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Wichtiges
Einige Erinnerungen an den Ursprung der Idee

Das ethische Fundament der sozialen Marktwirtschaft

08.02.2010

„Alle Moral ruht auf der Ökonomie!“ behauptet soeben der Ingolstädter Professor für Unternehmensethik, Karl Homann in der Augsburger Algemeinen[1]. Und er geht in seiner Hochschätzung des freien Spiels der Wettbewerbskräfte sogar noch weiter: „Markt und Wettbewerb haben eine sittliche Qualität, weil sie für breite Bevölkerungsschichten einen Reichtum geschaffen haben, der in der Weltgeschichte beispiellos ist.“

Ganz konträr dazu äußert sich – zufällig am gleichen Tag – ein marktwirtschaftlicher Wellenreiter und Praktiker ganz besonderen Karats. „Die Märkte sind nicht perfekt!“ sagt der Schrecken der weltweiten Finanz-märkte, der Börsenspekulant und „Philanthrop“ – wie er sich selber nennt – George Soros. „Denn erstens sind sie unstabil und zweitens werfen sie in allen Fällen die Frage der sozialen Gerechtigkeit auf!“[2] Seine Kritik allzu naiven Vertrauens in die Allmacht und Selbstheilungskraft des Marktes, als ob die „Konkurrenz der Egoismen“ – wie Adam Smith es bereits in sei-nem berühmten Werk über den „Reichtum der Nationen“ formulierte – quasi von sich aus, „lead by an invisible hand“ zum größten Nutzen der Gesamtgemeinschaft führte, nimmt geradezu prophetisch-warnende Züge an: „Dem Markt wird erlaubt, in Bereiche einzugreifen, wo er nicht hingehört. Zum Beispiel wurde Beruf ein Geschäft, was er in seinem Wesen nicht ist. Der Markt kann nicht alles!“[3]

Solche gegensätzlichen Interpretationen legen es nahe, sich wieder einmal die Idee und das ethische Fundament des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu vergegenwärtigen.

1. Grundlagen der Idee der sozialen Marktwirtschaft?

Nach den Worten eines ihrer bedeutendsten Gründerväter, Alfred Müller-Armacks geht es bei der Konzeption der "sozialen Marktwirtschaft" um ein Programm, das beabsichtigt, "das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden."[4] Damit wird – wie man in seinem berühmten Buch zur Genealogie der sozialen Marktwirtschaft, Freiburg 1974 nachlesen kann – zugleich eine ökonomische und eine gesellschaftliche Dimension angesprochen. Wirtschaftliches Handeln im Rah-men des Systems der sozialen Marktwirtschaft soll die Grundlage für eine "neuartige Synthese von Sicherheit und Freiheit"[5] der Menschen eines Landes bilden. Nach allen geschichtlichen Erfahrungen mit der sozialen Marktwirtschaft ist mit diesem deutschen Nachkriegsmodell eine einzigartige und erfolgreiche Wirtschaftsordnungspolitik begründet, die sich in doppelter Hinsicht sowohl dem sozialen Anspruch stellt, wie er auch von der kirchlichen Sozialverkündigung im Namen der Würde der Person und des Gemeinwohls seit jeher erhoben wird, als auch der Forderung ökonomischer Effizienz gerecht wird, wie sie vom Rationalprinzip geboten ist.

