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Wichtiges
Das Soziale neu denken, das Neue sozial denken! Ein Plädoyer für die Würde des Menschen

Zukunftskongress „Soziales Netz Bayern-Bildung, Arbeit, soziale Gerechtigkeit“

08.02.2010

Die Konzeption der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik ruht auf einem Menschenbild. Alfred Müller-Armack, einer der herausragenden geistigen Gründungsväter dieser Konzeption einer Wirtschafts- und Sozialordnung für die Bundesrepublik, brachte es auf den berühmten Nenner: die soziale Marktwirtschaft ist die Konzeption einer Wirtschaftsordnung, der es gelingt, die Idee der Freiheit auf dem Markt mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit zu verbinden.

Es ist eine „irenische“ Idee, eine soziale Friedenskonzeption, die hier zugrunde liegt – so schreibt der große Ökonom bereits unmittelbar nach dem Ende des II. Weltkrieges in der „Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft“. Aus heutiger Sicht zeigt sich, dass es diese elementare Idee eines Menschenbildes war, die sowohl ökonomische Prosperität, wie auch sozialen Frieden, Freiheit und gerechten Ausgleich in der deutschen Nachkriegsgeschichte ermöglichte. Die ideellen Fundamente der Konzeption der sozialen Marktwirtschaft, die auf einem Begriff von Menschenwürde beruhen, spiegeln sich in klarer Deutlichkeit in der Begründung der Idee des „sozialen Netzes.“ Es ist Artikel 1 des Bundessozialhilfegesetzes, der diesen Menschenrechtsanspruch in höchst möglicher Deutlichkeit beschreibt: Inhärentes Ziel der Sozialhilfe sei es, jedem Menschen in Notlagen ein der Würde der menschlichen Person entsprechendes Leben zu ermöglichen. Insofern rückt bei der Begründung des sozialen Netzes und der sozialen Komponente im Kontext der Idee der Sozialen Marktwirtschaft ein Menschenbild in den Mittelpunkt, dessen Grundkomponente, die Würde der menschlichen Person, ein entscheidendes Fundament dieser Wirtschafts- und Sozialordnung in der Bundesrepublik Deutschland bildet.

Die spannende Frage heute lautet: Ist dieser Sozialstaat wetterfest?

Ohne Frage steht unsere Gesellschaft vor unübersehbaren sozialen, politischen und ökonomischen Herausforderungen. Arbeitslosigkeit auf festbleibend hohem Niveau – die gegenwärtige konjunkturelle Aufhellung sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass die grundlegenden strukturellen Probleme und Herausforderungen des Arbeitsmarktes längst nicht behoben sind –, eine drückende Belastung mit Steuern und Sozialabgaben und die ungesicherte langfristige Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme bereiten den Menschen tiefgehende Sorgen und wecken Zukunftsängste. Diese Verunsicherung ist mittlerweile keine Randerscheinung mehr, sondern hat bereits breite Schichten der Bevölkerung erfasst. Gleichzeitig wächst die Einsicht, dass der „sozialpolitische Punktualismus“, also die am Einzelfall ausgerichteten Eingriffe in das soziale Leistungs- und Finanzierungsrecht, den Sozialstaat nicht nachhaltig sichern kann. Auch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage durch die Ausweitung des versicherungspflichtigen Personenkreises oder der beitragspflichtigen Einnahmen würde der Sozialversicherung bestenfalls kurzfristig etwas Luft verschaffen, könnte die langfristigen Strukturprobleme aber nicht lösen. Deutschland braucht eine Sozialreform „aus einem Guss“. Der Sozialstaat muss umfassend reformiert werden, will man den sozialstaatlichen Gehalt unserer Wirtschaftsverfassung nachhaltig, d.h. auch für kommende Generationen sichern.

