Beten in gebetsloser Zeit
„Es gibt Momente im Leben, in denen das Gebet wie selbstverständlich erscheint. Es geht von der Hand, wie man so schön sagt. Es geht wie von selbst und gehört einfach zum Alltag dazu. Es gibt aber immer wieder auch Phasen im Leben, in denen das Beten nicht nur schwerfällt, sondern oft sogar unmöglich erscheint. Es geht einfach nicht - so sehr ich es auch wollte. Es geht nicht, ich kann nicht. Mir fehlen die Worte, mir fehlt das Vertrauen in Gott.“
Mit diesen Zeilen leitet Pater Thomas Dienberg, Kapuziner und Professor für Theologie der Spiritualität in Münster, einen Artikel über das Leben als Gebet ein, der Anfang dieses Jahres im „Anzeiger für die Seelsorge“ erschienen und mit dem Titel überschrieben ist: „Beten in gebetsloser Zeit“[1]. Geradezu als Kontrapunkt nehmen sich da die Fragen aus, die ich Euch heute im Gottesdienst stellen werde:
„Seid ihr bereit, zusammen mit dem Bischof im Gebet, das uns aufgetragen ist, Gottes Erbarmen für die euch anvertraute Gemeinde zu erflehen?“ Und weiter: „Christus, unser Hoherpriester, hat sich um unseretwillen dem Vater dargebracht. Seid ihr bereit, euch Christus, dem Herrn, von Tag zu Tag enger zu verbinden und so zum Heil der Menschen für Gott zu leben?“
Die Gedanken, die ich Euch, liebe Brüder, anbiete, sollen uns allen helfen, unsere Bereitschaftserklärung zum Gebet bewusst und ehrlich zu geben und vielleicht so für unser Gebetsleben neue Impulse zu setzen. Als Bischof bleibe ich hier nicht außen vor, sondern bin mittendrin: als Mitglied des Presbyteriums will ich gemeinsam mit Euch über das Gebet reflektieren.
Blenden wir zunächst zurück ins Alte Testament! Hören wir hinein in die Lesung aus dem Buch Exodus. Eine fremde Geschichte – weit weg, oder doch nicht?! Was fangen wir damit an? Der Kampf in der Wüste, Mose ganz oben auf dem Berg, die Hände hoch zum Himmel gestreckt, bis er einfach nicht mehr kann: Aaron und Hur müssen ihn stützen, ihm unter die Arme greifen.
Walter Habdank (1930-2001) hat diese Szene ins Bild gebracht: eine seltsam anmutende Darstellung mit den gestützten Armen, die wie entlaubte Äste in den Himmel ragen. Schauen wir uns das Bild an! Kein strahlendes Primizbild, kein verklärtes Jubiläumsporträt. Hände hoch – das klingt eher so, als sei alles verloren. Was ist geschehen?
Das Volk Gottes ist unterwegs: ein Zug durch die Wüste. Tagaus, tagein – jahraus, jahrein Wüste. Wen wundert es, dass so eine Dauerwüste in der Volksseele Spuren hinterlässt: Das Volk ist unzufrieden, es meutert: „Mose, warum hast du uns in die Wüste geführt? Warum sind wir nicht in Ägypten geblieben? Da hatten wir es besser: volle Fleischtöpfe, genug zu essen. Hier gehen wir vor die Hunde.“ Anfechtung von innen und Bedrohung von außen: Kampf gegen Menschen, die Israel abbringen wollen vom Weg ins Gelobte Land. Streit in Gottes Namen!
Mitten in diesen inneren und äußeren Kämpfen steht Mose. Er steht in der Mitte. Er hält seine Hände hoch – und auch die Hoffnung. Mose wächst über sich hinaus. Mose steht da, stellvertretend zwischen Gott und den Menschen. Er kämpft nicht beim Volk unten in der Ebene, er ist mit Aaron und Hur oben auf dem Berg. Er steht vor Gott für das Volk, und er steht für Gott vor dem Volk. Er bleibt stehen, bis er nicht mehr stehen kann und seine Begleiter einen Steinbrocken holen müssen, damit er sich darauf setzen kann. Es geht einfach nicht mehr.