Mit dem Modell einer „sozial gebunden Marktwirtschaft“ wird der eindimensionale Rahmen reiner Marktwirtschaft mit theoretisch freier Konkurrenz der Egoismen gesprengt und der Blick auf ein solidarisches, gesamtmenschliches Geschehen hin geöffnet, das – wie es Wilhelm Röpke klassisch formulierte – "jenseits von Angebot und Nachfrage" liegt. Persönli-che Freiheit, soziale Sicherheit und sozialer Friede werden in diesem Kon-text zu wesentlichen Zielen der Wirtschaftspolitik. Darüber hinaus liegt der Theorie der sozialen Marktwirtschaft zweifellos ein Menschenbild und ei-ne Gesellschaftsauffassung zugrunde, die weit vom hypothetischen Freiheitsbegriff des reinen Wettbewerbs entfernt ist und stattdessen ein solidarisches ordnungspolitisches Konzept entwirft. Auf klassische Weise bringt Oswald von Nell-Breuning diese ethisch motivierte Anforderung an die soziale Marktwirtschaft auf den Punkt. In seinem bekannten Artikel "Soziale Marktwirtschaft" im Wörterbuch der Politik, das bereits 1949 in erster Auflage in Freiburg gedruckt wurde, formuliert er: "Soll die Marktwirtschaft wirklich mehr sein als ein bloßer Kampf ums Dasein, soll sie einer echten wirtschaftlichen Wettbewerbsordnung unterstellt werden, so führt dies mit Notwendigkeit über die (alt-) liberale Auffassung von Wirtschaft überhaupt und von Marktwirtschaft hinaus" zum Konzept der "gesellschaftlich gebundenen oder sozialen Marktwirtschaft.“ Wesentliches Element der marktwirtschaftlichen Ordnung ist eine Wettbewerbsordnung, die einerseits "die schwierigste ihr gestellte Aufgabe meistert, die wirtschaftli-che Macht in einen geordneten Wettbewerb einzubauen," und der es andererseits gelingt, "den Wettbewerb unter Wirtschafts- und Marktbeteiligten, die mit ungleichen Startbedingungen in den Wettbewerb eintreten, so zu ordnen, dass er für alle Beteiligten sinnvoll und aussichtsreich ist."[6]

2. Sinn und Ziel wirtschaftlichen Handelns
Wer wirtschaftet, zielt nach einem Ergebnis. Nicht nur für Ökonomen stellt sich darum die generelle Frage: Was ist das treibende Ziel ökonomischen Handelns? Auf den ersten Blick kommt einem hier die klassische Definition von Lionel Robbins in den Sinn, der feststellt: Wirtschaft ist "rationaler Umgang mit knappen Ressourcen zur Befriedigung von Bedürfnissen."[7] Genügt diese rein formale Definition zu einem Verständnis von Sinn und Ziel des Wettbewerbs in der sozialen Marktwirtschaft?

Der 1987 verstorbene Kölner Kardinal und Wirtschaftsprofessor Joseph Höffner fragt zurecht aus einer philosophischen Perspektive nach dem der Sinn des Wirtschaftens. Seine Antwort: "Der Sinn der Wirtschaft liegt weder – rein formalistisch – im bloßen Handeln nach dem ökonomischen Rationalprinzip, noch in der Technokratie, noch in der bloßen Rentabilität, noch im größtmöglichen materiellen 'Glück' einer größtmöglichen Menschenzahl. Auch wäre es irrig, die Wirtschaft als Befriedigung von Nachfrage durch Bereitstellung eines entsprechenden Angebots zu definieren; dann entspräche nämlich der Bau von KZ-Marteranstalten, weil eine ent-sprechende Nachfrage von Seiten eines Menschenschinders vorliegt, dem Sachziel der Wirtschaft."[8] Wenn es um das Ziel der Wirtschaft geht, dann sind ohne Frage all jene materiellen Voraussetzungen gemeint, ohne die menschliches Leben sich nicht entfalten und verwirklichen kann. Doch steht – wie das Exempel des von Höffner angeführten Menschenschinders zeigt – die Realisierung materieller Voraussetzungen menschlicher Entfal-tungsmöglichkeiten immer in Korrespondenz mit der wesentlichen ethischen Frage, ob und in welcher Weise ökonomisches Handeln der Würde der menschlichen Person gerecht zu werden vermag. "Ziel ist nicht die unaufhörlich wachsende Güterversorgung, sondern der Dienst an den ge-samtmenschlichen, vor allem auch an den sozialen Werten"[9] betont Höffner. Jenseits der Funktionalität und Logik der reinen Marktgesetze steht für ihn das Ziel der Wirtschaft in einem evidenten Zusammenhang mit Forderungen der Ethik, der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenwürde. "Das Sachziel der Wirtschaft besteht vielmehr" – und das ist ohne Zweifel eine Quintessenz sozialethischer Argumentation überhaupt – "in der dauernden und gesicherten Schaffung jener materiellen Voraussetzungen, die dem einzelnen und den Sozialgebilden die menschenwürdige Entfaltung ermöglichen."[10]