Diesem Impuls gibt auch die Presse weitestgehend Recht. Gerade die in neoliberaler Hinsicht absolut unverdächtige „Süddeutsche Zeitung“ formuliert zum Stichwort Reformen bereits zur Zeit der sozialliberalen Koalition: „Richtige Richtung, falsches Tempo!“ (Marc Beise, SZ vom 23.11.2004)
„Die Behauptung stimmt ja nicht, die Wirtschaft sei bereits auf nachhaltigem Erholungskurs, die Sozialsysteme seien reformiert und die Erfolge würden sich nun nach und nach einstellen. Der Aufschwung bleibt labil und die Investitionsbereitschaft weiterhin gering. Die Massenarbeitslosigkeit ist zementiert. Das Projekt Hartz IV, das manchen Bürger hart trifft und treffen muss, kann nur dann ein Erfolg für alle werden, wenn in einem zweiten Schritt der Arbeitsmarkt wirklich flexibilisiert wird. Wenn es nicht möglich wird, stärker als bisher bei Bedarf niedrigere Löhne und längere Arbeitszeiten zu vereinbaren, werden die neuen Jobs nicht entstehen, in die die Arbeitslosen durch die Kürzung von Leistungen gezwungen werden sollen.
Bei den Sozialsystemen wiederum ist bestenfalls eine Atempause erreicht. Die Fundamente bröckeln weiter, es werden bisher – und zum Teil mit Tricks – nur die ärgsten finanziellen Lücken verschlossen.“

In diese Unsicherheitssituation trifft das von der Sozialkommission der Deutschen Bischofskonferenz vorgelegte Impuls-Papier: „Das Soziale neu denken. Für eine langfristig angelegte Reformpolitik“

Die Deutschen Bischöfe registrieren in aller Deutlichkeit die durch die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, die Globalisierung der Wirtschaft und vor allem durch den demographischen Wandel unserer Gesellschaft ausgelösten Schieflagen, die das Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland in der bisher gekannten Form nicht mehr langfristig zukunftssicher erscheinen lassen und plädieren für notwendige, langfristig angelegte Reformvorhaben. Dabei geht es nicht um plakative Einschnitte ins soziale Netz oder banale Kritik der sozialen Sicherungssysteme als „soziale Hängematte“, sondern um eine Langfrist-Gerechtigkeitsfrage der Gesellschaft. In der Systematik des sozialen Umlageverfahrens der Sozialen Sicherungssysteme müssen auch künftige Generationen angesichts des demographischen Strukturwandels eine realistische Chance eigener sozialer Sicherung erkennen können. Insofern geht es mit dieser Zukunftsfrage um eine Überlebensfrage der Gesellschaft.

Dass solche einschneidenden Maßnahmen und Reformnotwendigkeiten nicht allseitig auf Begeisterung stoßen, zeigt die Kritik an diesem Kommissionspapier der Deutschen Bischofskonferenz, die sowohl innerhalb des Lagers der Sozialethiker, wie auch im Lager der Sozialpolitiker vorgetragen wurde. Heiner Geißler und Norbert Blüm haben sich hier als heftige Kritiker profiliert und blamiert. Nichts desto trotz bleibt die entscheidende Herausforderung einer Neubesinnung auf die grundlegenden Werte und Ziele des sozialen Zusammenlebens in einer Zeit des Wandels, „damit die Menschen in unserem Land, insbesondere auch die, die sich sonst nicht Gehör verschaffen können, eine gute Zukunft haben.“
Das Grundanliegen des Bischöflichen Papiers lässt sich damit auf den einsichtigen Nenner bringen: Wir müssen das Soziale neu denken, damit das Neue sozial gedacht werden kann. Wir brauchen soziale Strukturreformen, damit soziale Sicherung gegen die Grundrisiken des Lebens zukunftsfest gemacht werden kann.

II. Aktuelle Herausforderungen an Staat und Gesellschaft

1. Abbau der Arbeitslosigkeit

Das nach wie vor aktuelle Kernproblem unserer Gesellschaft und die bleibende Anforderung an die Reform der sozialen Marktwirtschaft ist ohne Frage das Problem der hohen Arbeitslosigkeit. Der Bundespräsident spricht von "der Arbeitslosigkeit als einer brennenden Wunde in unserer Wohlstandsgesellschaft," die das ganze System der Sozialen Marktwirtschaft in Frage stellen könne. Arbeitslosigkeit ist die zentrale Ursache sozialer Konflikte und die primäre Quelle von Armut und sozialer Ungleichheit. Aber Arbeit ist nach dem Verständnis der christlichen Soziallehre mehr als nur Einkommensquelle, der Verlust des Arbeitsplatzes mithin mehr als eine sozialpolitisch zu kompensierende Einkommenseinbuße. Arbeit verleiht dem Arbeitsplatzbesitzer Sicherheit und Unabhängigkeit vom Staat. Eine den individuellen Neigungen und Fähigkeiten entsprechende Beschäftigung ist erfüllend, sinnstiftend und erhöht das Selbstwertgefühl. Insofern ist es ein sozialpolitischer Skandal gegen die soziale Gerechtigkeit, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Jugendliche oder ältere Arbeitnehmer systematisch von der Partizipation am Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden.
Jede beschäftigungsfördernde Politik besitzt somit eine originär soziale Komponente. Eine Politik, die sich sozialen Zielen verpflichtet fühlt, darf das Ziel der Vollbeschäftigung nie aus den Augen verlieren. In diesem Sinne formuliert bereits das gemeinsam Wort der Kirchen von 1997 in der wünschenswerten Klarheit: “Die vordringlichste Aufgabe der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist in den nächsten Jahren der Abbau der Massenarbeitslosigkeit”, will man eine Desolidarisierung der Gesellschaft im Ansatz wirkungsvoll verhindern.
Das erfordert allerdings die Umsetzung von Maßnahmen, die insbesondere bei Arbeitsplatzbesitzern spürbare Einschnitte in ihre Besitzstände erfordern. Aber auch diese notwendigen Einschnitte sind ein Akt der Solidarität – der Solidarität mit den Arbeitslosen und jenen, die sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen mühsam ein Auskommen schaffen.