Mose, der Mittler zwischen Gott und dem Volk, ist ganz Mensch: nicht einer, der „den ganzen Laden schmeißt“ und nie müde wird, nicht der große Macher. Mose lässt den Kopf hängen und die Hände sinken. Die Spannkraft der Hoffnung erlahmt – keine Spur mehr davon, als „Pilger der Hoffnung“[2] unterwegs zu sein. Mose ist am Ende, Burnout. Er lässt die eigene Ohnmacht zu – in aller Offenheit und Öffentlichkeit. Das Volk merkt es sofort unten in der Ebene, dass er die Hände fallen lässt – und auch das Herz. Das bleibt nicht verborgen. Alle bekommen es mit. Mose hält seine Schwäche nicht geheim in scheinbarem Heroismus; er gibt sich als der, der er ist: Stellvertreter von Gottes Gnaden und im vollen Bewusstsein seiner Gebrechlichkeit. Mose lässt sich unter die Arme greifen, er lässt sich unterstützen. Aaron und Hur stehen hinter ihm.
Mose gehört also nicht zu den Amtsträgern, die meinen, von ihnen allein hinge das Heil ab, sie dürften sich nicht helfen lassen: die hilflosen Helfer, die alles allein machen wollen. Man findet sie nicht selten unter uns Priestern, unter den Diakonen, auch unter Bischöfen. Mose gehört nicht zu ihnen. Er lässt sich stützen, er lässt sich helfen, er gibt seine Bedürftigkeit zu. Welchen Mut das kostet, welchen Glauben an Gott und die Menschen, das weiß jeder von uns nur allzu gut. Die Würde und Grenze des Amtsträgers ist es gerade, fürsprechend sich helfen und tragen zu lassen. Gerade so können und dürfen wir Helfer und geistliche Leiter und Begleiter sein. Nehmen wir uns Mose zum Vorbild und Beispiel!
Vergessen wir dieses Bild des Mose gerade dann nicht, wenn wir liturgisch in der Orantehaltung vor Gott treten und die Hände erheben. Haben wir wirklich die Kraft, die Arme emporzustrecken und die Hände zu erheben wie Mose? Haben wir auch den Mut, unsere Hände so tief sinken zu lassen, dass andere merken: Wir schaffen’s nicht mehr und sind bereit, uns helfen zu lassen? Wir dürfen die Hände ehrlich sinken lassen, damit andere eine Stütze darunter stellen oder sich selber zur Stütze machen. Sonst kann es schnell geschehen, dass wir uns überheben. Dann entsprechen wir nicht dem Beispiel des Mose. Papst Franziskus ist für mich in dieser Hinsicht ein großes Vorbild: Als Nachfolger Petri sieht er sich nicht als Alleskönner. Im Gegenteil: Er bittet oft um unser Gebet. Am Ende eines Briefes schreibt er gern: „Ich bete für Sie – beten Sie bitte auch für mich!“ Und am Ende des Mittagsgebetes am Sonntag ruft er den Gläubigen zu: „Vergesst nicht, für mich zu beten!“ Das ist mehr als eine Floskel, es ist eine ehrliche Bitte.
Damit schließt sich der Kreis und wir sind wieder am Anfang unserer Überlegungen, beim Artikel über das „Beten in gebetsloser Zeit“. Auch geistliche Menschen wissen um Phasen der spirituellen Trockenheit. Wir alle kennen auch Wüstenzeiten, in denen Oasen des Auftankens und der Erfrischung selten sind. Dann kann es sein, dass sich unser Beten von der Klage zur Anklage und zu einem verstummenden Gebet wandelt. Dann fehlen nicht nur die Worte, es fehlt auch der Glaube an die Kraft des Gebetes. Mein Beten spendet keinen Trost mehr. Vielleicht stellt sich sogar eine gebetslose Zeit ein. Ich verstumme, ich nehme das Stundenbuch oder die App nicht mehr zur Hand. Ich kann Gott nicht mehr loben und preisen – es geht einfach nicht mehr – und trotzdem muss ich äußerlich funktionieren.