Es geht also bei allem wirtschaftlichen Handeln grundsätzlich um den Menschen, um seine Entfaltungsmöglichkeiten, um seine Zukunft. Darum müssen konsequent die Dimensionen von Ethik und Verantwortung wesentliche integrale Kategorien einer gerechten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sein, die diesen Namen wirklich verdient, ist doch, wie es das Zweite Vatikanische Konzil in "Gaudium et spes", der Pastoralkonsti-tution über die Kirche in der Welt von heute letztendlich begründet, "der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft."[11]

3. Das ethische Fundament der sozialen Wirtschaft?

Für das Konzept der sozialen Marktwirtschaft, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde, sind zwei Grundwerte die entscheidenden Kriterien: Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Sie sind Ausdruck dafür, dass Wirtschaft und Gesellschaft nicht isoliert gesehen werden dürfen. Wirt-schaft ist nicht nur ein Gütergeschehen, sondern ein gesellschaftlicher Lebensprozess. Der Wettbewerb ist ein hilfreiches Instrument für die bestmögliche Versorgung der Menschen mit Gütern und Diensten, aber er ist nicht das Ordnungsprinzip der Wirtschaft schlechthin. Das Sinnziel allen Wirtschaftens ist und bleibt der Mensch, seine Würde und seine personalen Entfaltungsmöglichkeiten.

Auf die weltweit gewachsene Dimension des Problems und zugleich auf die aus der ethischen Verantwortung vor der menschlichen Würde resultierende gewaltige Aufgabe, der Wissenschaft und Praxis heute konfrontiert sind, weist Oswald von Nell-Breuning, der berühmte Nestor der Katholi-schen Soziallehre in aller Deutlichkeit hin. Ich zitiere seine zukunftsweisende Mahnung, die er bereits im Jahr 1949 in seinem berühmten "Wörterbuch der Politik" im Artikel "Wirtschaft" formulierte:

"Und ebenso, wie die fortschreitende Erkenntnis der Naturgesetze die sittliche Verantwortung des Menschen in seinem Umgang mit der Natur nicht mindert, sondern ins Ungeheure gesteigert hat (Atombombe!), so kann auch die fortschreitende Erkenntnis der Wirtschaftsgesetze die sittliche Verantwortung des in der Welt tätigen Menschen nicht mindern oder gar aufheben, sondern nur in immer höherem Grade steigern."[12]

1 Augsburger Allgemeine, Nr. 33, 10. Februar 1999.
2 Sendung „Sternstunden der Philosophie“ in 3Sat 10.02.1999.
3 Sendung „Sternstunden der Philosophie“ in 3Sat 10.02.1999.

4 Alfred Müller-Armack, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Freiburg 1966, 243.
5 Alfred Müller-Armack, Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, Freiburg 1974, 46.

6 Oswald von Nell-Breuning, Art. Marktwirtschaft, 4. Die gesellschaftlich gebundene oder soziale Marktwirtschaft, in: Wörterbuch der Politik, IV. Zur Wirtschafts-ordnung, Freiburg 1949, 36.
7 Lionel Robbins, An Essay on the Nature and Significance of Economic Science, London-New York 1932, 21935.

8 Kardinal Josef Höffner: Christliche Gesellschaftslehre, 7. Aufl., Kevelaer 1978, 159-160.
9 Höffner, 160-161:
10 Höffner, 160.
11 Zweites Vatikanisches Konzil: Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et spes" 63.

12 Nell-Breuning, Oswald v.: Art. Wirtschaft, in: Wörterbuch der Politik IV, Frei-burg 1949, 16.