2. Stärkung der Familie

Familien sind die Keimzellen der Gesellschaft. Sie sind der Ort, in dem Solidarität gelebt und solidarisches Handeln eingeübt wird. In ihrer solidarischen Fürsorge füreinander gehen die Familien der staatlichen Fürsorge voran und entlasten den Sozialstaat erheblich. Gleichzeitig schaffen die Familien durch die Geburt und Erziehung von Kindern die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.
Die Familien brauchen keine Förder- oder Hilfeleistungen durch den Staat, jedenfalls nicht in erster Linie. Es wäre schon viel erreicht, wenn der Staat den Familien das zukommen ließe, was ihnen aufgrund ihrer Leistungen für die Gesellschaft zusteht. Das ist zunächst eine Aufgabe für die Steuer- und Sozialversicherungspolitik. In der Steuerpolitik ist darauf zu achten, dass das soziokulturelle Existenzminimum und der Betreuungs- und Erziehungsaufwand steuerfrei bleibt. Die entsprechenden steuerlichen Freibeträge müssen deshalb in regelmäßigen Abständen angepasst und auf ein realitätsnahes Niveau angehoben werden. Hier ist in den vergangenen Jahren viel geschehen, wenngleich die steuerlichen Kinderfreibeträge bestenfalls die verfassungsgemäße Untergrenze erreichen.
Weitaus größerer Reformbedarf stellt sich im System der Sozialen Sicherung, und hier insbesondere in der gesetzlichen Rentenversicherung. Dass die Geburt und Erziehung von Kindern eine Bestand erhaltende Funktion für ein umlagefinanziertes System sozialer Sicherung hat, ist mittlerweile allgemein akzeptiert. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits vor über 10 Jahren angemahnt, die strukturelle Benachteiligung der Familien bei jeder Reform des Systems sozialer Sicherung abzubauen. Trotz einiger Verbesserungen in diesem Bereich besteht noch größter Reformbedarf in allen Zweigen des Systems sozialer Sicherung.
Aber Familienpolitik ist nicht nur eine staatliche Aufgabe. Der Familienfreundlichkeit des Wirtschafts- und Arbeitslebens muss in diesem Zusammenhang höchste Aufmerksamkeit gelten: mit Rücksicht auf die berufstätigen Frauen und Männer ebenso wie im Interesse der ganzen Gesellschaft. Es wäre nicht nur moralisch verfehlt, sondern auch ökonomisch kurzsichtig, wenn sich die Wirtschaft auf den ungebundenen Single als idealen Arbeitnehmertypus kaprizieren würde. Gerade in der gravierenden Krise der sozialen Sicherungssysteme, vor allem der Altersvorsorge wird und muss der Kontext der Familie in allen gesellschaftlichen Bereichen wieder an Bedeutung gewinnen. Was wir brauchen sind flexiblere Arbeitszeiten, Arbeitszeitkonten, Teilzeittätigkeit, Jobsharing u.a. und ein neues Bewusstsein der Solidarität der Generationen. Wir sehen darin auch einen Beitrag zu einer familienorientierten Arbeitswelt. Nicht zuletzt dürfte sich diese wertorientierte Entscheidung wiederum als Standort- und Wettbewerbsvorteil zeigen, da die Familie primär der Entfaltung des Menschen und der Stabilität der Gesellschaft dient. Diese Wertentscheidungen sind nicht kostenlos, weder für das einzelne Unternehmen, noch für die Gesellschaft. Aber die Reparatur der Schäden an Mensch, Gesellschaft und Natur, die ohne ein solches Wirtschaften entstünden, kämen uns noch deutlich teurer zu stehen

3. Solide Bildungspolitik

Ergänzend zu dieser Politik der Stärkung der Familien muss eine solide Bildungspolitik treten. Von den in Familien und Schulen gemeinsam erbrachten Bildungs- und Erziehungsleistung hängt die Zukunft der Gesellschaft ab. Dass wir uns heute an der Grenze bzw. an einem Übergang von einer klassischen Industriegesellschaft zu einer Bildungsgesellschaft befinden, ist allgemein bekannt. „Wissensgesellschaft“ heißt das neue Zauberwort, das als Erklärungsschema für die vielfältigen Wandlungsprozesse im Leben der Gesellschaft und einzelner Menschen herangezogen wir. Vor diesem Hintergrund muss die „soziale Frage“ neu thematisiert werden. Die Herausforderungen an den Sozialstaat liegen schon längst nicht mehr im Gegensatz zwischen den klassischen Faktoren Arbeit und Kapital und in Zukunft wohl auch weniger in den gängigen sozialen Schichtungsmerkmalen. Es ist bereits jetzt absehbar, dass sich neue soziale Ungleichheiten entlang der Dimension „Wissen“ und „Nichtwissen“ abspielen. Der Trend zur Wissensgesellschaft und die Frage nach der breiten Partizipation der Wissensaneignung ist darum auch der logische Erklärungshintergrund für die Frage, welche Lebensperspektiven und Chancen die Menschen in der Wirtschaft von morgen haben werden.
Ein interessantes Indiz zeigt hier die aktuelle Arbeitsstruktur: Arbeiteten vor 200 Jahren noch 70% der Bevölkerung unseres Landes in der Landwirtschaft, um allein die Ernährung der Menschen zu sichern, so ist der Sektoranteil der Agrarproduktion in einem modernen Industrieland wie den USA oder Deutschland auf 2,5% gesunken. Die Mehrzahl der Menschen arbeitet heute bereits im Dienstleistungssektor, die Zahl der Arbeitnehmer in der klassischen Industrieproduktion ist bereits signifikant im Sinken begriffen.
Wir sind in der Tat – wie uns die ökonomische Theorie immer wieder deutlich macht – heute an einem dramatischen Umschwungspunkt unserer modernen Gesellschaft angekommen. War die Gesellschaft der vergangenen Jahrhunderte zunächst eine Agrargesellschaft mit bäuerlichem Zuschnitt, die dann im 18. Jahrhundert mit dem Beginn der Industrialisierung Europas in eine klassische Industriegesellschaft überging, so müssen wir heute realisieren, dass wir weltweit dabei sind, eine moderne Wissens- Kommunikations- und Bildungsgesellschaft zu werden. Die Koordinaten des gesellschaftlichen Lebens haben sich von Grund auf geändert. Lagen früher die Produktionsfaktoren der Agrar- und Industriegesellschaft noch unter der Erde, so sind sie heute in den Köpfen der Menschen!

4. Generationenübergreifende soziale Sicherheit

Die Realisierung generationenübergreifender sozialer Sicherheit ist angesichts des demografischen Wandels der Gesellschaft von unübersehbarer Priorität. „Durch Geburtenrückgang und höhere Lebenserwartung kehrt sich die Bevölkerungspyramide um. Immer mehr ältere Menschen müssen über die Sozialbeiträge von immer weniger jungen Menschen finanziert werden. Die derzeitige Struktur der sozialen Sicherung privilegiert tendenziell „die Alten“ gegenüber „den Jungen“ und vor allem die Kinderlosen gegenüber denen, die Kinder großziehen. Diese Entwicklung droht die heute arbeitende und Beiträge zahlende Generation zu Hauptverlierern mangelnder Reformpolitik zu machen. Während sie heute hohe Rentenbeiträge zahlt, wird sie selbst bei Eintritt in den Ruhestand nur noch mit einer sehr viel geringeren Altersversorgung rechnen können.“ – so formuliert es das neue Impulspapier der Deutschen Bischofskonferenz „Das Soziale neu denken.“

Das Ziel und Fazit des Impulstextes der Bischöfe lautet: Wir müssen die Gerechtigkeitsfragen unserer Gesellschaft „neu denken“ um soziale Sicherheit zukunftssicher zu machen! Es geht im Kern um die Sicherung der Zukunft und Überlebensfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme und des Sozialstaatsprinzips in unserem Land, gerade angesichts der sich zuspitzenden Schieflagen aufgrund der Schuldenkrise, der strukturellen ökonomischen und sozialen Entwicklung und der demografischen Wende. Denn „eine Gesellschaft, die ihre sozialen Sicherungssysteme nicht neuen Herausforderungen anpasst, gefährdet ihren inneren Zusammenhalt; eine Gesellschaft, die auf Dauer die Spaltung von Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen hinnimmt, kündigt Solidarität auf; eine Gesellschaft, die nicht mehr auf die nächste Generation hin lebt, hat ihre Zukunft und Zukunftsfähigkeit schon verspielt“ heißt es unzweideutig in der Einleitung des Wortes der Bischöfe.
Dieser Zusammenhang wird vom gemeinsamen Wort der Kirchen noch einmal offen bestätigt: “Die Qualität der sozialen Sicherung und das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft bedingen einander.” Das Element der sozialen Sicherung sollte deswegen keineswegs nur, wie das häufig in populistischer neoliberaler Absicht geschieht, als Kostenfaktor kritisiert, sondern umgekehrt in seiner positiven Wirkung für soziale Sicherheit und sozialen Frieden, und auch als strukturelle Voraussetzung hoher Arbeitsproduktivität realisiert werden. Freiheit und Eigenverantwortung einerseits und eine aktivierende Sozialpolitik andererseits sind die entscheidende Zielrichtung.

III. Politik im Reformstau?

Zum Schluss ein kritisches Wort zur Selbstbesinnung an die Politik im Reformstau! Neben den objektiven strukturellen Problemen sind es im Grunde mentale Barrieren, die dringend notwendige, langfristig orientierte Reformen verhindern:
- die politische Dominanz von Partikularinteressen, organisiert in starken Interessensverbänden und damit der „Mangel an Institutionen, die den Blick auf das Ganze und auf eine nachhaltige, zukunftsorientierte Politik richten“;
- die häufigen Verengung der Sozialpolitik auf rein passive Umverteilungspolitik statt einer Perspektive aktiver „Beteiligungs-Gerechtigkeit“ und damit die Unmöglichkeit, die Leistung und Bedeutung von Familie, und Bildung für das gesamt des sozialen und volkswirtschaftlichen Ganzen angemessen zu definieren;
- eine strukturelle Unfähigkeit der Politik zur Lösung von Langfristfragen durch die klassische Falle des Denkens in Legislaturperioden, die politisches Handeln auf taktische Vier-Jahres-Interessen begrenzt, und so die Lösung langfristiger Strukturprobleme schon im Ansatz erschwert, wenn nicht unmöglich macht.

Zum Schluss ein bizarrer sozialer Denkimpuls:
Das „Unwort des Jahres“

Seit dem Jahr 1991 veröffentlicht die Gesellschaft für die Deutsche Sprache das „Unwort des Jahres“. Dazu wählt die Jury sprachliche Missgriffe, „die sachlich grob unangemessen sind und möglicherweise sogar die Menschenwürde verletzen“.

Aus der Reihe der Unwörter greife ich in freier Auswahl folgende heraus:
2005: Entlassungsproduktivität, 2004: Humankapital, 2002: Ich-AG.
In einer zweiten Reihe nenne ich aus dem Bestand früherer Unwörter des Jahres folgende: 1996: Rentnerschwemme, und die zynische Lösung dieses Problems: 1998: Sozialverträgliches Frühableben.
Nur um die semantische Spitzenleistung in der Deutschen Sprache auf den Punkt zu bringen: das bizarre Unwort des 20. Jahrhunderts lautet: Menschenmaterial.

Wie immer man zur Auswahl der Unwörter des Jahres durch die Gesellschaft der Deutschen Sprache stehen bzw. deren Erklärung und Begründung einschätzen mag, sie geben auf jeden Fall ein signifikantes Indiz der sozialen Atmosphäre und „gefühlten“ Befindlichkeit unseres Landes: In der genannten ersten Reihe schwingen all die Unsicherheiten und Probleme mit, die mit der Frage nach der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit in unserem Lande zu tun haben, in der zweiten Reihe spiegelt sich die Problematik der demographischen Wende und damit die Sorge um die Zukunft und Sicherheit der Sozialen Sicherungssysteme gegen die Grundrisiken des Lebens.