Ich frage mich – und ich frage Euch: Ist eine solche Phase wirklich eine gebetslose Zeit? Oder ist nicht die Frage nach dem Warum, die Haltung des Ringens mit Gott, die Erfahrung der Gewöhnung und Abnützung immer noch eine betende, eine mit Gott hadernde – ohne Worte, aber in einer Verbindung mit Gott im Hadern, im Fragen und in der Anklage – und damit dennoch Gebet in einer gebetslos erscheinenden Zeit?
Der Alltag mit seinen beruflichen und privaten Ansprüchen ist für viele von uns so ausgefüllt und herausfordernd, dass da kaum noch Zeit bleibt zum Innehalten, geschweige denn zum andächtigen Gebet. Die Zeit findet sich schwer oder gar nicht, und am Abend ist man einfach zu müde dazu. Das sind Erfahrungen, die viele Menschen heute miteinander teilen. Gelebte Spiritualität zeichnet sich weder durch eine Leistungsfrömmigkeit noch durch eine Prinzipientreue um der Prinzipien willen aus. Lassen wir uns nicht mit einem Gebetspensum unter Druck setzen, indem wir hier und da noch eine Zeit „hineinquetschen“. Das Gebet ist Ausdruck einer Herzensbeziehung. Wenn wir mit Gott von Herz zu Herz sprechen, dann gilt auch für unser Gebetsleben: Weniger ist manchmal mehr. Nicht so sehr die Quantität unserer Gebete zählt, sondern die Qualität. Damit möchte ich das Breviergebet keineswegs relativieren. Es ist und bleibt wichtig. Wir haben es versprochen. Aber mehr als die Pflicht zählt die Beziehung.
Von Gestalten der Spiritualitätsgeschichte wird erzählt, dass sie selbst zum Gebet wurden, dass sich das explizit-ins-Wort-Bringen mehr und mehr zu einer Grundhaltung ausgeprägt hat – so beim hl. Franziskus oder auch in den Erzählungen des russischen Pilgers zum Herzensgebet. Der russische Pilger beschreibt diese Erfahrung mit eindrücklichen Worten. Er hatte sich so sehr an das Herzensgebet gewöhnt, dass er sich ununterbrochen darin übte. Es begleitete ihn den Tag über und ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Er selbst wurde so zum Gebet – auch im Schlaf. Mein persönliches Herzensgebet, das mich schon seit Kindertagen begleitet, ist ganz einfach. Es lautet: „Mit Gott fang an, mit Gott hör auf; das ist der beste Lebenslauf.“ Ich wünsche Euch, dass auch Ihr um ein solches Herzensgebet als basso continuo für das Leben wissen dürft – und dass Ihr es praktiziert.
Liebe Brüder,
Jesus war ein großer Beter. Im Hebräerbrief lesen wir über Jesu Gebetsleben: „Als er auf Erden lebte, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden. Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden und Gehorsam gelernt; zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden.“[3] Wie Mose, hält Christus nach seiner Auferstehung für immer die Arme hoch. Er hält unsere Hoffnung hoch. Er betet für uns und mit uns, wenn wir die Hände sinken lassen. In seinem Namen dürfen wir unser Weiheversprechen erneuern und mit neuer Kraft in die Zukunft gehen.
Unser Glaube ist keine Floskel, unsere Hoffnung keine Illusion. Ostern ist keine Utopie, sondern Wirklichkeit: Mit Jesus im Rücken dürfen wir dem Leben trauen.
[1] Beten in gebetsloser Zeit. Über das Leben als Gebet, in: Anzeiger für die Seelsorge. Zeitschrift für Pastoral und Gemeindepraxis, 134. Jg. (1/2025), S. 15-18, hier: S. 15.
[2] Vgl. das Motto des Heiligen Jahres 2025: Pilger der Hoffnung.
[3] Hebr 5,7-9.