Schulen die sogenannten Kulturtechniken der Menschheit einigermaßen erfolgreich vermitteln?

Junge Menschen brauchen Orientierung und Halt – das so einhellig wie klar. Wo es das nicht gibt, entsteht geistige Not. Da geraten Mensch und Gesellschaft in dramatische Schieflagen! Evident erscheint das gerade in diesen Tagen, da sich der dramatische erste Amoklauf an einer deutschen Schule – am Vormittag des 26. April 2002 am Gutenberg Gymnasium in Erfurt – zum 20. Mal jährt. Trotz der Jahre, die inzwischen vorbeigezogen sind, tritt uns die Frage mit gleichbleibender Schärfe entgegen: Was trägt einen Menschen und was schuldet eine Gesellschaft? Wie wichtig sind tragende Wertmaßstäbe für ein gelingendes Leben – und was ist, wenn sie wegbrechen?

Es ist der langjährige Chefredakteur der „Augsburger Allgemeinen“ Walter Roller, der einen gesamtgesellschaftlichen Wachsamkeitsappell formuliert. In seinem Leitartikel unmittelbar nach der Katastrophe von Erfurt nennt er drei entscheidende Gründe:

„Erstens: Es gibt ein Defizit an Erziehung. Viele Jugendliche sind mit sich und ihren Sorgen allein. Der Staat kann nicht wettmachen was Eltern versäumen. Jugendliche brauchen Orientierung und Halt…

Zweitens: Eine Gesellschaft, in der jeder seinen Vorteil sucht und zunehmend für sich lebt, büßt Ihre sozialen Bindungskräfte ein. Man sieht gerne weg. Gefährdete Jugendlich driften ab, weil sich niemand – auch in der Schule nicht – hinreichend um sie kümmert…

Drittens: Gefestigten Menschen mag der Dauerkonsum von gewaltverherrlichenden TV- und Kinofilmen, Videos und Computerspielen vielleicht nichts anhaben. Bei labilen, zu Nachahmung neigenden Jugendlichen können diese Gewaltorgien ungeheure Aggressionen und Allmachtsphantasien auslösen. Hier muss eingegriffen werden.“

Niemand außer Gott weiß, „was im Menschen ist“ (Joh 2,25) und was in psychisch extremen Momenten im Kopf eines Jugendlichen vorgehen mag. Aber die Schule, unser Bildungs- und unser Erziehungssystem treten zu kurz, wenn die entscheidendste aller existentiellen Fragen ausgelassen wird. Es ist die Frage nach Orientierung und Wertmaßstäben für die Welt junger Menschen, und letztendlich die alles entscheidende Frage nach dem Sinn des Lebens. Junge Menschen müssen gerade heute über alles technische Wissen hinaus, ausgestattet und begleitet werden mit Antworten, mit denen sie ihr Leben gestalten und notfalls ertragen können. Das hat einen tiefen existentiellen Anspruch! Und darum müssen auch Lehrer heute weit über kognitive Wissensaspekte hinaus ihren Schülern mit ihrer ganzen Persönlichkeit zur Verfügung stehen, mit ihren Überzeugungen und ihren Lebensfundamenten. Dazu gehört letztlich immer wieder dieses eine: Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Ganzen. Und das umso mehr und umso dringlicher, je weniger heutige Familien in der Lage sind, sich dieser Existenzaufgabe junger Menschen zu stellen, und gleichzeitig mediale Inhalte mit Macht die Herrschaft über das Denken junger Menschen und ganzer Gesellschaften zu übernehmen drohen.

Die Frage nach dem tragenden Sinn des Lebens ist eine entscheidende biografische Herausforderung und zentrales Kriterium der existentiellen und geistigen Entwicklung junger Menschen. Sie fordert und betrifft sämtliche Sozialisationsinstanzen im Leben. Sie ist das tägliche Brot und auch das Salz in der Suppe der Erziehung, in der vielleicht oft erfüllenden, aber stets auch nervenraubenden Auseinandersetzung mit Jugendlichen und ihren Ideen!

Einen Kommentar dazu mit dem Titel „Lebenssinn gibt Orientierung“, erschienen in der Katholischen Sonntagszeitung & Neue Bildpost, Ausgabe Nr. 18 am 7./8. Mai 2022 unter der Rubrik „Aus meiner Sicht …“, lesen Sie hier: